ELISABETH HERING

DER HEINZELMÄNNCHEN WIEDERKEHR


Mit Illustrationen von Fidel Nebehosteny

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Wie war zu Köln es doch vordem

mit Heinzelmännchen so bequem!

Denn, war man faul: Man legte sich

hin auf die Bank und pflegte sich.

Da kamen bei Nacht,

ehe man’s gedacht,

die Männlein und schwärmten

und klappten und lärmten

und rupften und zupften

und hüpften und trabten

und putzten und schabten ...

und eh ein Faulpelz noch erwacht:

war all sein Tagewerk bereits gemacht!

Die Zimmerleute streckten sich

hin auf die Spän’ und reckten sich;

indessen kam die Geisterschar

und sah, was da zu zimmern war:

nahmen Meißel und Beil

und die Säg’ in Eil und

sägten und stachen

und hieben und brachen,

berappten und kappten,

visierten wie Falken

und setzten die Balken.

Eh sich’s der Zimmermann versah:

Klapp! Stand das ganze Haus schon fertig da.

Beim Bäckermeister war nicht Not:

Die Heinzelmännchen backten Brot.

Die faulen Burschen legten sich,

die Heinzelmännchen regten sich

und ächzten daher

mit den Säcken schwer

und kneteten tüchtig

und wogen es richtig

und hoben

und schoben

und fegten und backten

und klopften und hackten.

Die Burschen schnarchten noch im Chor:

da rückte schon das Brot, das neue, vor!

Beim Fleischer ging es just so zu:

Gesell und Bursche lag in Ruh.

Indessen kamen die Männlein her

und hackten das Schwein die Kreuz und Quer.

Das ging so geschwind

wie die Mühl’ im Wind!

Die klappten mit Beilen,

die schnitten an Speilen,

die spülten,

die wühlten

und mengten und mischten

und stopften und wischten.

Tat der Gesell die Augen auf:

wapp! Hing die Wurst da schon im Ausverkauf!

Beim Schenken war es so: es trank

der Küfer, bis er niedersank;

am hohlen Fasse schlief er ein.

Die Männlein sorgten um den Wein

und schwefelten fein

alle Fässer ein

und rollten und hoben

mit Winden und Kloben

und schwenkten

und senkten

und gossen und panschten

und mengten und manschten.

Und eh der Küfer noch erwacht:

war schon der Wein geschönt und fein gemacht!

Einst hatt’ ein Schneider große Pein:

Der Staatsrock sollte fertig sein!

Warf hin das Zeug und legte sich

hin auf das Ohr und pflegte sich.

Da hüpften sie frisch

in den Schneidertisch

und schnitten und rückten

und nähten und stickten

und fassten

und passten

und strichen und guckten

und zupften und ruckten ...

und eh mein Schneiderlein erwacht:

War Bürgermeisters Rock bereits gemacht!

Neugierig war des Schneiders Weib

und macht sich diesen Zeitvertreib:

Streut Erbsen hin die andre Nacht.

Die Heinzelmännchen kommen sacht;

eins fährt nun aus,

schlägt hin im Haus,

die gleiten von Stufen

und plumpen in Kufen,

die fallen

mit Schallen,

die lärmen und schreien

und vermaledeien!

Sie springt hinunter auf den Schall

mit Licht: husch husch husch husch! — verschwinden all!

O weh! Nun sind sie alle fort,

und keines ist mehr hier am Ort!

Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn:

Man muss nun alles selber tun!

Ein jeder muss fein

selbst fleißig sein

und kratzen und schaben

und rennen und traben

und schniegeln

und biegeln

und klopfen und hacken

und kochen und backen.

Ach, dass es noch wie damals wär'!

Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!

August Kopisch

WIE DIE HEINZELMÄNNCHEN WIEDERKAMEN

Jedermann weiß, wie die Heinzelmännchen vertrieben worden sind. Mir hat es meine Großmutter erzählt, und die hatte es von ihrer Großmutter gehört, also wird es gewiss wahr sein. Ja, ein Dichter hat es sogar in Verse gebracht, und ein Maler hat schöne Bilder dazu gezeichnet und mit bunten Farben ausgemalt, so dass ein Bilderbuch daraus geworden ist, und Kindern, die noch zu klein sind, um die Verse zu verstehen, denen zeigt man die Bilder und erklärt ihnen: Seht, so ist es gewesen! So haben die Heinzelmännchen den Zimmerleuten geholfen und so dem Bäcker und dem Fleischer, und hier ist das neugierige Schneidersweib, wie es die Erbsen streut! Seht ihr, wie die Männlein dort ausrutschen und hinpurzeln und wie die Arge mit dem Licht kommt, und wie sie da alle davonlaufen?

Wenn die Kinder noch ganz dumm und klein sind, schlagen sie mit ihren dicken Patschhändchen auf das Bild von dem Schneidersweib. Aber es half ja alles nichts. Die Heinzelmännchen kamen nicht wieder, und niemand wusste bisher, wo sie geblieben waren.

Wenn ich euch also heute erzähle, wie die Heinzelmännchen doch wiedergekommen sind, werdet ihr mir meine Geschichte am Ende gar nicht glauben. Aber sie ist wahr, obwohl ich sie nicht von meiner Großmutter gehört habe. Vor einiger Zeit noch dachte auch ich, dass die Heinzelmännchen auf Nimmerwiedersehen verschwunden seien. Aber kürzlich — es ist noch gar nicht lange her - ist mir etwas Wunderliches begegnet, und wenn ihr dieses Buch zu Ende gelesen habt, werdet ihr wissen, wie es mir möglich wurde, alle diese neuen Geschichten von den Heinzelmännchen aufzuschreiben.

Es ist nämlich damals so gewesen, dass die Heinzelmännchen mit all ihren Frauen und Kindern aus dem Menschenlande auswanderten. Sie überquerten siebenmal sieben Flüsse und stiegen über siebenmal sieben Berge, bis sie zu dem großen Gebirge kamen, das seine Spitzen so hoch in den Himmel streckt, dass sogar die Wolken, wenn sie von ihrer Regenlast müde geworden sind, sich darauf niederlassen, um auszuruhen. Ganz weiß sind diese Bergspitzen vom ewigen Schnee, der niemals schmilzt; und dort, wohin Eis und Schnee nicht mehr hinabreichen, wachsen doch noch lange keine Bäume. Nicht einmal Blumen blühen dort, nur nackte Steine und kahle Felsen ragen in den Himmel. Und dort an der Grenze zwischen dem ewigen Eis und den öden Geröllfeldern gruben sich die Heinzelmännchen in den Berg hinein. Von Menschen, das wussten sie, würden sie hier nicht gestört werden. Die konnten in der dünnen Luft und auf den unfruchtbaren Steinen nicht leben. Und wenn sich dennoch einmal ein Wanderer dort hinauf verstieg, um sich die Welt von oben zu besehen, musste er, noch ehe die Sonne sank, wieder hinuntersteigen bis zur Schutzhütte, die in der Tannenregion stand. Denn wie hätte er Schlaf finden können, in Eis und Schnee den Winden preisgegeben? Und wenn ein vorwitziges Heinzelbübchen einem solchen Wandersmann begegnete, konnte es eins-zwei-drei in einer Felsenritze verschwinden, ohne dass es der Mensch zu sehen bekam. Denn die Heinzelmännchen wollen sich nun einmal um keinen Preis der Welt von einem Menschen erblicken lassen.

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So waren dem kleinen Volk viele, viele Jahre in ungestörtem Frieden vergangen. Diejenigen, die bei dem Auszug aus Köln kleine Heinzelkinder gewesen waren, waren längst erwachsen, ja alt und älter geworden und hatten Kinder, Enkel und Urenkel bekommen, denen sie die traurige Geschichte weitererzählten, um sie davon abzuschrecken, jemals ins Menschenland zurückzukehren. Und niemals hatte eines von ihnen auch nur die geringste Lust verspürt, es mit der Bosheit der Menschen noch einmal aufzunehmen.

Nun wuchs aber ein kleines Heinzelbübchen heran, das war über alle Maßen klug, keck und vorwitzig. Wenn es mit seinen Geschwistern in der Sonne herumtollte, sprang es am weitesten, kletterte am höchsten und schlug die drolligsten Purzelbäume. Und wenn sie mit ihren Schlitten auf dem Schnee rodelten, suchte es sich die steilsten und glattesten Stellen aus. Wenn es aber Abend wurde und die Mutter die kleine Schar nach Hause rief, wurde es nicht müde, den Geschichten zuzuhören, die der Großvater erzählte. Tausenderlei hatte es zu fragen, bis schließlich der Alte ungeduldig wurde und sagte: »Kind, frag mich nicht tot!« Und wenn es dann von der Mutter zu Bett gebracht wurde, schlief es augenblicklich ein und hatte die buntesten Träume, und alle die Gestalten, von denen der Großvater erzählt hatte, gaukelten vor seinen geschlossenen Augen.

Eines Abends nun hatte der Großvater wieder, wie schon so oft, von den Menschen erzählt — von den Häusern, die sie sich bauten, um darin zu wohnen, und von den Dörfern und Städten, in denen ein solches Haus neben dem andern stand. Da unterbrach ihn plötzlich das Bübchen: »Großvater, sag, ist es schön, ein Haus zu bauen?« — »Wozu willst du ein Haus bauen?« fragte der Alte, »unsere Höhlen sind doch schöner als die prächtigsten Gebäude der Menschen! Bei uns sind die Wände mit Edelsteinen bekleidet und funkeln in allen Farben. Ihr Licht ist nicht so grell wie die Sonne, aber auch nicht so trübe wie die armseligen Lampen der Menschen. Es ist ein sanfter, wohltuender Schein, der unsere Augen nicht verdirbt und der Tag und Nacht nicht vergeht. Und so tief haben wir uns in den Berg eingegraben, dass es immer gleichmäßig warm ist. Wir müssen kein Feuer anzünden, dessen Rauch uns in die Augen beißt. Wozu brauchten wir Häuser?« — »Wir brauchen keine — aber es muss doch schön sein, welche zu bauen! Ein Beil in die Hand zu nehmen und die Balken zu behauen, dass die Späne fliegen! Und wenn ich einen Hobel habe! Großvater, da werde ich die Bretter hobeln, dass sie glatt werden wie geschliffener Marmor!« — »Ja, mein Kind, das weiß ich. Wir Heinzelmännchen können mit jedem Werkzeug umgehen und jede Arbeit besser verrichten als die Menschen, die sich erst jahrelang darin üben müssen.«

Seither ging der Heinzeibub jede Nacht im Traume mit allem möglichen Werkzeug um. Einmal schlug er mit einem großen Hammer auf einen Amboss und schmiedete Eisen, dass die Funken stoben, und so klein seine Hände waren und so schwer der Hammer, wurde er doch nicht müde davon. Ein andermal schnitt er mit einer Schere, die so groß war wie er selber, Stoff zu und nähte mit einer feinen Nadel die zierlichsten Stiche, dann wieder feilte er einen Schlüssel zurecht und sperrte ein Schloss auf. Und am Morgen, wenn er erwachte und seine Geschwister ihn zum Spielen riefen, hatte er keine Lust mitzutun. Er saß in einer Ecke und ließ den Kopf hängen.

»Bist du krank?« fragte seine Mutter. Aber er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht krank«, erwiderte er, »ich will dir sagen, Mutter, was mir fehlt. Ich habe Langeweile. Ich bin zu groß geworden zum Spielen.« — »Nun«, sagte die Mutter lächelnd, »dann kannst du ja arbeiten gehn! Du bist zwar noch sehr jung, aber irgendwie wird man dich schon beschäftigen, wenn nicht beim Legen der Erzadern oder beim Schmelzen der Metalle, so vielleicht beim Reinhalten der unterirdischen Wasser oder beim Zubereiten der Heilquellen.« — »Nein, Mutter, nein, das will ich nicht! Ich mag nicht in den Berg hinunter, wo ich die Sonne nicht sehen kann, wo es nicht hell ist und nicht dunkel, wo es nicht heiß ist und nicht kalt. Ich will ins Menschenland zurück, wo Sonne und Regen, Hitze und Kälte, Tag und Nacht wechseln und jeder Tag neu und anders ist. Dort will ich arbeiten!«

Erschrocken sah ihn die Mutter an. Sie hatte schon viele Kinder großgezogen, aber keines hatte je so merkwürdig gesprochen. »So etwas darfst du nicht einmal denken!« sagte sie barsch. »Weißt du nicht, dass unsere Ältesten ein Gesetz erlassen haben, das jedem von uns streng verbietet, zu den Menschen zurückzukehren? Und sie hatten allen Grund dazu. Hat dir der Großvater nicht erzählt, wie boshaft die Menschen sind? Wie sie uns mit Undank gelohnt haben? Sie würden dir auflauern und dich verfolgen. Und wenn sie dich erspähen — weißt du nicht, dass sich ihre Blicke in dich einbohren wie Messerstiche?« — »Aber Mutter, ich habe doch mein Tarnkäppchen! Da bin ich unsichtbar!« — »Du dummer Junge, was du tust, wenn du selber unsichtbar bist, das bleibt auch unsichtbar, damit kannst du nichts ausrichten!«

Sehr nachdenklich wurde der kleine Heinzeljunge, als seine Mutter so streng mit ihm sprach. Aber nach einer Weile sagte er: »Ich will doch zu den Menschen! Ich fürchte mich vor ihren Blicken nicht, wenn sie auch wehtun!« —»Oh, bist du hartnäckig«, jammerte die Heinzelin und rief ihren Vater zu Hilfe, damit er dem Jungen den Kopf zurechtsetze. »Da haben wir nun die Bescherung«, sagte sie. »Das kommt von den Geschichten, mit denen du den Kindern die Köpfe verdrehst!«

Der alte Heinzelmann zupfte nachdenklich an seinem langen, weißen Bart und sah dem Bübchen, das trotzig vor ihm stand, ernst in die Augen. »Mein Kind«, sagte er, »denkst du, deine Ahnen waren Hasenfüße, die flüchteten, weil sie sich vor den Blicken der Menschenaugen fürchteten? Oder sie wären so ungerecht gewesen, wegen einer boshaften Frau das ganze Geschlecht zu bestrafen?

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Keins von beidem! Aber wir haben erkannt, dass unsere Hilfe den Menschen nichts nütze war! Wir plagten uns jede Nacht, und die Dinge, die wir anfertigten, waren gut und brauchbar und nützlich; aber die Menschen wurden durch unsere Hilfe nicht besser, sondern schlechter. Die Bäcker wurden faul und schliefen in den Tag hinein und öffneten ihren Laden erst um zehn Uhr. Der Kellermeister war immer betrunken und prügelte Frau und Kinder. Die Zimmerleute und Maurer gar spielten im Wirtshaus Karten und betrogen sich gegenseitig. Dann kam es zu Zank und Schlägereien, und wie oft geschah es, dass einer dem andern mit dem Messer zu Leibe ging! All das mussten wir mit ansehen, und das betrübte uns sehr. Und als dann das Schneidersweib die Erbsen streute, da wurde nur das Maß voll. Die Menschen sind ein verfluchtes Geschlecht und verkehren jede Wohltat in ihr Gegenteil. Und darum ist es verboten, zu ihnen zu gehen.«

An diesem Abend suchte das Heinzelbübchen ganz traurig sein Bett auf. Dass es so schlimm stünde mit den Menschen, das hatte es sich nicht gedacht! Da wäre es doch wohl das Klügste, man hörte auf den Rat des Alten und bliebe brav zu Hause.

Die Mutter freute sich sehr, dass ihr Jüngster weder am nächsten noch am übernächsten Tage auf seine Absicht zu sprechen kam. Aber eines Abends stand er vor ihr mit blitzenden Augen: »Mutter!« sagte er, »ich gehe doch zu den Menschen! Ich muss ihnen helfen, aber so, dass sie besser werden und nicht schlechter!« — »Ja, willst du denn flüchten?« fragte sie, »dann kannst du nie wieder zu uns zurückkehren.« — »Hab keine Sorge, Mutter, ich flüchte nicht. Ich will den Rat der Ältesten um Erlaubnis bitten, und du wirst sehen, wenn sie mich erst anhören, lassen sie mich auch ziehen!« — »Nun, auf den Mund gefallen bist du nicht!« antwortete die Mutter, und sie war ein klein bisschen stolz auf ihren unternehmungslustigen Sohn.

Der Rat des Heinzelvolkes bestand aus den zwölf Weisesten, und dem kleinen Heinzelbuben wurde doch ein wenig heiß in der Brust, als er die ehrwürdigen weißen Bärte und die ernsten Stirnen sah. Er fasste sich aber ein Herz und gab kluge Antworten, und als sie ihn endlich fragten, wie er den Menschen Hilfe leisten wolle, durch die sie nicht schlechter, sondern besser würden, antwortete er: »Ihr wisst, liebe Väter, dass wir Heinzelmännchen alle ein Käppchen haben, das uns unsichtbar macht. Und ihr wisst auch, dass dieses Käppchen die Kraft besitzt, uns in jedes Ding zu verwandeln, in das wir verwandelt sein wollen, wenn man es nämlich umstülpt und verkehrt aufsetzt.« — »Das Ding darf nur nicht größer sein als wir selbst sind«, fiel ihm einer der Ratsherren ins Wort, aber er ließ sich nicht beirren. »Ich weiß, ich weiß — aber das macht nichts! Ich habe mir nun gedacht, dass ich erst unsichtbar zu den Menschen gehen und mir jemanden aussuchen will, der meine Hilfe braucht. Und dann ...« — »Na, was dann?« — »Dann verwandle ich mich eben in ein Ding, das er braucht. Dem Tischler helfe ich als Säge oder als Hobel, dem Schneider als Schere — wie es sich gerade ergibt. Und so kann ich dem Menschen zur Hand gehen, ohne dass er merkt, dass ich da bin. Er muss ja selber mit arbeiten und lernt so, seine Arbeit immer schneller und besser auszuführen.«

Die Räte sahen sich an. Donnerwetter! Was der kleine Kerl für Einfälle hatte! Ob man sie wohl gutheißen konnte? Die Heinzel sahen auf ihren Aldermann, der an der Spitze des Heinzelvolkes stand und das gewichtigste Wort zu sprechen hatte. Der machte ein nachdenkliches Gesicht — aber schließlich zuckte es um seinen Mund, das nahmen sie als Zustimmung, und das war es auch. »Kein schlechter Einfall«, meinte der Aldermann. »Wie gerne möchten wir alle wieder bei den Menschen schaffen, wenn es möglich wäre, ihnen zu helfen, ohne sie zu verwöhnen und zu verderben. Geh also aus, mein Sohn, besuche die Menschen und komm nach Jahr und Tag zu uns zurück! Dann werden wir sehen, ob wir unserm Volk wieder erlauben können, ins Menschenland zurückzukehren und die fleißigen Hände wieder zu regen.«

So nahm der junge Heinzel denn von den Seinen Abschied. Seine Geschwister und Kameraden begleiteten ihn bis zur Grenze. Lange noch standen sie und winkten ihm nach, bis seine kleine Gestalt hinter den hohen Felsen verschwunden war.

DIE SCHAFSCHERE

Der Himmel war blau, und die Wiesen waren noch nicht gemäht. Sie standen voll der saftigsten Gräser und würzigsten Kräuter, und die Blumen dazwischen blühten, dass es eine Lust war, sie anzusehen. Das fand unser Heinzel auch. Er hatte sich ins Gras gelegt und lauschte, wie der Sommerwind mit den Glocken einer großen, blauen Campanula spielte. »Das ist doch etwas anderes als Eis und Schnee und Felsgeröll«, dachte er. »Oh, wären meine Geschwister da, das gäbe einen Spaß!« Fast schien es, als sei er nur so zu seinem Vergnügen in die Welt hinausspaziert.

Aber das schien nur so. In Wirklichkeit hatte er, je näher er dem Menschenlande kam, desto mehr darüber nachgegrübelt, wie er es am besten anstellen solle, all das auszuführen, was er sich vorgenommen hatte. Es würde wohl nicht so leicht sein, an die Menschen heranzukommen und sie kennenzulernen. Und das musste er doch, wenn er ihnen helfen wollte. Die Geschichten, die sein Großvater ihm erzählt hatte, waren ja schon uralt. Es waren Hunderte von Jahren vergangen, seit die Heinzelmännchen mit den Menschen gebrochen hatten. Vielleicht hatte sich unterdessen in ihrem Lande alles geändert?

Müde von dem langen Weg hatte sich der Heinzel ins Gras gelegt, und die Sonne hatte ihm auf den Leib geschienen, dass ihm ganz warm und schläfrig wurde. Wahrscheinlich wären ihm die Augen zugefallen, wenn er nicht plötzlich einen Einfall gehabt hätte, der ihn hellwach werden ließ. Er sprang in die Höhe und rüttelte vor Freude so heftig an dem Stängel der Glockenblume, neben der er ins Gras gesunken war, dass alle ihre neun Glocken Sturm läuteten. Ja, so würde es gehen — so müsste es gehn!

Dieses aber war sein Einfall: Er wollte die kleinen Tiere um Rat und Hilfe bitten, die doch sicherlich schon irgendwie mit den Menschen in Berührung gekommen waren. Er schob sein Mützchen vom Kopf, so dass er sichtbar wurde, und stellte sich breitbeinig neben die Glockenblume hin. Plötzlich fühlte er, dass er beobachtet wurde. Es waren lebhafte, stechende Augen, die ihn prüfend musterten. Der Leib des kleinen Wesens, dem die Augen gehörten, war so braun wie der Tannenstamm, an dem es lehnte. Ganz reglos stand es und starrte den Heinzel an, der ein paar Schritte auf das Tierchen zuging. »Wer bist du?« fragte er, »und was findest du an mir, dass du kein Auge von mir lässt?« — »Ich bin das Wiesel. Und ich denke darüber nach, wie dein Blut wohl schmeckt.« — »Mein Blut?« lachte der Heinzel, »ich habe doch keins! Sage mir lieber, ob du die Menschen kennst und was du von ihnen weißt!« — »Die Menschen? ja, die kenne ich gut, ich bin ihnen schon dreimal begegnet. Aber ich halte nichts von ihnen. Jedes Mal, wenn sie mich sehen, schwenken sie einen Stock in der Luft herum, aus dem Blitz und Donner fährt. Ich bin zwar immer mit heiler Haut davongekommen, aber hinterher hat mich mein Pelz so gejuckt, als risse man ihn mir vom Leibe. Du aber siehst ja beinahe aus wie ein Mensch, und dass du kein Blut hast, glaube ich nicht!« Bei diesen Worten duckte sich das Wiesel, um zum Sprung anzusetzen. Da streifte der Heinzel schnell sein Käppchen über, und als das Wiesel zusprang, ihn zu packen, schnappte es in die Luft. Erschrocken gab es einen schrillen Laut von sich, witterte und sah sich nach allen Seiten um. Da hörte es ein Gelächter über sich, und als es aufsah, entdeckte es den Heinzel auf einem Tannenast. »Ich kann auch klettern, du!« rief es ärgerlich.

»Dann komm doch, ich fürchte dich nicht!« Das Wiesel rannte den senkrechten Stamm hinauf, so schnell, als liefe es über einen geraden, geebneten Weg. Es wunderte sich, dass der Heinzel auf seinem Ast sitzen blieb, viel lieber hätte es ihn klettern oder springen sehen, um ihm nachzujagen und ihn auf der Flucht einzuholen, denn wer war so flink wie ein Wiesel, wer? Ganz dicht war es an den Heinzel herangekommen, machte einen Satz und dachte, ihn beim Kragen zu packen — aber da war er verschwunden. Das Wiesel verlor das Gleichgewicht, schlug einen Purzelbaum und landete im Grase. Als es sich von seinem Schrecken erholt hatte und witterte, entdeckte es den Heinzel vergnügt an derselben Stelle auf dem Tannenast sitzen. Nun hatte es genug. In großen Sätzen sprang es von dannen, und der Heinzel lachte hinter ihm her. Dann aber wurde er nachdenklich. Sollten alle Tiere so böse sein? Wenn er wenigstens wüsste, wie er am schnellsten zu den Menschen gelangen könnte!

Er nahm eine Landkarte aus seiner Tasche und entfaltete sie. Darauf war der Weg eingezeichnet, den die Heinzelmännchen damals genommen hatten, aber das nützte ihm nichts. Der Weg vermied ja alle Menschensiedlungen. Er führte weit entfernt von ihnen durch dichte Wälder, über tiefe Flüsse. Enttäuscht rollte er die Karte zusammen.

Plötzlich fühlte er, wie der Ast unter ihm schwankte. Er blickte auf und gewahrte ein Eichhörnchen, das auf ihn zukam. »Rotröckchen«, sagte er, »kannst du mir nicht helfen?« — »Was willst du von mir?« fragte das Eichhörnchen und wedelte mit seinem buschigen Schwanz. »Ich suche den Weg zu den Menschen.« — »Ja«, erwiderte das Eichhörnchen, »ich kenne eine Hütte, etwa eine Wegstunde von hier, dort wohnen zwei alte Leute, ein Schäfer und seine Frau, und mit ihnen ein junger Bursche als Kleinknecht. Es sind freundliche Menschen; wenn sie mich sehen, werfen sie mir eine Haselnuss oder ein paar Sonnenblumenkerne zu. Komm, setz dich auf meinen Rücken, ich bringe dich hin!«

Hei, wie sie dahinflogen! Der Heinzel musste sich tüchtig festhalten, sonst wäre er heruntergepurzelt, so schnell sprang das Eichhörnchen mit ihm über Stock und Stein.

Als sie etwa eine halbe Stunde durch den Wald gelaufen waren, stand das Eichhörnchen still. Man hörte das Knacken von Ästen, und »Siehst du, dort steht sie«, sagte das kleine Tier und zeigte auf eine alte Frau, die Brennholz las. Sie nahm eben ein Seil, um die Traglast zu verschnüren, die sie sich auf den Rücken laden wollte. Allein die Last war zu schwer. Der müde Rücken der Alten krümmte sich noch mehr, Schweiß stand ihr auf der Stirne, sie wankte. »So geht es nicht«, seufzte sie, und »hätte ich doch den Handwagen mit!« Sie setzte sich erschöpft nieder, um auszuruhen. »Ich muss halt zweimal gehn«, sagte sie bekümmert.

»Wir wollen ihr den Wagen holen!« meinte der Heinzel. »Ja, ich weiß, wo er steht«, antwortete das Eichhörnchen.

Es dauerte nicht lange, da rollte ein kleiner Handwagen ganz allein seines Weges, ohne dass ihn jemand schob oder zog. Nur ein Eichhörnchen saß vorne im Wägelchen und drückte die Deichsel mit seinen Pfötchen einmal nach links und einmal nach rechts, je nachdem, nach welcher Richtung der Wagen fahren musste.

Unterdessen hatte die alte Frau das Bündel wieder aufgebunden und zwei Teile daraus gemacht. Sie wollte eben den einen wieder zusammenschnüren, als ein Geräusch sie aufblicken ließ. Da steht doch, kaum zehn Schritte entfernt, ihr Handwagen mitten auf dem Weg! »Hallo, Veit!« rief sie, denn sie dachte, ihr Mann habe ihn hergebracht, konnte ihn aber nirgends erblicken. »Der Gute!« dachte sie, »er hat mit den Schafen einen Umweg gemacht und den Wagen hierher gestellt, weil er wusste, dass ich hier vorbeikomme.«

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Als sie aber vorn auf der Deichsel das Eichhörnchen sah, lachte sie. »Nanu, du willst wohl den Kutscher spielen?« sagte sie. Da wippte das Eichhörnchen noch einmal auf der Deichsel und huschte davon. Sie aber lud ihr Holz auf und machte sich damit auf den Heimweg.

Wie leicht sich der Wagen heute zog!

»Man merkt, dass die Straße bergab führt«, dachte die Alte, denn sie brauchte sich gar nicht anzustrengen. »Das wird freilich bald anders werden, wenn die große Steigung kommt. Da werde ich tüchtig ziehen müssen.«

Aber — was war das? Der Wagen lief ja den Berg hinauf, als ginge es hinunter! Sie merkte keinen Unterschied. War das wirklich ihr Wagen? Sie hielt erstaunt an und beguckte ihn von allen Seiten. Freilich! Sie kannte ja jede Schraube und jedes Brett! Hier war auch das große Astloch. Und da war die Kerbe, die ihr Junge hineingeschnitten hatte, als er sein erstes Taschenmesser bekam. Nur — wann eigentlich hatte ihr Mann das eine Rad rot angestrichen? Und warum?

Da sah sie, wie sich das rote Rad von selber zu drehen anfing. Und das ist so bei jedem Wagen. Wenn ein Rad sich dreht, müssen alle Räder sich drehen, und dann muss auch der Wagen rollen, ob er will oder nicht.

So kam die Alte nach Hause, sie wusste selbst nicht wie.

Als sie in die Stube trat, saß ihr Mann auf der Ofenbank. »Hier bist du, Veit?« fragte sie erstaunt. »Ich dachte, du seiest draußen mit den Schafen!« — »Nein, Theres, ich konnte heute nicht mitgehn, ich musste den Jungen allein schicken. Das alte Reißen — die Knochen wollen nicht mehr!« — »So warst nicht du es, der mir den Wagen nachgebracht hat?« — »Den Wagen nachgebracht? Ich bin nicht aus dem Hause gekommen! Und der Hansel kann es auch nicht gewesen sein, der hat einen ganz andern Weg genommen.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Aber sag mir, Veit, wann hast du eigentlich das eine Rad rot gestrichen?« — »Rot gestrichen? Wie kommst du darauf?« — »Nun, so geh doch und sieh es dir an!«

Die Alten gingen hinaus und traten zum Wagen, der mitten im Hofe stand. Aber von einem roten Rad war nichts zu sehen. Alle vier Räder zeigten dieselbe graue Farbe, wie sie das Holz annimmt, wenn es jahrelang Wind und Wetter ausgesetzt ist. »Hier ist doch etwas nicht ganz richtig«, murmelte die Alte. Der Schäfer aber strich seiner Frau über die runzligen Hände. »Du bist übermüdet, Therese«, sagte er, »es war auch gar so schwül heute Mittag. Geh, ruh dich ein wenig aus, ich trage indessen das Holz in den Stadel!«

Da sah ihn die Alte wie abwesend an — dann drehte sie sich langsam um und ging kopfschüttelnd ins Haus. Der Mann blickte ihr bekümmert nach. Ob sie wohl wirr wurde im Hirnkastl, seine gute Therese? Ein Wunder wär’s nicht nach all dem Kummer, den sie hatten.

Als der Schäfer wieder in die Stube trat, hielt die Frau ein beschriebenes Blatt Papier in der Hand, das schon ganz abgegriffen aussah. Die Tinte war verblasst und stellenweise verwischt, so dass es schwer war, die Worte zu entziffern. »Liest du wieder die alten Briefe, Mutter?« fragte der Mann, »die kannst du doch auswendig!« — »Ach, Vater«, antwortete die Frau, »wenn nur unser Michel nicht im Gebirge verunglückt wäre! Der hätte uns nicht verlassen, der wäre nicht in die Stadt gezogen wie der Schorsch, und wir hätten eine Hilfe an ihm und müssten uns nicht mit fremden Leuten plagen.« — »Ja, der Schorsch und der Michel!« sagte der alte Schäfer. »Zwei so frische Burschen! Aber keiner kommt wieder. Drei Jahre sind es nun, dass der Schorsch zum letzten Mal schrieb.« Die Alte aber faltete die Papiere sorgfältig zusammen und legte sie in die Truhe zurück. »Komm essen, Veit!« sagte sie dann. Nur langsam klapperten die Löffel.

»Ich habe dem Hansl gesagt, er soll zum Mittag mit den Schafen zurück sein«, meinte nach einer Weile der Alte. »Sie müssen geschoren werden, es ist hoch an der Zeit. Gestern Abend habe ich angefangen, aber es ging mir gar nicht von der Hand. Ich rutschte mit der Schere aus und schnitt einem Schaf — gerade dem mit dem gebrochenen Bein — in die Haut, dass das Blut floss. Wie es blökte, das arme Tier!«

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Als bald darauf Hansl die Schafe hereingetrieben hatte, wollte sich der Schäfer wieder an die Arbeit machen. »Lauf, hol mir die Schafschere!« rief er dem Buben zu. Der trug die große, scharfe Schere herbei und gab sie dem Alten.

Der Junge holte nun ein Tier nach dem andern heran, und während er es festhielt, schor der Alte das dicke Wollvlies ab. Wie gut ihm doch heute die Arbeit von der Hand ging! Er hielt die Schere sicher in den Händen, und sie schnitt wie von selber. Ganz glatt und eben war das kurze, stehenbleibende Fell der Tiere. »Das kommt wohl daher«, dachte der Schäfer, »dass ich heute ausgeruht bin — und nicht so müde wie gestern.«