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Die letzten persönlichen Lebewohls waren gesagt. Heute war der letzte Tag des Besuchs unseres Gründers, und zwanzig oder dreißig von uns, die am engsten mit ihm zu tun gehabt hatten, hatten sich in der Kirche versammelt, um ihn ein letztes Mal sprechen zu hören. Soweit es den Rest der Welt betraf, war er bereits fort; dies war eine Art Abschied von den engsten Familienangehörigen. Inzwischen wusste ich, Gott sei Dank, dass ich zu dieser Familie gehörte, und ich war mehr als froh, still hinten in der Nähe der Tür zu sitzen.

Ich werde Ihnen nicht verraten, was er während unseres letzten richtigen Gesprächs zu mir sagte, doch so viel kann ich Ihnen sagen, dass es mir den größten Teil der Furcht nahm, die ich wegen seines Fortgehens empfunden hatte. Wie ging er? Wohin ging er? Ich wusste es nicht. Er schien mich gar nicht zu hören, als ich ihn danach fragte. Er sagte nur, ich solle die Leute am Abend in der Kirche zusammenkommen lassen und ein Glas Wasser neben einen Stuhl stellen, der nicht zusammenbrechen würde, sobald er sich darauf zurücklehnte (er wusste, dass die meisten unserer Möbel schon bessere Tage gesehen hatten!). All das hatte ich getan, und dort saß er nun und sah mich über die Köpfe der anderen hinweg mit einem Ausdruck gespielter Angst an, als er sich zurücklehnte. Der Stuhl hielt stand, wie ich mit Freude sagen darf, und das Durcheinander der Gespräche verstummte allmählich, bis vollkommene Stille im Raum herrschte. Eine Weile lang sagte er nichts, sondern sah uns nur mit einer seltsamen Mischung aus Freude und Traurigkeit an. Schließlich seufzte er leise, richtete sich auf seinem Stuhl auf und begann zu sprechen.

»Heute muss ich gehen, doch bevor ich aufbreche, möchte ich mit euch eine kleine Weile über Sünde reden. Ein komisches Wort, ›Sünde‹, nicht wahr? Irgendwie altmodisch. Ihr wisst doch alle, was Sünde ist, nicht wahr?«

Er hielt inne. Die Stille, die sich über die Versammlung senkte, ließ darauf schließen, dass wir zu wissen glaubten, was Sünde sei. Er fuhr fort.

»Ich jedenfalls weiß bestimmt, was Sünde ist, nicht zuletzt, weil ich mit ihr kämpfen musste, wie auch manche von euch mit ihr gekämpft haben – oder zumindest es versucht haben. Wisst ihr, während dieses Besuchs haben ein paar Leute zu mir gesagt – und ich weiß ihre Ehrlichkeit zu schätzen –: ›Für dich ist das alles kein Problem, du hast ja nie gesündigt. Du hattest es leicht. Du bist der Sohn des Chefs.‹ Ich nehme an, sie hatten dabei so eine Art göttliche Vetternwirtschaft im Sinn. Nun, die Leute, die das sagen, haben in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht. Es ist wahr, dass ich meinen Vater so sehr liebe, dass es die reine Qual für mich wäre, ihn zu verletzen, aber – ich möchte, dass euch etwas klar ist, und ich möchte, dass ihr es anderen erklärt, damit sie es auch begreifen. Sagt es ihnen, wenn ihr den Eindruck habt, dass der Zeitpunkt richtig dafür ist.«

Schweigend warteten wir, während er uns mit Augen voller Erinnerung ansah.

»Seht ihr, ich hatte die Fähigkeit, die Möglichkeit und die Macht, mehr zu tun, mehr zu haben, mich selbst mehr zu verwöhnen als irgendjemand sonst, der je gelebt hat oder je leben wird. Eine eurer neuen Bibelübersetzungen sagt, nachdem ich von meinem lieben Vetter, Johannes dem Täufer, getauft worden sei, hätte ich einen unbegrenzten Geist besessen. Richtig! Einen unbegrenzten Geist – unbegrenzte Macht. Ich kann euch sagen, ich lief geradezu über davon! Ich zog ab in die Wüste wie ein Teenager, der auf einem riesigen Motorrad, das er noch nicht beherrschen kann, davonhüpft. Da draußen in der Wildnis musste ich lernen, mit all dieser Macht umzugehen, die mich durchströmte, und dort draußen, wo es nichts gab, war es, dass mir die Tatsache bewusst wurde, dass ich alles haben konnte: Frauen, Geld, Besitz – alles. Ich brauchte es mir nur zu nehmen, und glaubt bitte ja keinem, der behauptet, ich wäre nicht in Versuchung gewesen, denn das war ich. Ich habe jede menschliche Begierde verspürt, genau wie ihr, und ich habe das alles durchkämpft, allein dort draußen in der Wüste. Das war ein Teil der Abmachung, wisst ihr, ein Teil des ganzen Plans, dass ich all dem ausgesetzt sein sollte, dem auch ihr ausgesetzt seid, dass ich all dem begegnen und es als das erkennen sollte, was es war, und mich davon abwenden sollte, wenn es falsch war. Nicht nur manchmal, nicht einmal nur meistens, sondern in jeder einzelnen Situation meines Lebens.«

Sein hartes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln, als ihm ein Gedanke kam.

»Ich werde euch etwas erzählen, das mich zum Lachen bringt. Diese Bilder – ihr habt sie sicher gesehen –, die mich darstellen, wie ich während der vierzig Tage und vierzig Nächte versucht werde. Ich bin der große, gelassen aussehende Typ mit dem superweißen Gewand, der die Versuchung mit einer einzigen majestätischen Handbewegung von sich scheucht. Offensichtlich habt ihr das Bild auch gesehen.«

Er fiel in das allgemeine Gelächter ein und fuhr nach einem Schluck Wasser aus dem Glas neben ihm leise und ernsthaft fort.

»Bitte glaubt nicht, dass es so gewesen wäre. Ich wurde bei Tag geröstet und bei Nacht eingefroren. Ich hatte Hunger, oft auch Durst, und war immer einsam. Die meiste Zeit kroch ich in einer Art fiebrigen Betäubung im Wüstensand herum, und die ganze Zeit über wusste ich, dass ich dieses unglaubliche Machtpaket in mir hatte, das mir alles verschaffen würde, was ich brauchte oder wollte. Wärme, Nahrung, Gesellschaft von jeglicher Art, die ich mir aussuchte – all das stand mir zur Verfügung, wann immer ich es wollte, auf der Stelle. Ich sage euch die Wahrheit, an diesem Ort wusste ich, was die eine Art von Ewigkeit bedeutet. Es schien immer und immer und immer weiterzugehen, aber ich gab nicht nach. Soll ich euch sagen, warum ich nicht nachgab? Soll ich euch sagen, was mich während jener endlosen Tage und Nächte stark gemacht hat? Es war Liebe. Nur das. Liebe.

Ich liebte meinen Vater mehr als alles andere in der Welt. Ich liebte ihn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, und ich liebte euch, meine Mitmenschen – schon damals –, wie ich mich selbst liebte. Seht ihr, mein Vater hatte mir gesagt: ›Sohn, tu es!‹ – und so tat ich es, weil ich ihm vertraute und weil ich gehorsam sein wollte. Dennoch dauerte es lange Zeit, diese Schlacht vollends zu gewinnen, doch am Ende schaffte ich es. Ich brach durch zu einem Punkt, an dem ich völlig eins war mit Gott, nur noch wollte, was er wollte, alles so sah, wie er es sah, und bereit war, alles zu tun, was er von mir wollte. Sofort – und das ist typisch für die Vorgehensweise des ›Hauptquartiers‹ – kamen die Engel mit einem Paket Sandwiches und frischer Unterwäsche an. Übrigens, achtet auf diese Engel, sie tragen manchmal komische Verkleidungen. Neulich habe ich einen mit einer Flasche Fusel am Victoria-Bahnhof gesehen, wie er seine schmutzigen, zerlumpten alten Flügel zusammenfaltete und nach einer Ecke suchte, in der er die Nacht verbringen könnte.«

Er schwieg einen Moment und sah uns an, als ob wir an dieser Stelle etwas sagen sollten, doch niemand tat es. Später las ich zu Hause den Schluss des fünfundzwanzigsten Kapitels des Matthäusevangeliums und begann es zum ersten Mal zu verstehen.

Er lächelte schief.

»Seht ihr, ich weiß so manches über die Sünde. Ich erinnere mich, wie ich einmal bei meinem ersten Besuch mit meinen zwölf Jungs zusammensaß und mit ihnen über das Gesetz redete – das Gesetz des Mose meine ich. Ich glaube, der eine oder andere von ihnen hoffte, meine Botschaft würde lauten: ›Alles ist erlaubt, Leute.‹ So eine Art wilde Party quer durchs ganze Universum, angeführt von einem liebenswerten alten Opa im Himmel, der sich nicht groß darum scherte, was die Leute so ausheckten. Ihr hättet ihre Gesichter sehen sollen, als ich ihnen die Hausregeln in allen Einzelheiten auseinander klamüserte. ›Von nun an‹, sagte ich, ›dürft ihr nicht nur nicht töten, ihr dürft nicht einmal töten wollen – nicht einmal den Zorn empfinden, der töten will. Von nun an sind Ehebruch und die Begierde, die zu ihm führt, gleich schwere Sünden. Von nun an …‹, und so weiter und so weiter. Sie hörten das nicht gern, das kann ich euch sagen. ›Vom Regen in die Traufe‹, so sagt man, glaube ich. Am Schluss nimmt mich der gute alte Petrus zur Seite und sagt: ›Ich fürchte, ich kann da nicht mithalten, ich bin nicht gut genug. Will Gott wirklich, dass wir so gut sind?‹

›Ja‹, sagte ich, ›das will er.‹ Langes Schweigen.

›Nun, dann werde ich es nicht schaffen, oder?‹

›Nein‹, sagte ich, ›das wirst du nicht.‹ Der arme Petrus sah daraufhin so niedergeschlagen aus, dass ich fortfuhr, ihm etwas zu erklären, und dasselbe möchte ich jetzt auch euch erklären.

Erstens, das Wichtigste ist, dass ihr tut, was Gott euch sagt. Ich hatte Petrus gesagt, dass er mir folgen solle, und das tat er auch. Ich hatte nicht zu ihm gesagt: ›Sieh zu, dass du vollkommen wirst, und dann folge mir.‹ Sondern nur: ›Folge mir.‹ Als Nächstes ging es um die Unmöglichkeit, jemals gut genug für Gott zu sein. Es war sehr wichtig für Petrus, zu wissen, dass Gott nichts weniger als Vollkommenheit verlangt. Sodann wollte ich, dass er begriff, was mein Tod für ihn bedeutete, wie sehr ich ihn liebte, wie weit ich zu gehen bereit war, um die Lücke zu schließen zwischen dem, was er war, und dem, was er sein musste, wenn er jemals dem Vater von Angesicht zu Angesicht begegnen sollte. Ich möchte, dass ihr alle das ebenfalls begreift.