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Robert Gierden

Eonidenwege

Das Rotland

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© 2016 Robert Gierden

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-7033-9
Hardcover: 978-3-7345-7034-6
e-Book: 978-3-7345-7035-3

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Prolog

Anka erlebte immer wieder denselben Traum: Ein schwarzer und widerlich erscheinender Fisch mit feuerroten Glupschaugen bedrängte ihren geliebten Vater, der das hölzerne Steuerrad seiner Kogge fest in den Händen hielt. Sie befanden sich auf hoher See und es stürmte schwer. Anka stand mittig auf dem Oberdeck des Schiffes. Es gelang ihr nicht, sich ihrem Vater zu nähern. Irgendwer oder irgendetwas hielt sie stets zurück. Dann biss der Fisch zu und ihr Vater, Life, der Erforscher Norgondias, erblasste schlagartig. Eigenartige blaue Flecken bildeten sich auf seiner fahlen Haut und er brach unvermittelt über dem großen Steuerrad zusammen. Anka schrie entsetzt auf und blickte hektisch um sich. „Wo sind die anderen? Wo befindet sich die Mannschaft des Schiffs?“ Eine fleischige Hand legte sich schwer auf ihre Schulter und das Mädchen erschrak. Sie fuhr herum und blickte in das dickliche Gesicht des Deutenden aus ihrem Küstendorf Walkand. Er zog eine Grimasse, eine üble Fratze und herrschte sie an: „Gotteslästerung! Gotteslästerung! Ihr werdet für euren Frevel schwer bezahlen müssen. Niemand erkundet ungestraft Norgondia.“ Der Deutende verschwand und ein Geräusch ließ Anka noch oben blicken. Hoch oben, nahe des Hauptmastes der Kogge, flatterte ein dickes Buch durch die schwülwarme Luft. „Das Buch, wir brauchen das Buch. Es enthält die Lösung, es enthält die Lösung für alles“, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Eine melodische Dudelsackmusik ertönte und Krell aus dem Hochland erschien wie aus dem Nichts auf dem schwankenden Oberdeck. „Die letzte Hoffnung, Anka. Ihr müsst die letzte Hoffnung finden“, riet er ihr und verschwand spurlos. Sie wandte ihren Kopf und blickte hinaus auf die tosende See. Charles, der königliche Depeschenreiter, hetzte mit seinem Pferd über die hohen Wellen und schwang seinen schwarzen Dreispitz. Dabei rief er dem Mädchen zu: „Seid auf der Hut! Irgendetwas passt nicht zusammen. Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Dann war der Sturm vorüber und die Kogge trieb in ruhigem Wasser. Doch es handelte sich nicht mehr um ein Meer. Die Kogge dümpelte in einem Becken, in einem riesigen und aus roten Backsteinen gemauerten Becken, welches mit Brackwasser gefüllt war. Um das Bassin herum standen stumm Eoniden. Sie bluteten aus ihren Augen, Nasen, Mündern und Ohren. Dazu summten sie eine klagende Melodie, die Anka nicht kannte. Masuras, der Guardenist, verweilte etwas abseits der Eoniden. Der Zwerg stützte sich lässig auf seine Hellebarde und grinste Anka verschmitzt an. Anka winkte den Eoniden und wollte ihnen etwas zurufen, da verspürte sie einen leicht schmerzenden Stoß in ihrer linken Seite. Völlig verschwitzt öffnete sie ihre Augen. Lolle, ihr treuer Freund und Wegbegleiter, grinste das Mädchen breit an und meinte: „Genug ausgeruht, Anka. Wir müssen weiter. Gotarhaven und Eric Wolf Johannsen werden nicht auf uns warten!“

Kapitel I
Erwachet!

Kapitel II
Määäh!

Kapitel III
Südstimmung

Kapitel IV
Antonius Lupus Maximus

Kapitel V
Lucerna

Kapitel VI
Flucht

Kapitel VII
Ora et labora!

Kapitel VIII
Alandria

Kapitel IX
Adeeba

Kapitel X
Wüstenrätsel

Kapitel XI
Rotland

Kapitel XII
MSC3

Kapitel XIII
Antworten

Kapitel XIV
Heimat

Buch 2

Das Rotland

Kapitel I

Erwachet!

„Sie wachen auf! Sie wachen auf!“ Ein zarter, blond gelockter Junge lief aus der Ferne lauthals schreiend auf eine Gruppe von älteren Männern zu, die sich angeregt am Hafen von Walkand unterhielten. Einer der Männer stutzte, als er die laute Botschaft des Jünglings vernahm, und wandte sich etwas von der eng zusammenstehenden Gruppe ab. Geduldig wartete er auf das Eintreffen des Dorfjungen. Als dieser vor Aufregung am ganzen Körper zitternd und mit stark gerötetem Gesicht die Männer erreichte, schrie er erneut der Gruppe zu: „Sie werden wach! Sie wachen auf! Kommt…, kommt nur und seht selbst.“ Mehrfach verschlug es ihm dabei die Stimme; dessen Ursache aber nicht nur in seiner Aufregung lag. Jona befand sich nämlich momentan in dem Abschnitt des Lebens, wo ein Kind begann, allmählich zu einem Mann heranzureifen und er kämpfte deutlich hörbar mit den damit verbundenen umfangreichen Veränderungen. Die Dorfältesten Walkands, die sich zuvor mit Olafson, dem Heilkundigen, konzentriert unterhalten hatten, scharten sich nun gemeinsam mit diesem um den völlig aufgelösten und schwitzenden Jungen. „Du bist Jona, einer der Söhne des Seilers und seiner Frau, nicht wahr?“, erkundigte sich Olafson. „Nun beruhige dich doch erst einmal“, der Heilkundige versuchte den Buben zu beschwichtigen. „Wer wacht auf und wo?“, Olafson musste nachfragen, denn es gelang ihm nicht, sich einen Reim aus den vorangegangenen Worten Jonas zu machen. „Olafson…,“ keuchte Jona sichtlich um Fassung ringend, „Life…, es sind Life und seine Männer. Sie wachen auf. Sie kommen zurück. Du hast es geschafft!“ Das Blut in Olafsons Adern gefror schlagartig nach Jonas ausgesprochenen Satz. Nun begann sein Körper selbst stark zu schwitzen und sein altes Herz raste in der Brust. „Kann das möglich sein?“, zweifelte er. „Nach dieser Zeit und nach all meinen vergeblichen Bemühungen?“ Er packte den Jungen fest an den Schulterblättern, beugte sich etwas zu ihm hinunter und schaute ihm dabei tief in die Augen. „Jona, sprichst du auch die Wahrheit?“ Dem Jüngling rannen Tränen der Freude über seine geröteten Wangen. „Ja, Olafson, es stimmt. Ich komme geradewegs von deinem Haus hierher. Ich war mit meiner Mutter dort! Sie öffneten alle ihre Augen. Sie sind wieder da, Olafson, die Todkranken sind alle wieder da!“ Der Heilkundige konnte es immer noch nicht ganz fassen. Er hob Jona etwas hoch und drückte diesen fest an sich. Dann stellte er ihn wieder behutsam auf den Boden zurück und wuschelte mit beiden Händen in seinem blonden Haupthaar. „Jona…, Jona…“, rief freudig erregt der alte Heilkundige, „wenn das wahr ist…, bei allen Heiligen!“ Olafson wandte sich an die völlig perplexen Dorfältesten und rief diesen zu: „Ich muss los! Ich muss sehen, was da vor sich geht.“ Mit wehendem Gewand rannte Olaf, wie er von den meisten Bewohnern des Dorfes genannt wurde, in Richtung seines Hauses los. Dabei bemerkte er nicht einmal, dass ihm eine Vielzahl von Walkandlern neugierig auf dem Fuß folgte. Olafson hastete zum Ort hinaus und überquerte eine kleine grüne Landzunge, die sich etwas in das nahe Meer erstreckte. Er sprang dabei mehrmals über schmale Wildwasserbäche und stürzte beinahe, als er im schnellen Lauf die stattliche Baumwurzel eines Obstbaumes übersah. Sein Atem ging stoßweise und seine Augen füllten sich mit klarer Tränenflüssigkeit. Wirre Gedanken schossen durch seinen Kopf und er fühlte keinen Schmerz, als er sich an einem tief hängenden Ast seinen rechten Oberarm aufschürfte. Endlich erreichte er sein Anwesen, welches Abseits der Ansiedlung an der Küste stand. Die Haustüre war weit geöffnet und zwei bleiche und ausgemergelte Gestalten bewegten sich auf sehr wackeligen Füßen unbeholfen im Freien. „Life…! Life…!“ Es kam Olafson so vor, als ob sein Herz vor lauter Euphorie gleich zerspringen wollte, als er laut den Namen des Kapitäns ausrief. „Ich kann es nicht fassen! Ich kann es kaum glauben! Ihr seid aufgewacht. Ihr seid wieder bei uns.“ Mit weit ausgebreiteten Armen lief Olafson auf einen der wankenden Männer zu. Es war Life, der Kapitän, der Erkunder aus Walkand und Ankas Vater. Die Dorfältesten und viele andere Walkander die Olaf voller Erwartung bis zu dessen Haus gefolgt waren, hielten sich in diesem schon fast intim wirkenden Moment im Hintergrund zurück. Der ausgezehrte Mann, den Olaf so erfreut angesprochen hatte, drehte mechanisch seinen Kopf zum Heilkundigen und blickte diesen starr an. Aus seinen tief liegenden Augen konnte man deutlich Verwirrung ablesen und das blasse, hagere Gesicht des Kapitäns war eine einzige Frage. Mit belegter Stimme fragte Life Olaf: „Wer seid ihr? Wo bin ich?“

Kapitel II

Määäh!

Die Abendstimmung setzte gerade ein, als Amadeus gelangweilt in zwei oder drei Pfeifen seiner selbst gefertigten Panflöte aus orange farbigem Rumbalholz blies. Er thronte erhöht auf einem Felsabbruch und beobachtete Lord, seinen schwarzen Hütehund, beim Bewachen der Schafherde. Lord erledigte diese wichtige Arbeit in der Zwischenzeit so geschickt, dass Amadeus seinem aufmerksamen Rüden nur noch einige wenige, kurze Kommandos zurufen musste. Der schlaksige junge Mann streckte sich und genoss sichtlich die laue Luft. Er, die Herde und sein Hund waren umgeben von einer satten grünen Wiese, in der vereinzelt riesige Laubbäume standen. Unter einem dieser mächtigen Bäume befand sich ein kleiner aus Holz gezimmerter Unterstand, der dem jungen Schäfer Schutz und Zuflucht bei einem Unwetter bot. Auch stellte dieser Unterstand sein Schlafgemach dar, sowie die Küche, ein Lager und, wenn man es so bezeichnen wollte, seine gute Stube. Für die wertvolle Schafherde gab es in nächster Nähe eine andere Zufluchtsstätte. Es handelte sich dabei um eine übersichtliche, natürliche Höhle im Felsengestein des angrenzenden Gebirges mit dem treffenden Namen Graumeer. Jetzt im Hochsommer bestand aber kaum die Gefahr eines üblen Gewitters und sowohl Amadeus als auch die Tiere verbrachten die warmen Nächte überwiegend unter freiem Himmel. Frisches sauberes Wasser konnten sich Amadeus und seine Schafe aus dem nahen Fluss „Gotar“ holen. Dieser wurde aus einem unweit liegenden hohen Wasserfall des Graumeers gespeist. Amadeus setzte an, ein verspielt klingendes Lied anzustimmen, als er furchtbar erschrak. Aus dem Gebirgsmassiv, vielmehr aus der Richtung der dort liegenden verbotenen Stufen, betraten zwei dunkle Gestalten unvermittelt seine Wiese. Die Schafherde wurde mit einem Mal unruhig und Lord bemühte sich redlich, die Tiere laut bellend zusammenzuhalten. Amadeus schaute noch einmal genau hin. Tatsächlich näherten sich ihm ein Mädchen und ein Junge. Dem Schäfer lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Mit einem Satz war er auf den Beinen und sprang von dem abgebrochenen Felsstück herunter. „Haben sie mich gesehen?“ Amadeus ging in die Hocke und drückte sich tief unter einen winzigen Überhang des Felsabbruchs. Er vernahm deutlich Schritte, die sich ihm näherten. Als er verstohlen aus seinem Versteck hervorlugte, sah er, dass die beiden Fremden ihn gleich erreicht hatten. Amadeus verlor die Nerven. Er sprang auf und verließ laut schreiend die schützende Deckung des Felsens. „Haut ab ihr Eonidenpack! Geht weg und lasst mich in Frieden! Hilfe! Hilfe!“, schrie er und wusste doch, dass hier draußen in der Einsamkeit ihm niemand zu Hilfe kommen würde. Im Rennen blickte sich Amadeus kurz nach hinten um. Er wollte sich vergewissern, dass er schnell genug war und dass ihn die vermeintlichen Eoniden nicht einholen würden. Er musste dabei jedoch feststellen, dass das unheimliche Pärchen anscheinend sehr verdutzt an seinem vorherigen Aussichtspunkt stehen geblieben war. An einer Verfolgung schienen sie überhaupt nicht interessiert zu sein. Amadeus stutzte, verlangsamte seinen Lauf und blieb stehen. Aus der Ferne rief er den beiden zu: „Haut ab, ihr Eoniden oder ich hetze euch meinen Hund auf den Hals“. Der junge Schäfer hielt betont unauffällig Ausschau nach Lord und konnte diesen aber nirgends entdecken. „Wenn man ihn mal dringend braucht, ist er nie da“, dachte er sich leicht verärgert dabei. Als Antwort auf seine üble Drohung erhielt Amadeus mehrere für ihn höchst merkwürdig klingende Sätze. Das Mädchen, welches Amadeus trotz aller Furcht sehr hübsch fand, rief ihm nämlich zurück: „Wir sind keine Eoniden! Wir sind aus Walkand an der Nordküste und wir wollen Gotarhaven erreichen. Kannst du uns dabei vielleicht behilflich sein?“ Amadeus kratzte sich am Kopf, überlegte kurz, formte seine Hände zu einem Trichter und rief unsicher zurück: „Es gibt keinen Weg von der Nordküste, der hier enden würde. Ihr kommt von den verbotenen Stufen. Ihr wollt mich reinlegen.

Ihr seid Eoniden!“ Es dauerte einige Sekunden, bis auf diese Vorwürfe erneut eine Antwort eintraf. Diesmal sprach der Junge. „Quatsch nicht rum und komm her! Wir haben keine Waffen bei uns, sind nass bis auf die Haut, haben Hunger und wollen nur nach Gotarhaven gelangen.“ Dabei hob er seine beiden Hände hoch in die Luft. Ebenso hob nach kurzer Zeit das hübsche Mädchen ihre Hände in die Luft. Zum Glück für die beiden hörte Amadeus nicht, was der Junge dem Mädchen danach noch zuraunte: „Seltsamer Vogel dieser Tiefländler, oder?“ Der Schafhüter war jetzt hin und her gerissen. Zum einen hatte er fürchterliche Angst vor den beiden und zum anderen quälte ihn eine große Neugierde. Natürlich obsiegte die Neugierde in ihm und er näherte sich bedächtig, Schritt für Schritt, dem Jungen mit dem Namen Lolle und dem Mädchen mit dem Namen Anka.

Amadeus hatte auf der Weide, unweit seines Unterstandes, ein großes Lagerfeuer entzündet und etwas mehr als sonst von seinem Proviant genommen. Anka und Lolle hingegen zogen sich bis auf die Unterwäsche aus und setzten sich an den Rand des knisternden und prasselnden Feuers. Helle Rauchschwaden schwängerten die warme Luft und zogen hinüber zu den feuchten Kleidungsstücken der beiden Kinder. Diese hatten sie zum Trocknen an einem knorrigen Ast eines nahen Baumes aufgehängt. Auch Anka und Lolle plünderten ihre Lebensmittelvorräte und tischten diese zusammen mit Amadeus` Essensvorräten auf der Wiese auf. Jetzt saßen die drei friedlich zusammen und stärkten sich zunächst wortlos mit Brot, Fleisch, hart gekochten Eiern und Schafskäse. Lord, der tüchtige Hütehund, der mit seiner sensiblen Schnauze natürlich sofort all die Köstlichkeiten gerochen hatte, lag mit sabberndem Maul neben Anka und schaute diese ständig aus flehenden, dunklen Hundeaugen an. „Ist doch schon witzig, dass ich euch beide für Eoniden gehalten habe, oder?“, begann Amadeus eine Unterhaltung. „Ich Dummkopf! Derweil sind die Eoniden doch längst tot und unter der Erde“. Zu seiner Rechtfertigung und Ehrenrettung setzte er jedoch sofort nach: „Ihr kamt aber wie einst die Eoniden aus dem Graumeer und aus der Richtung der verbotenen Stufen und da konnte man ja nun nicht wissen…“, Amadeus verstummte. „Was konnte man da nicht wissen?“, hakte Anka neugierig nach. Dabei legte sie ihre Stirn in Falten und stellte ihren Kopf leicht schräg. „Na ja…“, begann der Schäfer bedächtig, „es hätte ja doch sein können, dass ihr welche seid. Also, neue Eoniden halt…, Eoniden, die sich rächen wollen“. „Rächen…?“, jetzt runzelte Lolle seine Stirn und verstand nicht ganz den Sinn dieses Satzes von Amadeus. „Na ja…“, startete dieser wiederum seine Ausführungen „ihr müsst wissen, dass sich hier bei uns eigentlich niemand mehr um die Eoniden schert“. Das Wort „Eoniden“ betonte Amadeus dabei deutlich hörbar abfällig. „Sie sind tot, verfault und uninteressant“, plapperte er weiter. „Irgendwie hat aber dennoch ein jeder Angst davor, dass Eoniden wieder diese Stufen herabkommen könnten. Zornige und gewalttätige Eoniden, die uns wieder unterwerfen wollen“, Amadeus schüttelte sich demonstrativ vor Grausen. „Aus diesem Grund sind die Stufen hier hinter uns“, Amadeus deutete mit seinem Daumen der rechten Hand hinter sich, „auch eine verbotene Zone. Nur diese Weidefläche und die dazugehörige Felsenhöhle darf ich noch benutzen, dahinter ist…“, der junge Schäfer beendete seine Erzählung abrupt und zog mit seinem Daumen einen imaginären Strich über seine Kehle. Anka und Lolle vermuteten, dass dies wohl bedeuten sollte, dass das unerlaubte Betreten dieser sogenannten verbotenen Zone schwer bestraft werden würde. Aus diesem Grund erzählten die beiden Amadeus auch nicht konkret, auf welchen Pfaden sie von ihrer Heimat Walkand bis zu diesem Ort gelangten. Lolle tischte ihm glaubhaft auf, dass sie den alten Handelsweg durch das Graumeer hindurch genommen hätten. Durch fehlerhaftes, altes Kartenmaterial wären Anka und er jedoch weit von ihrem eigentlichen Weg abgekommen und letztendlich hier gelandet. Ihre Bekanntschaften mit Charles, dem Depeschenreiter des Königs, Krell, dem Musiker, und Masuras, dem Guardenisten, unterschlugen sie komplett. Von den vielen toten Eoniden, die sie in der Festung „letzte Hoffnung“ vorfanden und den tatsächlich zuletzt benutzten Treppenstufen ganz zu schweigen. Sehr zu Lolles Überraschung reichten diese vagen Erklärungen Amadeus aber völlig aus. Er nickte, während der Junge seine Geschichte erzählte, sogar mehrfach mit dem Kopf und machte dazu ein altkluges Gesicht. Als kurz danach das Lagerfeuer fast heruntergebrannt war und ein nächtlicher Sternenhimmel über alles und allem stand, legten sich Anka, Lolle und Amadeus zum Schlafen. Nur Lord, der tatsächlich einige Essenshappen abbekommen hatte, rappelte sich gemächlich auf, um nach der Herde zu sehen und um später etwas in die funkelnde Nacht hinein zu heulen.

„Guten Morgen, Anka. Guten Morgen, Lolle“. Amadeus stand breitbeinig und mit einem fröhlich ansteckenden Grinsen im Gesicht vor dem Nachtlager der beiden. Ein breiter orangeroter Streifen am östlichen Firmament kündigte den unmittelbar bevorstehenden Sonnenaufgang an. „Könnte mir Anka ein wenig beim Zubereiten des Frühstücks behilflich sein?“, erkundigte sich Amadeus freundlich. Lolle gab ein mürrisches Brummen von sich. Bereits am Abend zuvor war ihm irgendwie unangenehm aufgefallen, dass der junge Schäfer Anka interessiert beäugt hatte. Somit war ihm jetzt auch klar, weshalb Amadeus nach Anka fragte und nicht ihn um Hilfe bat.

Anka selbst schlug erst einmal die Augenlider auf und blickte verschlafen unter ihrem Fell hervor. Sie reckte ihre Arme in die Luft und atmete einmal tief durch. Auch ihr war am Abend zuvor nicht entgangen, dass Amadeus sie mehrfach unverhohlen gemustert hatte. Dies behagte ihr nicht sonderlich, da Amadeus in ihren Augen etwas simpel gestrickt war. Aus Höflichkeit jedoch sagte sie ihm ihre Hilfe zu. „Warte bitte noch einen kurzen Moment. Ich ziehe mich eilig an, wasche mich und komme dir dann zu Hilfe.“ „Das ist gut. Das ist sogar sehr gut“, erwiderte Amadeus freudig dem Mädchen. „Ich gebe dir einen Eimer mit, damit du aus dem Fluss Wasser holen kannst. Du findest mich dann an meinem Unterstand. Ich warte dort auf dich.“ „Den letzten Satz hättest du nicht extra erwähnen müssen“, dachte sich Lolle ironisch im Stillen. Dabei hievte sich der Junge von seinem Nachtlager hoch und wandte sich dem Baum zu, an dem ihre Kleidungsstücke über Nacht zum Trocknen hingen. Diese zeigten nur noch eine leichte Spur von Feuchtigkeit. Zum Ausgleich dafür rochen sie etwas muffig nach Lagerfeuer und Rauch. „Das fängt ja gut an heute Morgen“, grummelte Lolle missgelaunt vor sich hin, während er vorsichtig seine und Ankas Kleidungsstücke von dem knorrigen Ast abnahm. Schnell zog er sich an und brachte im Anschluss daran Anka ihre Sachen. Amadeus stand dabei knapp hinter ihm und meinte gönnerhaft: „Das hätte ich doch auch machen können.“ „Hast du aber nicht“, dachte sich Lolle erneut im Stillen, um laut zu sagen: „Das wäre aber sehr aufmerksam von dir gewesen, Amadeus. Jetzt aber habe halt ich dies für dich übernommen. Wenn du nun bitte so freundlich wärst und Anka kurz ihre Sachen anziehen lässt…“, dabei unternahm Lolle eine eindeutige Handbewegung, die auch Amadeus, sehr zur Erleichterung Lolles, sofort verstand. Er trat einige Schritte zurück, drehte sich um und trollte sich zu seinem nahen Schäferunterstand. „Puhhh…, danke Lolle. Ich dachte Amadeus krabbelt mir noch in meine Schlafstelle“, bedankte sich Anka bei ihrem Begleiter. „Soll er mal versuchen“, entgegnete dieser sichtlich genervt. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns von Amadeus noch einige Informationen einholen, um dann geschwind weiterziehen zu können.“ Dies sah Anka genauso. Sie machte sich eilig auf dem Weg zum Fluss Gotar. Dort wusch sie sich ausgiebig und schöpfte das geforderte glasklare Wasser aus diesem in den mitgegebenen Holzeimer. Als sie, von dem eiskalten Nass erfrischt, zurückkehrte, sah sie Lolle zusammen mit Amadeus am Unterstand stehen. Lolle führte gerade eine Unterhaltung mit dem jungen Schäfer und reichte ihm dabei einige Lebensmittel aus seinem Rucksack. Anka stellte den mit Wasser gefüllten Eimer vor Amadeus ab und setzte sich auf einen Holzklotz, der vor dem Unterstand auf der Wiese lag. Amadeus nutzte sogleich das Wasser, um einen aromatischen Tee für alle kochen zu können. In der Zwischenzeit richteten Anka und Lolle ein ansehnliches Frühstück her. Nach nur kurzer Zeit saßen die drei erneut beisammen und begannen zu essen. Im Osten ging dabei eine strahlende Sonne auf.

„Amadeus! Wir haben es dir noch nicht gesagt, aber wir suchen in Gotarhaven eine ganz bestimmte Person. Einen Mann, der ziemlich bekannt sein müsste“, eröffnete Lolle das Gespräch. „So, so, einen bekannten Mann. Wie soll der denn heißen?“, erkundigte sich Amadeus abwartend. „Eric…, Wolf…, Johannsen“, antwortete ihm Anka. „Kennst du einen solchen Mann mit einem derartigen Namen? Er müsste schon ziemlich alt sein“, deutlich konnte man aus der Stimme Ankas große Erwartungen heraushören. „Eric Wolf Johannsen? Eric Wolf Johannsen?“, wiederholte Amadeus mehrfach laut den Namen. „Und er soll ein bekannter Mann sein?“, wiederholte Amadeus erneut. „Hmmm,…“, er kratzte sich am Kopf. Ungeduldig und nervös stocherte Anka mit einem morschen Holzstöckchen in der weichen Erde. Amadeus ließ sich nach ihrem Geschmack eindeutig zu viel Zeit zur Beantwortung ihrer Frage. „Nö…, kenn ich nicht“, kam es dann lapidar aus dem Mund des jungen Schäfers. „Der Name klingt auch schon so seltsam, so…, alt“, meinte er noch. Lolle zog nach dieser kurz gehaltenen Antwort irritiert eine Augenbraue hoch. „Wie, so alt und seltsam?“, fragt er nach. Nun lag es an Amadeus, irritiert zu sein. „Na ja…“, begann er wie am Vorabend seinen Satz bedächtig, „solche Namen werden schon seit langer Zeit nicht mehr gebraucht. Das liegt wohl auch an unserem Statthalter. Der hat vor vielen vergangenen Zeiten ganz viel Neues angefangen.“ Über Ankas und Lolles Kopf hing ein nicht zu übersehendes und übergroßes Fragezeichen. Mit dieser schwammigen Aussage konnten die beiden nun überhaupt nichts anfangen. „A…ma…de…us…“, stöhnte Lolle leicht gequält auf, „was meinst du denn jetzt damit wieder?“ Amadeus, der mittlerweile selbst bemerkt hatte, dass seine Sätze nicht sonderlich hilfreich waren, stand unvermittelt auf und reichte Anka seine leicht verschmutzte linke Hand. „Kommt mal mit mir mit“, sprach er und meinte damit eindeutig auch Lolle. Während Amadeus sichtlich erfreut Anka vom Boden hochziehen durfte, nahm Lolle noch einen schnellen Schluck heißen Tee aus seiner Tasse. Noch immer nicht verstehend, folgten Anka und Lolle dem davoneilenden Amadeus. Die drei entfernten sich eilig von dem schützenden Unterstand und wanderten in südlicher Richtung eine kurze Strecke die abschüssige Weide hinab. Im unteren Bereich der großen Wiese wandte sich Amadeus mit seiner Gefolgschaft dem Westen zu. Zahlreiche Schritte später umrundeten sie gemeinsam eine ausladende, mit Bäumchen und Büschen bewachsene Felsenzunge des Graumeers. Nur einige Wimpernschläge danach blickten Anka und Lolle auf etwas so unerwartet Phantastisches, dass dies in diesem Moment fast ihre vorangegangenen gemeinsamen Erlebnisse in den Schatten gestellt hätte. Anka und Lolle standen immer noch auf einer satten grünen Wiese, die aber in geringer Distanz endete. Es folgte eine steile, steinige Abbruchkante, die weit unter ihnen in einem wunderschön anzuschauenden Tal sanft auslief. In diesem tief gelegenen, breiten Tal entdeckten die beiden weite Plantagen aus Obstbäumen und Sträuchern. Ein schmaler Bach schlängelte sich mittig durch die beschauliche Landschaft. Alles wirkte sehr sorgsam und geordnet angelegt. Hier und da konnten Anka und Lolle auch Menschen ausmachen, die gerade damit beschäftigt waren, die Bäume und Sträucher zu pflegen und von Wildwuchs zu befreien. Dies alles stellte sich zwar als interessant anzuschauen dar, war jedoch an sich völlig unspektakulär. Das, was die beiden Abenteurer so bannte, war aber ein beeindruckendes Bauwerk, eine Art gigantische Brücke, die das vor ihnen liegende, tiefer gelegene Tal mühelos überspannte. Gleich auf den ersten Blick bemerkten Anka und Lolle, dass dieses Bauwerk, welches sich in einer noch nie zuvor gesehenen Harmonie in diese Landschaft einfügte, ungewöhnlich schmal angelegt worden war. Nebeneinander gehende Menschen konnte es schwerlich und Fuhrwerke auf keinen Fall aufnehmen. Die Brücke setzte sich aus vielen kleinen Rundbögen zusammen, die in mehreren Stockwerken versetzt übereinander errichtet worden waren. Massive helle Felsblöcke dienten dem Bauwerk als Fundament und Basis. Daneben verwendeten die Erbauer für die weiter oben liegenden Rundbögen auch kleine rote Backsteine. Dies stellten Anka und Lolle mit großem Erstaunen fest. Ein derartiges Baumaterial kannten sie ja bereits von anderer Stelle her.

Amadeus stand mit stolz geschwellter Brust fast am Rand der natürlichen Geländekante und deutete mit einem ausgestreckten Arm auf das faszinierende Bauwerk. „Das meinte ich mit Neuem“, rief er zu Anka und Lolle hinüber. „Es ist ein Weg, ein Wasserweg, ein Aqui…, ein Aquo…, ähhh, ein „Aquädukt““, erklärte er weiter. „Wasser des Graumeers wird damit nach Gotarhaven gebracht.“ Tatsächlich bemerkten Anka und Lolle nach diesem wertvollen Hinweis, dass in dem hinter ihnen liegenden Graumeer ein mannshohes und Wasser führendes Rohr aus dem Felsgestein herausragte. Es mündete in einer künstlich errichteten tiefen und nach oben hin offenen Rinne aus Gestein. Diese Rinne führte ihrerseits in leichten Serpentinen hinunter zu dem Aquädukt. Die Brücke selbst transportierte dann das kostbare Gut scheinbar problemlos über das Tal in Richtung der Hauptstadt. Für Anka und Lolle stellte dies alles sofort ein großartiges und konsequentes Konzept zur steten Versorgung mit Wasser dar. Einzig die dafür verwendete Bezeichnung „Aquädukt“ hatten sie noch nie zuvor vernommen. Anka wandte sich an Amadeus: „Und das hat euer Statthalter errichten lassen?“, erkundigte sie sich ungläubig bei dem jungen Schäfer. „Dieses, andere und noch vieles mehr! Es ist wirklich unglaublich, was Antonius Lupus Maximus für uns alles getan hat. Er ließ auch breite gepflasterte Straßen bauen und riesige Badehäuser anlegen. Es gibt nun unzählige Schulen und Unitä…, Universitäten sowie tolle Theateranlagen. Ihr könnt gar nicht glauben, wie sehr sich Gotarhaven im Gegensatz zu früher verändert haben muss.“ „Antonius Lupus Maximus?“ Was sind denn das für ungewöhnliche Namen?“, erkundigte sich Lolle bei Amadeus. „Das meinte ich doch vorhin mit seltsam und alt!“, antwortete dieser prompt auf Lolles Frage. „So ein Name wie Eric Wolf Johannsen gibt es schon lange nicht mehr. Die Menschen heißen jetzt so wie unser Statthalter oder so wie ich:

Amadeus, Claudius, Laetitia oder auch Aurora. Statthalter Maximus verkündet auch stets, dass Gotarhaven eine Stadt des Aufbruchs und der Moderne sei. Er meint, sie ist nun die aufstrebende Hauptstadt eines fortschrittlichen Südens. Was auch immer dies zu bedeuten hat.“ Amadeus nickte mit seinem Kopf in Richtung des Aquädukts. „Im Übrigen ist es von hier aus auch nicht mehr schwer, die Hauptstadt zu erreichen. Das Aquädukt darf betreten werden. Ihr müsst nur über die Wasserbrücke gehen. Schon kurz danach kommt ihr auf die „via coniunctiva“. Dies ist eine neue Prachtstraße, die euch direkt nach Gotarhaven hineinbringen wird. Dies alles dauert vielleicht etwas mehr als einen halben Tag. Wenn ihr euch jetzt auf den Weg macht, seid ihr spätestens am frühen Abend in der Stadt.“ Amadeus schien noch etwas zu beschäftigen. „Ich glaube, es ist wohl am besten, ihr wendet euch direkt an Statthalter Maximus. Er lebt schon so lange in Gotarhaven, dass er vielleicht einen Eric Wolf Johannsen kennen muss. Keine Angst übrigens vor Statthalter Maximus. Er ist ein freundlicher Mann und hat immer ein offenes Ohr für die Nöte der Menschen. Sein Haus kennt jeder und ein jeder kann euch auch den Weg dorthin beschreiben.“ Amadeus beendete seine Erklärungen und wirkte auf einmal sehr traurig. Mit hängenden Schultern und gesenktem Blick stand er wie verloren auf der grünen Wiese herum. Obwohl Anka eine ungute Ahnung davon hatte, was Amadeus so bedrückte, bekam sie Mitleid mit diesem. Das schlanke, braunhaarige Mädchen ging zu ihm hin und nahm eine seiner speckigen Hände zärtlich in ihre Hand. Sie flüsterte: „Sei bitte nicht traurig, Amadeus. Schau, wenn wir in Gotarhaven alles erledigen konnten, kommen wir bestimmt wieder zu dir zurück und dann sehen wir uns alle noch einmal!“

Trotz der leise gesprochenen Botschaft schnappte Lolle das Gesagte auf. Erschrocken blickte er seine Begleiterin mit aufgerissenen Augen an und stammelte: „Wie bitte“? Was das Mädchen Amadeus da in Aussicht stellte, gefiel diesem hingegen natürlich sehr. Schlagartig hellte sich seine Mine auf. Was er, Anka und Lolle jedoch nicht ahnen konnten, war der Umstand, dass das Schicksal etwas völlig anderes mit ihnen allen geplant hatte.

Lolle, Anka und Amadeus standen zusammen mit Lord an derselben Stelle, wo kurz zuvor Amadeus ihnen das erste Mal das Aquädukt stolz präsentiert hatte. Die beiden Abenteurer trugen jetzt aber ihre geschnürten Rucksäcke auf dem Rücken und waren zum Weitermarsch bereit. Von Amadeus erhielten sie noch großzügig umfangreiche Lebensmittel wie Brot, Eier und Käse. Einem schnellen Weiterkommen schien von nun an nichts mehr im Wege zu stehen. Anka streichelte dem hüfthohen Lord das von der Sonne gewärmte schwarze Fell. Der Hund wedelte dabei freundlich mit seinem Schwanz. Lolle erhielt von Amadeus noch einige letzte Hinweise. Dann wurde es Zeit, sich zu verabschieden und Lolle reichte dem jungen Schäfer freundschaftlich die Hand. Amadeus jedoch hielt sich mit dieser gar nicht lange auf, sondern umarmte den verdutzten Jungen mit einem schraubstockartigen Griff. Dabei schlug er ihm mehrfach mit der flachen Hand auf den Rücken. Als sich Anka von Amadeus verabschieden wollte, stand der junge Schäfer nur verschämt und mit gesenktem Kopf vor ihr. Da nahm sich das Mädchen ein Herz und hauchte diesem zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Dies wiederum kam für den jungen Mann so überraschend, dass es ihn rückwärts auf den Hosenboden setzte. Anka kicherte amüsiert hinter ihrer schnell vorgehaltenen Hand.

Die beiden wandten sich von Amadeus ab und wanderten entlang der Abbruchkante zu dem nahen Aquädukt. Amadeus rappelte sich vom Boden auf und begann hinter den beiden heftig herzuwinken. Er schrie ihnen aus Leibeskräften nach: „Viel Glück, Anka! Viel Glück, Lolle! Und lasst euch bitte wieder bei mir sehen. Ich bleibe bis zu der Zeit der fallenden Blätter hier oben. Ach ja und übrigens, Gotarhaven soll auch bald einen anderen Namen erhalten. Wundert euch also nicht. Gotarhaven soll „Rom“ heißen!“

Kapitel III

Südstimmung

„Wie geht es denn unseren kranken Dorfmitgliedern?“ Der Deutende stand unerwartet an der Türschwelle zu Olafsons Anwesen. An diesem Tag hatte sich der untersetzte, dickliche Mann komplett in schwarz gekleidet und hielt ein kleines, in bräunlichem Leder gebundenes Büchlein in seinen Händen. Ein voluminöser goldener Ring mit einem Kreuz aus weißem Kristall als Aufsatz zierte seinen rechten Ringfinger. Auf Grund der seit einigen Tagen konstant vorherrschenden Hitze des Sommers bildeten sich sichtbar feine Schweißperlen auf der Stirn des Geistlichen von Walkand. „Oh…, ich habe die Ehre, Deutender“, entgegnete Olaf würdevoll. Er war gerade dabei, einen kräftigen Sud aus Kräutern und Gewürzen in einem seiner großen Kessel aus Kupfer anzusetzen. Etwas spöttisch setzte er noch nach: „Welch seltene Ehre, sie hier draußen bei mir begrüßen zu dürfen.“ Es verhielt sich nämlich so, dass sich der Deutende, während Life und seine Männer mit dem Tode rangen, mitnichten sonderlich oft bei diesen gezeigt hatte. Olafson, den man nicht unbedingt als einen großen Freund des Deutenden bezeichnen konnte, nahm diesem dieses Verhalten ein wenig übel. In Olafsons Augen verhielt sich der Deutende, was diese Angelegenheit betraf, schäbig. Selbstverständlich erkannte Olaf die Tatsache an, dass Lifes beständiger Forscherdrang für den Deutenden ein schweres kirchliches Vergehen darstellte. Der Heilkundige vertrat aber die Auffassung, dass ein Mensch in Not immer den geistlichen Beistand eines Deutenden verdiente, ganz egal, wogegen er zuvor verstoßen hatte. Der Deutende überhörte geflissentlich Olafs Anspielung. Er betrat, ohne zu fragen, das Haus des Heilkundigen durch die offen stehende Eingangstüre. Er blickte sich neugierig im ehemaligen Magazin der Fischersleute um und meinte dann erstaunt: „Ja, wo sind denn die verlorenen Seelen“? Olafson grinste und drehte sich zu dem Deutenden der alten Schriften um. „Ich habe alle nach draußen vor das Haus geschickt. Sie sollen sich an der frischen, würzigen Seeluft laben und bei Sonnenschein so lange wie möglich im Freien aufhalten! Ich denke, ihr könnt die Männer unten am Meer antreffen. Geht nur hin zu ihnen.“ Der Deutende hob abwehrend eine Hand und meinte: „Äh…, nein, danke, das wird wohl nicht nötig sein. Mich führt etwas anderes hierher.“ Der Geistliche nahm mit einem Aufseufzen auf einem nahen Stuhl Platz. Das ältere Möbelstück ächzte bedrohlich unter der plötzlich einsetzenden Belastung. „Es ist schon erstaunlich, wie geschwind sich Life und seine Männer von diesen… seltsamen Beschwerden erholt haben, oder?“, stellte der Deutende fragend fest. „Auch ihr Vergessen haben sie wohl schnell überwunden, hörte ich“, fügte er noch hinzu. Olaf rührte wieder in seinem Kupferkessel und meinte: „Erstaunlich in der Tat. Als ich nach Jonas Botschaft die Männer in diesem Zustand vorfand, ging ich davon aus, dass sie mehrere Sonnenauf- und Sonnenuntergänge benötigen würden, um in eine brauchbare Verfassung zurückzufinden. Jedoch innerhalb nur weniger Stunden erhellten sich ihre Sinne und ihre körperlichen Lebenskräfte setzten ein. Allerdings, jenes sollte nicht unerwähnt bleiben, seitdem essen sie wie ausgehungerte Bären. Meine Helfer und ich können gar nicht genügend an Essen heranschaffen, was die Männer derzeit verschlingen. Ungewöhnlich, da gebe ich ihnen recht, ist dies alles auf jeden Fall.“ „Haben denn Life und seine Leute schon darüber berichten können, was sie so sehr krank gemacht hat?“, erkundigte sich der Deutende interessiert weiter. „Hmm…, das ist ebenfalls so etwas Unerklärliches“, antwortete Olaf ausweichend. „In diesem Augenblick können sie sich an das Meiste erinnern. Was aber ihre letzte Erkundungsfahrt betrifft, da können weder Life noch seine Mannschaft etwas dazu sagen. Entweder sie wollen nicht, was ich nicht glaube. Oder sie sind nicht dazu in der Lage, was ich eher annehme. Fragen Sie mich bitte nicht nach dem Grund dieser ungewöhnlichen Erscheinung.“ „Tja“, der Deutende zeigte keine sonderlich mitfühlende Reaktion, „wer sich gegen den Rat Gottes stellt, der muss schmerzlich dessen hartes Urteil ertragen. Ach ja, was ich auch noch fragen wollte, hat sich Life schon nach Anka erkundigt? Wo ist seine Tochter übrigens? Ich habe das Mädchen und deren Freund, Luodwigsguard nicht wahr, zuletzt vor Tagen bei mir in der Kirche angetroffen.“ In dem Gesicht des Deutenden konnte man nach den zuletzt gestellten Fragen keinerlei Regung feststellen. Seine Mimik schien wie eingefroren. „Seltsam, jetzt wo sie es erwähnen,… . Nein, nach seiner Tochter hat sich Life noch nicht erkundigt. Ich kann auch nicht sagen, wo sie sich derzeit aufhält. Im Dorf munkelt man, dass sie zusammen mit Lolle aufbrach, um ihren Vater und die Mannschaft zu retten. Ich denke aber, dass dies ihnen bereits zu Ohren kam, nicht wahr?“

„Wie…? Ja, ähhh, so in etwa“, murmelte der Deutende eine eher unverständliche Antwort auf Olafs geschickt versteckte Frage. In Wahrheit hatte sich Life sofort nach dem Einsetzen seines Verstandes bei Olaf nach seiner Tochter Anka erkundigt. Olaf kamen die Fragen des Deutenden jedoch sehr ungewöhnlich vor und sein wacher Geist riet ihm, nur oberflächliche Antworten darauf zu geben. Weshalb sich der Deutende für Anka plötzlich so interessierte, war dem Heilkundigen im Moment überhaupt nicht klar. „Nun gut, Olafson“, der Deutende erhob sich gemächlich aus der Sitzgelegenheit, „grüße bitte die wieder gewonnen Schäfchen von mir. Ich werde mich, sehr zu meinem Bedauern, in der nächsten Zeit nicht um deren Seelenheil kümmern können.“ Von diesem Satz leicht überrascht, drehte sich Olaf, der Heilkundige, um und blickte den Deutenden fragend an. „Ist etwas geschehen, von dem ich wissen sollte? Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?“, erkundigte er sich ehrlich besorgt. „Vielen Dank, Olafson“, der Geistliche hob deutlich abwehrend eine Hand. „Es ist nicht das, was sie denken. Ich wurde gerufen. Mein ehemaliger klösterlicher Lehrstuhl benötigt mich dringend und noch heute fährt meine Kutsche. Ich wünsche alles Gute und spende Gottes Segen.“ Nach diesen Worten zeichnete der Deutende mit der rechten Hand ein großes Kreuz in die Luft und verließ danach, ohne ein weiteres Wort gesprochen zu haben, Olafsons Magazin. Olaf, der Heilkundige, blickte dem Deutenden lange nach.

Draußen herrschte dunkle Nacht und in dem hoch gemauerten Kamin von Olafsons Magazin loderten hell die Flammen. Auf Stühlen um die Feuerstelle herum saßen Olaf, der Heilkundige, der alte Johannsen und Life, der Kapitän und Erkunder. Olafsons Hund lag zwischen den Stuhlbeinen zu seinen Füßen und des Heilkundigen Eule hockte auf einem Ast seitlich des Kamins. In Johannsens Mundwinkel steckte wie gewöhnlich eine Pfeife aus weißem Walfischknochen und herber Tabaksduft erfüllte das Haus. Life, schlank und noch immer mit einem sehr schmalen Gesicht versehen, wartete gespannt Olafs Worte ab. „Life, dies ist die letzte Nacht, in der ich euch alle hier behalten werde“, verkündete Olaf überraschend. „Ich bin zufrieden. Ein jeder von euch ist mittlerweile ausreichend zu geistigen und körperlichen Kräften gekommen. Es ist nun an der Zeit, euch euren Frauen und Familien wieder zu übergeben. Du aber sorgst dich um Anka, deine Tochter, und dies vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht. So musste ich zum Beispiel heute am Vormittag einen sehr seltsamen Auftritt des Deutenden hier bei mir erleben.“ Olaf berichtete den beiden Männern ausführlich von dem überraschenden Besuch des Dorfgeistlichen in seinem Anwesen. „Ich weiß nichts über den Aufenthalt von Anka und ich weiß auch nichts über den Aufenthalt Lolles. Ich kenne da aber jemanden, der sehr wohl darüber Bescheid wissen müsste“, schloss der Heilkundige seinen Bericht. Zugleich nickte er eindeutig mit seinem Kopf in Richtung des alten Johannsens. „Er ging mir übrigens tüchtig in der schweren Zeit eurer Betreuung zur Hand“, erklärte der Dorfheilkundige. „Dabei ließ er auch einige Sätze mir gegenüber fallen, die mir schwer zu denken gaben.“ Johann, wie er überwiegend von den Bewohnern Walkands genannt wurde, zuckte beim letzten Satz etwas zusammen. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und holte tief Luft, um sich den beiden offenbaren zu können. Life hielt währenddessen seine beiden Hände zusammengelegt vor seine Lippen. Die Augenlider verengte er aus Konzentration zu schmalen Schlitzen. Der Kapitän und Erkunder beugte seinen Oberkörper etwas nach vorne und hielt den Kopf leicht gesenkt.

Der alte Seebär setzte an, seine Geschichte zu erzählen. Es handelte sich dabei um die Geschichte, die er bereits Tage zuvor Anka und Lolle im Vertrauen erzählt hatte. Er bemühte sich sichtlich, nichts zu unterschlagen oder zu vergessen. Johann begann damit, dass er vor Tagen überraschend an Bord von Lifes Schiff gerufen wurde. Er berichtete ausführlich über das anstrengende Ausnehmen des unbekannten schwarzen Fischkadavers. Diesen fand zuvor ein junger Fischer auf dem Oberdeck von Lifes Kogge. Er erwähnte dabei gleich, dass er dieses ominöse Wasserwesen damit zum zweiten Mal in seinem Leben beschauen musste. Johann setzte seine Erzählung mit dem Geständnis fort, einen Zwillingsbruder zu haben. Er unterschlug nicht sein frühes Abenteuer mit diesem auf einem Schiff und das damit verbundene Auffinden eines geheimnisvollen Buches. Er berichtete von seinem eigenen Erlebnis mit diesem sagenhaften Buch. Auf einer Seite dieses Werks war nämlich dieser schwarze Fisch detailliert abgebildet, der Dekaden später auf den Planken des Oberdecks von Lifes Schiff lag. Zum Abschluss räumte der alte Mann ein, dass er derjenige sei, der Anka und Lolle auf Reisen geschickt hatte. Die beiden sollten seinen Zwillingsbruder Eric Wolf Johannsen und das Buch in der Hauptstadt Gotarhaven finden. Er beteuerte, nur in bester Absicht gehandelt zu haben, da niemand wissen konnte, wie lange Lifes sonderbarer Zustand und der Zustand seiner Besatzung anhielt. Er und auch die beiden Kinder versprachen sich eine Lösung aller Probleme durch dieses sagenumwitterte Buch. Nachdem Johann seine ausführlichen Darstellungen beendet hatte, blickte er erwartungsvoll Life an. Der Kapitän richtete seinen Oberkörper noch auf dem Stuhl sitzend kerzengerade auf und meinte nur knapp: „Vielen Dank, Johann, für deine wertvolle Hilfe.“

Nach einer kurzen Zeit des gemeinsamen Schweigens und des Überlegens meinte Life weiter: „Wenn ich alles richtig verstanden habe und eins und eins zusammenzähle, dann glaube ich, dass meine Anka und ihr Freund Lolle in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Das heutige Auftauchen des Deutenden kann kein Zufall sein. Einiges gäbe es sicherlich noch zu klären. Das Wichtigste jedoch vorweg: Ist die Kogge einsatzbereit?“ „Sie liegt nach wie vor unbeschädigt und gut vertäut im Hafen von Walkand, Life“, beantwortete Johannsen eilig dessen Frage. „Du wirst doch nicht nach Gotarhaven aufbrechen wollen? Du…, ihr seid derzeit alle noch zu schwach, um diese anstrengende Fahrt problemlos meistern zu können“, aufrichtige Sorge schwang in der Stimme Olafs mit. Der Heilkundige wusste aber schon beim Ausspruch des Satzes, dass Life seine Bedenken ignorieren würde. Life sah Olaf mit einem festen Blick an: „Morgen früh werde ich meine Männer über alles informieren. Ich weiß jetzt schon, dass sie mir mit diesem Wissen folgen werden. Anka und Lolle riskieren einiges, um unsere Leben zu retten. Da sollten wir jetzt nicht weinerlich sein!“ Life war zwischenzeitlich aufgestanden und ging, sichtlich überlegend, unruhig vor dem Kamin auf und ab. „Johann, ich könnte gut deine Erfahrung beim Aufrüsten unserer Kogge gebrauchen! Olaf, du bist hier in Walkand unentbehrlich. Deine Tränke und Kräutermischungen würden uns aber sicherlich gute Dienste leisten. Vielleicht siehst du dich in der Lage, uns ein wenig davon mitzugeben. Außerdem stehst du mit den Dorfältesten in gutem und engem Kontakt. Nur du kannst sie davon überzeugen, dass wir tatsächlich fähig sind, die anstehende Aufgabe zu bewältigen. Du hast die Überzeugungskraft, die wir in diesen Stunden benötigen. Du kannst glaubhaft darlegen, weshalb wir so plötzlich nach unserer Genesung wieder aufbrechen müssen.“

Vor Olaf und Johann stand ein zu allem entschlossener, hoch gewachsener Life. Trotz seines Gewichtsverlusts wirkte er vitaler und gesünder denn je. Die beiden Männer wussten, dass sie den Erkunder des Dorfes Walkand nicht würden aufhalten können. In Gedanken bereiteten sie sich schon auf ihre bevorstehenden neuen Aufgaben vor.

Anka setzte zögernd und vorsichtig ihren schmalen Fuß auf das Bauwerk mit der fremd klingenden Bezeichnung Aquädukt. Es war aber nicht so, dass diese riesige Überquerungshilfe sonderlich baufällig oder gar marode auf das Mädchen wirkte. Vielmehr stellte die immense Höhe des Bauwerks für sie ein kleines Problem dar. Tief unter Anka befand sich das Tal, in dem nach wie vor einige Bauern sorgsam ihre Felder und Anpflanzungen pflegten. Zudem gesellte sich der erschwerende Umstand dazu, dass die zu betretende Fläche extrem schmal gehalten war. Lolle nahm deswegen an, dass die Überquerungsmöglichkeit nur eine Notlösung darstellen würde und irgendwo anders sicherlich eine herkömmliche Brücke in der Landschaft stehen müsste. Allerdings bemerkte Anka erleichtert, dass die Konstrukteure wenigstens an einen schmalen Handlauf aus dunklem Metall gedacht hatten. Ohne diesen hätte Anka nicht so freiwillig die Brücke überquert. Eng hintereinander gehend schlichen die beiden über das beeindruckende, hohe Bauwerk. In der Mitte des Aquädukts befand sich, im Gegensatz zu dem betretbaren Gehweg, eine breite und mit einem Rand gemauerte Wasserrinne. Diese war mit großen und schwer wirkenden orangefarbigen Tonschindeln abgedeckt. Deutlich vernahmen die beiden Kinder aber das lebendige Glucksen und Rauschen des schnell in der Rinne dahinfließenden Gebirgswassers.

Ungefähr auf halber Strecke bat Lolle das Mädchen anzuhalten. Mit einem Kribbeln im Bauch verlangsamte Anka ihren Schritt und blieb dann ganz stehen. Lolle, dem diese Höhe anscheinend keine sonderlichen Sorgen bereitete, wandte seinen Blick nach Südosten und besah sich fasziniert die Landschaft. Diese unterschied sich deutlich von dem Landschaftsbild, welches sie von zu Hause aus gewohnt waren. Mit Felsbrocken durchsetzte, lehmige Böden, kleine, gedrungene Nadelbäume und vom Meer kommende kalte, eisige Böen schien es hier nicht zu geben. Irgendwie fühlten sich Lolle und auch Anka eigenartig frei, luftig und unbeschwert. Ein warmer Wind fegte um das Aquädukt und die Luft roch magisch nach fremden Gewürzen und Kräutern. Von ihrem hohen Standort aus entdeckten die beiden Kinder etwas südlich weite Felder aus dunkler, fruchtbarer Erde. Am anderen Ende der Brücke bemerkte Anka mehrere interessante hohe und spitz zulaufende Gewächse, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Ein wenig später erfuhr sie den Namen dieser Bäume und, dass diese nur hier, in der warmen Region, ohne harte, frostige Winter, gedeihen konnten. Eine ganze Zeit lang standen die beiden Kinder regungslos da und bestaunten den südlichen Landstrich mit seinen einzigartigen Formen und Gerüchen. Eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahmen, beendete ihre Starre aus Faszination und Genuss. Die Bauersleute weit unter ihnen mussten sie hoch oben auf dem Aquädukt stehend entdeckt haben. Einige von diesen blickten nun zu den beiden Kindern hinauf und begannen zu winken. „Zu der sanften Landschaft gesellen sich also auch noch freundliche Menschen“, dachten sich Anka und Lolle.