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Friederike Schmöe

Januskopf

Katinka Palfys sechster Fall

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Zum Buch

Auf den Spuren E.T.A. Hoffmanns Im unterfränkischen Königsberg stürzt eine Frau in den Tod. War es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Dem neuen Klienten der Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy wird der mysteriöse Todesfall per anonymen Brief in die Schuhe geschoben. Noch rätselhafter ist allerdings der Mann selbst: Ewald Isenstein leidet seit einem Unfall an einer Persönlichkeitsspaltung, sein Innenleben ist unberechenbar. Katinka hält ihn für unschuldig, doch dann geschehen zwei Morde, und Isenstein hat wieder kein Alibi.Als auch ein Anschlag auf Katinka verübt wird, macht Kommissar Harduin Uttenreuther eine erstaunliche Entdeckung: Der Mörder scheint E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels »nachzuspielen«. Doch wenn das stimmt, wird es einen dritten Mord geben …

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2022

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © FooTToo / Shutterstock

ISBN 978-3-8392-3350-4

Zitat

Für jene unter uns, deren Faszination dem
menschlichen Gehirn gehört.

*

Ich will in das Grenzenlose zu mir zurück.

Else Lasker-Schüler

1. Die Kraft aus der Maschine

… daß, sooft ich die Flasche, ja nur dieses Kistchen, worin sie verschlossen, berühre, mich ein unerklärliches inneres Grauen anwandelt …1

Katinka Palfy ließ die Griffe der Maschine los und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Die Luft im Trainingssaal war stickig. Sie schüttelte die Arme und stand auf, um ihre aktuelle Übungszeit in den Trainingsplan einzutragen. Eine Hand fuhr ihr von hinten durchs Haar und kroch ihre Schultern entlang bis zu den Oberarmen.

»Gewaltige Muskeln, Frau Detektivin.«

Sie musste grinsen und entwand sich dem festen Griff ihres Freundes.

»Lass das. Du lenkst mich ab. Ich habe ein Trainingsprogramm vor mir.«

Tom biss ihr sanft ins Ohrläppchen.

»Praktisch, die kurzen Haare. Übrigens, hast du gesehen? Hardo hat bei der Arbeit an seinem Trapezmuskel beinahe das höchstmögliche Gewicht. Dreihundert Pfund.«

»Wie bitte?«

Katinka war an der gleichen Maschine gerade mal auf fünfundsechzig Pfund gekommen. Sie ließ Tom stehen und suchte nach Hardo.

Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, genannt Hardo, saß auf dem Bock seiner Lieblingsmaschine, die Oberarme vorschriftsmäßig zwischen die beiden Polster geschoben, und ruderte. Schweißperlen glitzerten wie Morgentau auf seinem vollkommen kahlen Schädel.

»Wie schaffen Sie das?«, fragte Katinka. Sie betrachtete die Muskeln unter seinem durchgeschwitzten T-Shirt.

»Training«, murrte Hardo und ruderte ein letztes Mal die Gewichte nach hinten, wartete einige Sekunden, ruderte zurück und setzte sie ab. »Nichts als Training.« Er stand auf und trocknete sich mit einem Handtuch das Gesicht ab.

»Fertig?« Polizeimeisterin Sabine Kerschensteiner trat neben sie, ihren Trainingsplan unter dem Arm. »Ich gehe duschen.«

»Das sollten wir alle«, sagte Tom. »Wir stinken wie die Skunks.« Sein Gesicht wurde düster. »Außerdem habe ich heute noch einen Termin. Ich muss um sieben am Bahnhof sein. Möglichst mit gewaschenen Ohren und getrimmtem Scheitel.«

Hardo zurrte eine Augenbraue hoch. Hätte er Haare gehabt, würde sie den Haaransatz erreichen. Katinka beneidete ihn um die Fähigkeit, die zweite Augenbraue dabei in waagerechter Position zu belassen.

»Ihre Mutter?«, fragte er.

»Ja!«, sagte Tom knapp. »Sozusagen.«

Hardo nickte. Sie standen eine Weile schweigend da, dann löste Katinka ihren Spindschlüssel vom T-Shirt und sagte:

»Ich gehe schon mal. Bis gleich.«

Sabine folgte ihr zu den Umkleiden. Katinka sank auf die Bank und streckte die Füße aus. Der Gedanke an den Besuch, der ihr und Tom bevorstand, machte sie kraftlos. Da hilft alles Muskeltraining nichts, dachte sie. Das ist mental. Sabine musterte sie einen Augenblick prüfend, bevor sie ihre Turnschuhe wegschnickste, sich das T-Shirt über den Kopf zog und aus ihren Hosen schlüpfte.

»Komm schon. Es sind gerade zwei Duschen frei.«

»Gleich«, murmelte Katinka. Sie fragte sich, warum Sabine Polizistin geworden war und nicht Model.

»Sorgen?«, fragte Sabine.

»Diese Sache mit Toms Mutter …«

»Seiner leiblichen Mutter?«

»Genau.« Katinka nickte. »Du kennst doch die Geschichte.«

»Ja, ich glaube schon.« Sabine hakte ihren BH auf. Katinka machte die Geste verlegen. Schnell redete sie weiter:

»Sie hat Tom als Baby abgegeben. An seinen Vater. Er war schon mit einer anderen Frau verlobt und brachte Tom quasi als Mitgift in die Ehe. Sie haben Tom nie etwas davon erzählt. Erst, als seine Erzieher-Mutter vor einem knappen Jahr einen Schlaganfall hatte, rückte sein Vater mit der Sprache raus.«

Sabine zog den Slip aus, warf alles in ihren Spind, schloss ihn ab und schnappte sich ihr Handtuch.

»Und jetzt hat Tom seine biologische Mutter endlich eingeladen?« Sie wickelte sich das Handtuch um die Brust.

»Nein. Sie hat sich selbst eingeladen, und Tom hat zugestimmt.«

»Vielleicht brauchte er den Anstoß. Hattest du nicht gesagt, dass er sich einfach nicht durchringen konnte, Kontakt zu ihr aufzunehmen?«

Katinka nickte.

»Er hätte sich selber nicht dazu aufgerafft. Nicht so schnell. Ich habe mich oft gefragt, wie lange er noch warten will.«

Eine Frau kam mit prall gefüllter Sporttasche in die Umkleide. Katinka fiel ihr leuchtend kastanienrot gefärbtes Haar auf. Hastig nickte sie zur Begrüßung. Sabine warf einen zweifelnden Blick in ihre Richtung.

»Wie heißt sie eigentlich?«, fragte sie.

»Wer?«

»Na, Toms Mutter.«

»Ella. Halt. Das ist die Frau seines Vaters.« Katinka senkte die Stimme. »Seine leibliche Mutter heißt Carla. Carla Nerius.«

Die Frau hatte begonnen, ihre Tasche mit viel Getöse auszupacken. Sie schielte in Katinkas und Sabines Richtung.

»Wie findest du übrigens Hardos Fortschritte?«, erkundigte sich Sabine.

»Ich traue ihnen nicht über den Weg«, seufzte Katinka.

Sabine spielte mit einer Flasche Duschgel herum.

»Katinka! Die Verletzung ist über ein Vierteljahr her!«

Wieder flatterte ein neugieriger Blick zu ihnen herüber.

»Dennoch. Dass er sich so schnell erholt hat …«

Hauptkommissar Uttenreuther war im Verlauf ihres letzten gemeinsamen Falles angeschossen worden. Katinka musste nicht einmal die Augen schließen, um die Szenerie vor sich zu sehen: Hardo, der im Schneematsch lag, die eine Hand auf den Einschuss gepresst, die andere nach seiner Pistole tastend. Sie schauderte.

»Es war ein Prallschuss. Das ist was anderes als ein direkt abgefeuertes Projektil. Außerdem ist er sofort operiert worden. Dank einer gewissen Katinka Palfy«, sagte Sabine grinsend.

Pssst, machte Katinka lautlos und wies auf die Dritte im Raum. Die zog sich reichlich langsam um und knotete schon zum dritten Mal die Schnürsenkel. Katinka fiel der missmutige Blick auf, mit dem sie Sabine bedachte.

»Du musst das so sehen«, bemerkte Sabine. »Er hat Reserven. Nicht nur den Bierbauch. Er war vorher durchtrainiert, sportlich, hatte ohnehin Kondition. Das beschleunigt jede Genesung.«

Katinka wollte das gerne glauben. Manchmal lag sie nachts wach und dachte an die schrecklichen Minuten in jener Januarnacht. Dann griff ein widerliches, schuppiges Tier mit Krallenpfoten nach ihrem Herzen und drückte es so fest zusammen, dass sie kaum atmen konnte.

Sabine berührte ihre Schulter und ging zu den Duschen hinüber. Sie sah unglaublich gut aus, wie sie nun das lange, blonde Haar löste, zurechtschüttelte und in der Kabine verschwand.

Hardo. Katinka fragte sich von Zeit zu Zeit, ob es stimmte, was ihre beste Freundin Britta ihr vorhielt: Dass sie, Katinka, zwischen zwei Männern stand. Britta stand gewöhnlich sowieso zwischen mehreren Männern, für sie war das normal, aber es war nicht Katinkas Stil. Und dann war da Toms Unruhe in den letzten Tagen, die ihn unausstehlich machte. Verständlich angesichts seiner komplizierten Familienverhältnisse, aber schwer zu ertragen.

Seufzend stand Katinka auf und zog die verschwitzten Sachen aus. Die warme Dusche tat ihr gut. Als sie endlich wieder herauskam, war Sabine schon fertig.

»Ich warte vorne auf dich«, sagte sie.

Katinka cremte sich ein und zog sich an. Als sie gerade ihr Haar trocknete, sich versonnen im Spiegel betrachtend, sagte jemand:

»Frau Palfy?«

Sie fuhr herum, mehr erstaunt als erschrocken. Die Frau von vorhin stand vor ihr. Nun schon etwas verschwitzt, das grelle Haar klebte ihr in der Stirn.

»Ja?«, fragte Katinka argwöhnisch.

»Mein Name ist Charlotte Isenstein. Es tut mir leid, wenn ich Sie in Ihrer Freizeit behellige. Sie sind doch die Privatdetektivin Palfy?«

»Ja«, sagte Katinka und bemühte sich um einen kundenfreundlichen Unterton, obwohl ihr der Gedanke nicht gefiel, mit dem Föhn in der einen und der Haarbürste in der anderen Hand einer neuen Klientin gegenüberzustehen.

»Ich … eigentlich mein Mann … bräuchte Ihre Hilfe.«

»Gern.« Katinka legte den Föhn und die Haarbürste weg. »Ich bin nachher wieder in meinem Büro. Geben Sie mir Ihre Nummer, dann rufe ich Sie wegen eines Termins an.«

»Tja.« Charlotte Isenstein trat von einem Fuß auf den anderen. »Mein Mann ist kein gewöhnlicher Kunde.«

Das hat mir in meiner Sammlung gerade noch gefehlt, dachte Katinka. Ein Prominenter. Oder einer, der sich dafür hält. Isenstein. Sie überlegte krampfhaft, aber da leuchtete kein rotes Lämpchen auf. Vielleicht ein Stadtrat. In der lokalen Politik kannte sie sich so gut wie gar nicht aus.

»Mir wäre es recht, wenn Sie zu uns nach Hause kommen könnten. Dann besprechen wir die Dinge in Ruhe.« Eine steile Falte nahm Kurs auf Charlotte Isensteins Nasenwurzel.

Service ist alles, ermahnte Katinka sich in Gedanken. Der Kunde ist König. Und zur Zeit liegen nur langweilige Aufträge auf meinem Schreibtisch.

»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

»Das werden Sie merken, wenn Sie mit meinem Mann zusammentreffen.«

Donnerwetter, dachte Katinka. Charlotte Isenstein hielt ihr eine Visitenkarte hin.

»Hier ist meine Handynummer. Rufen Sie mich an? Gleich heute noch?«

»Mach ich«, hörte Katinka sich sagen.

Sie sah Charlotte Isenstein nach, wie sie den Umkleideraum verließ. Sehr ladylike und selbstsicher und ein bisschen steif. Ein Hauch Parfüm hing in der Luft.

Die Polizisten verabschiedeten sich auf dem Parkplatz und fuhren in Hardos altem Golf davon. Katinka ließ sich von Tom in der Innenstadt absetzen. Er wollte nach Hause, um sich auf seinen besonderen Besuch einzustimmen, während Katinka in gemächlichem Tempo zu ihrer Detektei schlenderte. Es war ein traumhafter Junitag. Warm leuchtete die Sonne von einem dunstigen Himmel. Eigentlich ein Tag, um sich nach einem anstrengenden Training ein Eis zu gönnen, in einem Café zu sitzen und Leute anzugucken. Doch ihre innere Unruhe trieb sie weiter. Es ängstigte sie das Gefühl, am Abend nach Hause zu kommen, eine Fremde in ihrer Wohnung vorzufinden, die dazu noch Toms leibliche Mutter war, und die Luft flirren zu spüren von verwickelten Emotionen, die Katinka nicht durchschaute und die ihr niemand erklären würde. So gut sie sich mit Tom verstand: In Gefühlsdingen war er zugeknöpft. Was aus ihm herauskam, musste erst einen Damm von gewaltigen Ausmaßen durchbrechen, sodass er problematische Dinge oft erst ansprach, wenn sie in seinem Inneren schon zu einer explosiven Mischung geworden waren. Katinka roch das drohende Unheil förmlich, als sie durch das Stadttor in die Hasengasse trabte. Hier war die Welt klein und überschaubar. Trotz ihrer inzwischen soliden Einkünfte als Privatdetektivin wollte sie sich nicht von ihrer winzigen, in die schmale Gasse geduckten Detektei trennen. Sie mochte das Büro mit dem Schreibtisch, den Besuchersesseln, dem IKEA-Kleiderständer und den vollgestopften Bücherregalen. Ihr vollgekritzelter Terminplaner sah zur Jahresmitte bereits aus wie ein modernes Kunstwerk. Um dem Raum etwas mehr Ruhe zu gönnen, hatte sie ihr geliebtes Dalí-Poster vor einigen Wochen abgehängt und durch einen Bilderrahmen vom Trödelmarkt ersetzt – ohne Bild. Der Anblick der nackten Tapete zwischen den Messingschnörkeln irritierte die meisten Klienten. Katinka nutzte die erste Schrecksekunde gerne als Anlass für ein wenig Smalltalk, um die Stimmung aufzulockern und den Kunden ihre anfängliche Beklemmung zu nehmen. Katinka trat in den kleinen Nebenraum, prüfte ihr Faxgerät und nahm sich ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Nachdenklich betrachtete sie Charlotte Isensteins Visitenkarte, während sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurechtsetzte und die Papierhaufen unerledigter, monotoner Aufgaben beiseiteschob. Frau Isenstein wies sich als Geschäftsführerin eines Dentallabors aus. Die Karte fühlte sich teuer an. Katinka griff nach dem Telefon und wählte die angegebene Handynummer. Das Rufzeichen bekam eine Chance von einer halben Sekunde, dann wurde abgenommen.

»Isenstein?«

»Palfy. Dies ist mein versprochener Rückruf.«

»Wunderbar. Wann können Sie kommen?«

Katinka sah auf die Uhr. Kurz vor drei. Sie hatte den halben Nachmittag noch vor sich.

»In einer Stunde, wenn Ihnen das passt. Wo wohnen Sie?«

»Passt mir«, kam es zurück. »Wir wohnen am Schillerplatz.« Sie gab die Hausnummer durch.

»Gut. Bis dann.«

Katinka verbrachte die nächste halbe Stunde damit, aus dem Fenster zu starren, vor sich hin zu brüten und über Mütter und Väter nachzudenken. Schließlich räumte sie hektisch ihren Bürokram zusammen, steckte ein neues Notizbuch und einen Stift in ihren Rucksack, schrieb einen Einkaufszettel und schwang sich aufs Rad. Auf die Minute pünktlich drückte sie auf den Klingelknopf mit dem Namen ›Isenstein‹.

1 E. T. A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels. Seite 29.

2. Anonyme Post

An dem Mann, der ihr die Tür öffnete, fielen Katinka sofort die knochigen Knie auf. Gnubbelig wie Winterkartoffeln ragten sie unter dem Saum seiner Shorts hervor.

»Frau Palfy?«

»Die bin ich.«

Er trat beiseite und hielt ihr mit Grandezza die Tür auf.

»Bitte. Meine Frau kündigte Sie bereits an.«

Er führte sie in ein herrschaftliches Zimmer. In der Mitte thronte ein schlecht gepflegter, angelaufener Tisch mit kupferner Platte, mächtige abgewetzte Ledersessel standen herum, an der Wand ruhte sich ein Schrank auf Löwenfüßen aus. Es roch leicht nach einer sehr schweren, süßen Zigarre.

»Einen Aperitif vielleicht?«

Ewald Isenstein wandte sich dem monströsen Schrank zu, entnahm ihm eine Kiste, stellte sie aber sofort zurück, als er auf dem Flur Schritte bemerkte.

»Warten wir noch ein Weilchen«, sagte er mit einem verschwörerischen Grinsen. Es machte ihn schlagartig jünger. Katinka hatte ihn auf Ende fünfzig geschätzt, doch nun kam er ihr vor wie ein Lausbub mit faltigen Wangen.

»Grüß Gott, Frau Palfy!« Charlotte Isenstein rauschte herein. »Ich bin am Telefon aufgehalten worden. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?« Ihr Haar sah frisch geföhnt aus und leuchtete mit einem cremefarbenen, sommerlichen Kostüm um die Wette.

»Gern.«

Katinka sank in einen Sessel. Sie saß unerwartet bequem. Das Zimmer passte zu ihrer Vorstellung von einem englischen Club. Schwere Vorhänge waren zurückgezogen und ließen das Sonnenlicht hereinfluten. Es spann feine Fäden durch tänzelnde Staubkörnchen und verfing sich zwischen den Löwenkrallen am Schrank. Die Wände waren in Altweiß gestrichen, vielleicht hatte auch der Zigarrenrauch sie gefärbt. Es gab kein Bild, keine Musikanlage, keine Bücher, keinen Fernseher. Hier empfängt die Herrschaft ihre Gäste, dachte Katinka. Gewohnt wird woanders. Sie lehnte sich zurück und beobachtete schweigend das Ehepaar Isenstein. Musterte Charlottes Kostüm und Ewalds Knie. Aus einer Laune heraus half sie den beiden nicht auf die Sprünge, sah einfach zu, wie sie sich Blicke zuwarfen, als wollten sie auf diese Weise ausfechten, wer die Getränke holen ginge. Schließlich ging Charlotte hinaus. Ihr Mann setzte sich Katinka gegenüber und blinzelte ihr zu.

»Wir warten besser mit dem Schlückchen«, sagte er und wies mit dem Kinn zum Schrank. »Meine Frau mag es nicht, wenn am helllichten Tag Alkohol getrunken wird.«

Er lächelte strahlend. In seinem zerknitterten T-Shirt und den kurzen Hosen, den nackten Füßen in ausgetretenen Sandalen passte er nicht recht zwischen den Löwenfußschrank und den Kupfertisch. Außerdem harmonierte sein Lächeln so gar nicht mit der angespannten Miene seiner Frau. Sie kam mit einem Tablett zurück und deponierte drei Gläser und eine Flasche Apfelsaft auf dem Tisch.

»Wir haben Sie hergebeten, weil wir ein etwas delikates Problem haben.«

Sie schenkte die Gläser voll. Katinka nickte. Alle ihre Klienten hatten delikate Probleme, nichts für die beste Freundin oder die Kummerkastentante.

»Gewiss haben Sie von dem tödlichen Unfall in Königsberg gehört?« Als Charlotte Isenstein Katinkas verdutztes Gesicht sah, lächelte sie. »Nicht in Ostpreußen. Königsberg in Unterfranken, das sich selbst ›Königsberg in Bayern‹ nennt.«

Katinka kramte in ihrem Gedächtnis. Dass Kaliningrad gemeint sein könnte, wäre ihr sowieso nicht in den Sinn gekommen. Doch das fränkische Königsberg kannte sie nur dem Namen nach, obwohl es kaum dreißig Autominuten entfernt war. Und von einem tödlichen Unfall hatte sie erst recht nichts mitbekommen.

»Davon weiß ich nichts«, sagte sie ehrlich und beschloss, gleich nachher bei Hardo oder Sabine nachzufragen. »Würden Sie mich kurz ins Bild setzen?«

Sie warf einen Blick auf Ewald. Er bewegte versonnen die Zehen.

»Es ist knapp zwei Wochen her. Eine junge Frau wurde am frühen Abend in Königsberg von der Reichsburg gestürzt. Sie brach sich den Hals und war sofort tot.«

Katinka fröstelte. Sie selbst war während der Ermittlungen in einem früheren Fall von dem Mörder, den sie gejagt hatte, über die Mauerbrüstung der Bamberger Altenburg gestoßen worden. Nur durch Zufall oder Fügung hatte sie sich an einem Wasserspeier einen halben Meter tiefer halten können, bis Hilfe kam.

»Sie wurde gestoßen?«, fragte Katinka schnell nach.

»Lesen Sie keine Zeitung? Im Fränkischen Tag stand ein großer Artikel.«

Das wäre ein gefundenes Fressen für Britta, dachte Katinka. Ihre Freundin arbeitete als Redakteurin bei ebendieser Zeitung und beschwerte sich regelmäßig mehrmals im Monat, dass Katinka kaum mehr als die Schlagzeilen las.

»Mord oder Selbstmord?«, wollte Katinka wissen und beobachtete Ewald, der mit einem beiläufigen Lächeln zwischen ihr und seiner Frau hin- und herblickte.

»Unklar. Sie haben sicher bessere Kontakte als die von der Zeitung. Egal. Mein Mann bekam jedenfalls zwei Tage nach Erscheinen dieses Artikels einen anonymen Brief. Darin wird er beschuldigt, die Frau über die Mauer gestoßen zu haben.«

Katinka angelte ihr Notizbuch aus dem Rucksack und fragte:

»Wann war das genau?«

Charlotte Isenstein war präzises Antworten gewöhnt.

»Der Unfall – nennen wir es mal so – geschah am Abend des achten Juni. Der Artikel in der Zeitung erschien am Freitag, also am zehnten. Am Montag drauf lag der Brief im Kasten.«

Das war über eine Woche her. Lange acht Tage, um einen anonymen Brief aufzubewahren.

»Kam der Brief per Post?«

»Nein. Es ist keine Briefmarke drauf. Ich bin morgens immer früh an Deck, habe aber niemanden bemerkt und nichts gehört. Als ich um halb acht zur Arbeit ging, lag der Brief im Briefkasten.«

»Kann ich ihn sehen?«

»Sicher.«

Charlotte Isenstein stand auf und öffnete die Seitentür des Schrankmonstrums. Auf einem akkurat geschichteten Zeitschriftenstapel lag ein Kuvert, das sie nun mit spitzen Fingern aufpickte und vor Katinka auf dem Kupfertisch ablegte.

O weh, dachte Katinka. Sie kramte ein Paar Latexhandschuhe hervor und schlüpfte hinein.

»Daran habe ich natürlich nicht gedacht«, verteidigte sich Charlotte, ohne dass jemand etwas gesagt hätte. »Ich konnte doch nicht ahnen …«

Der Umschlag war sorgfältig aufgeschlitzt worden.

»Wer von Ihnen hat das Kuvert geöffnet?«, fragte Katinka.

»Ich«, kam es von Charlotte.

Katinka musterte einen ganz gewöhnlichen, billigen Umschlag mit dem Umweltengel-Logo auf der Rückseite. Als Adresse war nur ›Ewald Isenstein‹ angegeben, keine Straße, keine Hausnummer.

»Anonym«, bekräftigte Charlotte, als Katinka den Umschlag umdrehte und vorsichtig den zweimal gefalteten Bogen herauszog.

»Wieder Recyclingpapier simpelster Ausführung«, murmelte Katinka. »Maximal achtzig Gramm. Geschrieben wurde mit einem Kugelschreiber.«

»In der Tat. Viel Geld hat er nicht investiert.«

»Wer: ›er‹?«, fragte Katinka nach.

»Nun, der Absender.« Charlotte wurde rot.

»Warum glauben Sie, dass es ein Mann ist?«

»Ich … die Handschrift.«

Katinka überflog die kleinen, leicht nach rechts geneigten Buchstaben. Druckbuchstaben, beinahe. Viel zu lesen gab es nicht.

Ewald Isenstein,

ich weiß, dass du die Frau in Königsberg auf dem Gewissen hast. Und ich weiß, dass du noch mehr auf dem Zettel hast.

Katinka senkte das Papier und schob den Bogen behutsam zurück in den Umschlag.

»Herr Isenstein«, wandte sie sich an das lächelnde Lausbubengesicht. »Wo waren Sie am achten Juni gegen Abend?«

»Das ist es ja gerade«, antwortete seine Frau für ihn. »In Königsberg.«

Katinka schluckte ihre Überraschung hinunter.

»Herr Isenstein?« Sie ignorierte Charlottes auf und zu klappenden Mund.

»Meine Frau«, sagte Isenstein mit vielsagendem Augenaufschlag, »sieht die Dinge anders als ich.«

»Das glaube ich Ihnen«, erwiderte Katinka. »Wir haben alle unseren subjektiven Blick. Im Moment genügt es mir, wenn Sie mir sagen, was Sie am achten Juni gemacht haben.«

Isenstein zögerte. Er sah zu seiner Frau, dann zu Katinka. Nervös klimperte er mit den Fingern auf seinen spitzen Knien.

»Wir haben ein Haus in Königsberg«, half Charlotte schließlich aus.

Noch eins?, dachte Katinka. Laut sagte sie:

»Wo genau?«

»In der Marienstraße, gleich beim Kunsthandwerkshof. Dreihundert Jahre altes Fachwerk«, antwortete Charlotte. »Ewald nimmt sich ab und zu eine Auszeit. Draußen in Königsberg kann er für sich sein und schreiben.«

»Und das haben Sie am Achten getan?«

Ewald nickte kaum merklich und spielte weiter auf seinen Knien Klavier.

»Sind Sie Schriftsteller?«

»Ja!«

Das kam wie aus der Pistole geschossen. Katinka überlegte fieberhaft, ob sie den Namen Isenstein schon einmal auf einem Buchcover gesehen hatte.

»Sie waren den ganzen Abend in Ihrem Haus?«, fragte sie rasch, um den Faden nicht zu verlieren.

Er nickte. Sein Gesicht verzog sich zu einer mürrischen Grimasse.

»Kann das jemand bezeugen?«

Ewald schüttelte den Kopf und sah dabei noch grimmiger aus.

Katinka legte ihr Notizbuch auf ihren Schoß. Es gab eine Menge Fragen, die sie stellen musste. Sie begann mit der einfachsten.

»Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«

»Wir wollen kein Aufsehen.« Das kam von Charlotte.

»Die Kriminaltechnik kann mittlerweile beinahe Unmögliches«, sagte Katinka und wies auf den Brief.

»Ich halte die Sache im Grunde für einen schlechten Scherz«, erklärte Charlotte.

Tust du nicht, dachte Katinka. Sonst hättest du mich nicht angequatscht und würdest nicht so verkniffen dreinschauen.

»Wir dachten, eine Detektivin könnte der Sache diskret nachgehen.«

»Was genau soll ich für Sie herausfinden?«

Bevor Charlotte Isenstein antworten konnte, erhob sich Ewald und schlurfte zur Tür hinaus, ohne einen Blick oder einen Gruß, kraftlos wie ein Greis.

Ein paar Sekunden war es still zwischen den Ledersesseln. Dann machte Charlotte »Puuuh!«, fuhr sich erleichtert durchs Haar und sagte leise: »Endlich können wir offen reden.«

Was Katinka in der nächsten halben Stunde erfuhr, klang märchenhaft und bedrückend zugleich. Die Geschichte erklärte, warum Charlotte ihren Mann als keinen gewöhnlichen Kunden beschrieben hatte, und verstärkte Katinkas Gefühl von drohendem Unheil.

Ewald Isenstein war ein begeisterter Lehrer gewesen, der mit den Fächern Deutsch und Erdkunde nicht nur seinen Beruf, sondern auch seine Berufung gefunden hatte. Dann riss vor sechs Jahren ein Motorradfahrer Ewald auf dem Schulweg von seinem Fahrrad. Ewald zog sich schwere Kopfverletzungen zu. Seitdem litt er an epileptischen Anfällen und Persönlichkeitsveränderungen, die Charlotte als Dostojewski-Syndrom beschrieb. Sie bestand darauf, dass dies der korrekte medizinische Begriff sei.

»Er ist ein völlig anderer Mensch geworden«, sagte Charlotte dumpf. »Es ist wie ein Riss in seinem Hirn. Früher war er positiv, sportlich, konnte Bäume ausreißen. Jetzt wechseln seine Stimmungen beinahe stündlich. Sie haben es doch bemerkt. Erst ist er zugänglich, freundlich und charmant, dann mit einem Mal wird er mürrisch oder zornig. Er kann unglaublich aggressiv sein. Er wird nicht handgreiflich, das nicht, aber er verströmt Groll und Wut.« Sie seufzte. »Er hat ein Gefühlsleben, bei dem ich nicht mehr mithalten kann. Wie soll ich das erklären … er ist plötzlich religiös geworden. Nicht dass er in die Kirche gehen würde. Seine Religiosität bleibt privat. Sie ist düster, bedrohlich. Sie jagt ihm Angst ein.«

Katinkas Stift raste übers Papier, während Charlotte weitererzählte. »Außerdem schreibt er wie ein Verrückter. Er nennt sich einen Schriftsteller, ohne auch nur ein einziges Buch verfasst zu haben. Er schreibt und schreibt, füllt bergeweise weiße Blätter. Hypergraphie nennt man das. Er lässt nicht mal einen Rand. Manchmal dreht er den Bogen um und schreibt zwischen den Zeilen weiter.«

Katinka verkniff sich ein Grinsen. Für eine ordnungsliebende Frau wie Charlotte Isenstein, die ihre Zeitschriften mit dem Lineal zu stapeln schien, mochte es unerträglich sein, auf einem Blatt Papier keinen Rand zu lassen.

»Manchmal redet er so viel, wie er schreibt. Denken Sie nicht, er würde irgendwelche sinnvollen Texte produzieren. Nein. Unzusammenhängendes, wirres Zeug. In rauen Mengen.« Charlotte sprang auf, als müsse sie ihrer Erregung nachgeben, und setzte sich wieder. »Es ist fast unerträglich, mit ihm zu leben. Am schlimmsten sind die Anfälle.«

»Ich nehme an, das Haus in Königsberg ist mehr eine Zuflucht für Sie als für Ihren Mann?«, fragte Katinka.

»Wenn er dort ist, kann ich aufatmen. Ich bin mehr als zehn Stunden täglich im Geschäft, denn die Atmosphäre hier im Haus ist unberechenbar.«

Katinka nahm zum ersten Mal die vielen Fältchen um Charlotte Isensteins Augen wahr.

»Kann Ihr Mann denn alleine bleiben, dort in Königsberg?«

»Er bekommt Medikamente. Aber ich muss dafür sorgen, dass er sie nimmt. Nein, es wäre besser, er wäre nicht alleine dort. Aber ich kann manchmal einfach nicht mehr.«

»Haben Sie Kinder?«

»Zwei. Mariele und Markus. Sie sind schon erwachsen und aus dem Haus. Haben sich beide der Architektur verschrieben. Markus hat sein eigenes Büro gleich um die Ecke, an der Nonnenbrücke. Mariele studiert noch. Die beiden kommen selten in dieses Haus. Wir alle suchen den alten Ewald. Aber der ist unwiederbringlich verloren.«

»Gibt es keine Therapien?«, wollte Katinka wissen, obwohl sich die Frage in ihren Ohren falsch anhörte.

»Ich bin auf der Suche. Jeden Tag durchforste ich das Internet. Hypergraphie. Schläfenlappenepilepsie. Dostojewski-Syndrom. Noch habe ich nicht alles abgegrast.«

Katinka sah Charlotte Isenstein vor sich, wie sie sich an der Computertastatur festhielt, um nicht durchzudrehen.

»Haben Sie den Zeitungsartikel noch, in dem über den Mord berichtet wird?«

»Nein, leider nicht. Ich habe die Zeitung noch am gleichen Tag zum Altpapier gegeben.«

Katinka machte sich einen Vermerk.

»Dieser Briefschreiber behauptet, Ewald würde noch weitere Verbrechen planen«, sagte Katinka sanft. »Wir können das nicht auf sich beruhen lassen. Ich muss das der Polizei melden.«

Charlotte klappte das Kinn herunter.

»Aber – nein! Ewald hat niemanden umgebracht. Er hat seine Probleme und seine Stimmungsschwankungen, aber er ermordet niemanden.«

Katinka wollte nicht nachzählen, wie oft sie genau diesen Satz schon gehört hatte.

»Sehen Sie, Frau Isenstein«, sagte sie geduldig. »Wenn es irgendeinen Verdacht gegen Ihren Mann gäbe, Zeugenaussagen oder irgendetwas, dann wäre die Polizei bei Ihnen vorstellig geworden.«

Während sie das sagte, musste sie zugeben, dass Ewald Isenstein im Kontext des anonymen Briefes durchaus Aufmerksamkeit erregen würde. Ein Geisteskranker, der durch Aggressionsschübe auffiel und zur Tatzeit alleine in seinem Haus in der Nähe des Tatorts gewesen war. Oder am Tatort.

»Morde hinterlassen Spuren«, redete Katinka weiter. »Fasern am Körper des Opfers, an Mauern, im Gras, in der Erde. Haare, Blut oder Hautpartikel, von denen eine DNA-Probe genommen werden kann. Wenn Spuren da sind, dann können die Ermittler Ihren Mann sofort ausschließen.« Wenn er es nicht doch war, fügte sie im Stillen hinzu.

Charlotte Isenstein starrte düster auf die Tischplatte vor sich. Katinka griff endlich zu ihrem Glas und trank einen Schluck. Der Saft war warm geworden und schmeckte klebrig.

»Ich möchte wissen«, sagte Charlotte so leise, dass Katinka sich konzentrieren musste, um alles mitzukriegen, »wer diesen elenden Brief geschrieben hat. Ich bitte Sie, nur das herauszufinden.«

Katinka leckte sich die süßen Saftreste von den Lippen.

»Auch hier hat die Polizei bessere Möglichkeiten. Sie können einen Handschriftenkundler dazubestellen.«

»Himmelherrgott!«, fuhr Charlotte auf. »Wollen Sie kein Geschäft machen? Nehmen Sie den Auftrag an oder nicht!«

Katinka hätte am liebsten laut gelacht. Dies hier war kein Geschäft, und sie musste den Brief der Polizei zeigen, sobald sie mit dem Kuvert im Rucksack aus diesem Haus verschwunden war. Am liebsten hätte sie »nein« gesagt. Aber dann öffnete sich ihr Mund ganz von selbst und nannte einen um dreißig Prozent erhöhten Tagessatz. Charlotte Isenstein ging hinaus und kam kurz darauf mit mehreren grünen Scheinen in der Hand zurück. Katinka zog ihren Quittungsblock aus dem Rucksack, trug den Betrag ein und unterschrieb. Sie würde die Summe zurückzahlen müssen. Es kam nicht in Frage, dass sie den Fall bearbeitete. Charlotte intervenierte nicht, als Katinka schließlich den anonymen Brief in einer Plastiktüte verstaute und einpackte.

»Ich melde mich bei Ihnen, Frau Isenstein. Sollte wieder ein Brief kommen, dann rufen Sie mich sofort an.« Sie legte mit einigen Minderwertigkeitsgefühlen ihre Visitenkarte auf den Tisch. Sie war nicht einmal halb so teuer wie Charlottes.

»Wiedersehen«, sagte Charlotte Isenstein an der Haustür. Sie zögerte einen Augenblick, sah Katinka schließlich offen an und sagte:

»Wissen Sie, was das Schlimmste ist?«

Katinka schüttelte den Kopf.

»Er hat keinerlei sexuelles Interesse mehr.«

3. Carla Nerius

In der Polizeidirektion brachte ein wohlgesonnener Beamter Katinka zu Hauptkommissar Uttenreuthers Büro.

»Herein«, kam es ungnädig.

Der Beamte grinste schief und verschwand. Katinka trat ein.

»Ach, Palfy!« Hardo stand auf und kam zu ihr herüber. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Dies ist ein geschäftlicher Besuch.«

»Sie besuchen mich doch ohnehin nur aus beruflichen Gründen«, sagte er ein wenig vorwurfsvoll. Er hatte recht. Katinka traute ihren Gefühlen nicht über den Weg und vermied es in letzter Zeit, Hardo privat zu sehen, obwohl sie ihn vermisste, wenn sie sich allzu lange nicht trafen. Außerdem steckte da immer die noch Erinnerung an jene Januarnacht, in der sie ihm das Leben gerettet hatte, in ihrem Bauch und flatterte und raunte. Das Krafttraining war eine perfekte Zwischenlösung: Sie sahen sich, aber nicht allein.

»Ich brauche eine Information über einen Unfall in Königsberg.«

Hardo zog ein Gesicht.

»Der Verbindungsbeamte für Russland hat schon Feierabend.«

»Für Königsberg in Bayern.«

»Dafür sind wir nicht zuständig.«

»Aber Sie kennen doch sicher einen Kollegen, oder?«

Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich. Welcher Unfall? Stecken Sie in Schwierigkeiten?« Sein massiger Körper sank auf den Bürostuhl.

»Nicht jedes Mal, wenn ich zu Ihnen komme, klebt mir Morast an den Fersen.«

»Nein«, bestätigte Hardo. »Das Verhältnis liegt in etwa bei fünfzig zu fünfzig. Entweder gibt’s Ärger, oder Sie brauchen Informationen, an die Sie anders nicht herankommen.«

Katinka seufzte. Es hatte keinen Sinn, ihm weiter aus dem Weg zu gehen. Ich bin unehrlich, schoss es ihr durch den Kopf. Ich denke nicht an die Nacht, in der er angeschossen wurde. Sondern an die vorherige. Daran, wie wir in der Hütte eingeschneit waren und Hardo die Notbremse zog, bevor wir eine Affäre beginnen konnten. Sie blickte auf. Der Kommissar sah sie so durchdringend an wie immer: Wie Scheinwerfer leuchteten seine grauen Augen ihre Gedanken aus.

Katinka berichtete von dem Unfall in Königsberg. Sie erwähnte weder den Namen Isenstein noch den anonymen Brief. Ohne nachzufragen, warum sie sich dafür interessierte, griff Hardo zum Telefonhörer und wählte. Sie lauschte seiner tiefen, rauen Stimme, die stets ruppig und ein wenig unhöflich klang. Ein paar knappe Hms und Ahas, dann legte er auf und sagte:

»O.k., Katinka. Bisher ist der Fall ungeklärt. Selbstmord, Unfall, oder Mord, alles ist drin.«

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit der Kollegin aus Haßfurt.«

»Kollegin?«

Er grinste schief.

»Also. Die Leiche wurde gegen neun Uhr abends von drei Jugendlichen entdeckt, die in der warmen Frühlingsnacht ein stilles Plätzchen im Burggraben suchten, um sich mit Bier abzufüllen. Die Tote ist von der Holzbrücke in den Burggraben gestürzt. Sie schlug unten mit dem Kopf auf einer Mauer auf. Dabei brach sie sich das Genick.«

»Kann sie von selbst dort hinuntergestürzt sein?«

»Es sind keine eindeutigen Hinweise gefunden wurden.« Hardo furchte die Stirn. »Keine Faserspuren an der Kleidung, keine Hautpartikel unter den Fingernägeln oder andere Anzeichen für einen Kampf. Kein Alkohol, keine Drogen.«

»Es würde also nichts dagegen sprechen, dass die junge Frau sich selbst in den Tod stürzte?«

»Genauso logisch wie ein Unfall.«

»Gibt es einen Abschiedsbrief?«

»Es wurde keiner gefunden. Aber das spricht nicht unbedingt gegen Selbstmord.«, sagte Hardo. »Es macht ihn nur ein paar Grade unwahrscheinlicher.«

Katinka rieb sich gedankenverloren die Nase.

»Wie alt war die Frau?«

»Genau ein halbes Jahr nach ihrem achtzehnten Geburtstag ist sie gestorben. Und jetzt verraten Sie mir, weshalb Sie sich für diese Geschichte interessieren.«

»O.k. Aber Sie verraten mir den Namen der Toten.«

Hardo zog die Augenbrauen zusammen. »Beatrix Hanf.«

»Wohnhaft in Königsberg?«

Er ging nicht drauf ein.

»Ich höre.«

Katinka leckte sich die Lippen.

»Gut. Es geht um einen neuen Fall.«

»Ach was.«

»Endlich mal keine langweiligen Betrügereien, Unterhaltsgeschichten oder Eheprobleme.«

Hardo legte seine großen Hände auf den Tisch.

»Bevor etwas anbrennt, sagen Sie mir Bescheid, ja?«

Katinka lächelte. Seine Sorge stand so deutlich auf seinem Gesicht, als trüge sie eine scharfe Handgranate in der Hosentasche.

»Keine Angst.«

»Wie geht’s Tom?«

Etwas Heißes schoss durch Katinkas Magen. Sie hatte den bevorstehenden Besuch verdrängt.

»Er wird gerade am Bahnhof sein.«

»Wollte er Sie nicht dabeihaben?«

»Nein. Ehrlich gesagt bin ich froh drum.« Sie mochte nicht zugeben, wie sehr sie sich vor dem Zusammentreffen mit Carla Nerius fürchtete.

Hardo nickte langsam. Er stand auf.

»Wenn Sie mich brauchen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden.«

»Am Handy«, lächelte Katinka, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Wenn nicht gerade der Akku leer ist oder der Herr Hauptkommissar das Telefon ausgeschaltet hat.«

»Lästermaul!« Er kam um den Schreibtisch und küsste sie auf die Wange. »Passen Sie auf Ihren Liebsten auf.«

Er brachte sie zum Eingang hinunter. Ich sollte ihm wirklich von dem Brief erzählen, dachte sie.

Katinka radelte in die Hasengasse, schrieb ins Reine, was sie sich notiert hatte und beobachtete die Zeiger der Uhr bei ihrer Wanderschaft über das Zifferblatt. Ihr Herz klopfte herausfordernd gegen ihre Rippen, und in ihrem Bauch spielten Urzeittiere kesse Schattenspiele. Mochten andere Frauen das Schicksal beklagen, welches ihnen eine ungenießbare Schwiegermutter vorgesetzt hatte – für Katinka Palfy hatte der große Plan zwei von der Sorte vorgesehen. Sie seufzte und wischte ihre schweißnassen Hände auf der Sitzfläche ihres Stuhls ab. Um halb neun packte sie ihre Sachen zusammen. Das erste Zusammentreffen von Mutter und Sohn hatte seine Intimität gehabt. Nun würde sie sehen, was sie beitragen konnte.

Carla Nerius saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa und hielt ein Glas Bier in der Hand. Katinkas Mund fühlte sich trocken an, als sie neben Tom ins Zimmer kam.

»Darf ich vorstellen?«, sagte Tom und legte Katinka den Arm um die Schulter. »Das ist Katinka. Meine Frau.«

Luitpold