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Michael Reh

Katharsis

Drama einer Familie

Roman




Reh, Michael : Katharsis. Drama einer Familie. Hamburg, acabus Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-747-3

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-746-6

Print: ISBN 978-3-86282-745-9

Lektorat: Lea Oussalah, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Coverfoto: Milan Bettermann

Covergestaltung: Hushang Omidizadeh & Michael Reh

Rückcover & Autorenfoto: Tony Sargent

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de




Take your broken heart and make it into art

– Carrie Fisher

Prolog

Es war zu kalt für die Jahreszeit, zu kalt für den 11. Juni. Der Himmel war so bleiern wie der Geschmack auf seiner Zunge. Er stand in dem Zimmer unter dem Dach des roten Hauses, in dem er aufgewachsen war und hielt eine Kopie des Briefes in der Hand. Er kannte ihn auswendig, so oft hatte er ihn in den letzten Tagen gelesen.

Es war so weit. Er zog das weiße Hemd an, wickelte die Eisenstange in seine graue Windjacke und legte den Brief in eine alte Zigarrenschachtel, die er in das Versteck hinter die Wandverkleidung aus Eichenimitat packte. Leise ging er die Treppen herunter und verschloss vorsichtig die Haustür. Kein Mensch war auf der Straße. Die Luft stand, alles schien in Watte gepackt. Rasch ging er die paar Schritte ins Dorf.

Neben der Brücke lag gleich das alte Haus des Arztes, der ihn damals wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus geschickt hatte. Aber da war noch etwas anderes, das hatte er genau gespürt. »Sie werden dir nur ein paar Fragen stellen und ich werde mitkommen«, hatte seine Mutter gesagt. Aber dann war sie im Vorzimmer sitzen geblieben und er musste mit dem Arzt, der graue Haare und gelbe Fingernägel hatte und nach Eukalyptusbonbons roch, alleine in das Behandlungszimmer.

Der Arzt drückte auf seinem Bauch herum, um zu sehen, wie entzündet der Blinddarm war, und stellte furchtbare Fragen, die er nicht verstand. Er schämte sich, aber die Wut, dass seine Mutter ihn alleine gelassen hatte, war größer als die Scham und hatte ihn seit diesem Tag nie ganz verlassen.

Wie eine alte Freundin war die Wut seitdem immer für ihn da gewesen. Manchmal konnte er sie nicht kontrollieren, weil sie stärker war als er, aber er mochte sie. Jetzt meldete sie sich mit aller Kraft.

Das Dorf hatte sich in den letzten Jahren verändert. Früher hatte er viele Leute gekannt, die meisten hatten ihm freundlich zugelächelt und ihm durch die Locken gestrichen. Er war ein ganz außergewöhnlicher Junge gewesen und nie allein.

Jetzt ging er an diesem grauen Frühsommerabend durchs Dorf, die Geschäfte hatten schon geschlossen, denn ab 18 Uhr kaufte hier keiner mehr ein. Ein paar der alten Häuser aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg standen noch. Sie waren die Zeugen eines Dorfes, dessen bessere Zeiten schon lange vorbei waren. Man hatte viele der alten Gebäude während des Baubooms der siebziger Jahre abgerissen und durch hässliche Betonklötze ersetzt.

Er erinnerte sich an ein altes Fachwerkhaus mit Biergarten an der Hauptkreuzung des Dorfes. Als er ein kleiner Junge war, hatte eine junge Sängerin dort einen Auftritt, mit einem Anti-Drogen-Lied, das zum Riesenhit wurde.

Es erschien ihm, als ob die große Welt ins Dorf gekommen wäre. Sie hatten gewartet und ein Autogramm von der rothaarigen Sängerin mit dem Mittelscheitel bekommen. Sie hatte ihn gedrückt, ihm gesagt, was für ein hübscher Junge er sei. Sie kam ihm so erwachsen vor und war doch selbst noch fast ein Mädchen, gerade mal 15 geworden. Zwei Monate später hatte man das Gebäude plattgewalzt. Die Sängerin trat heute manchmal in den alten Hit-Revivalshows der siebziger Jahre im Fernsehen auf.

Er hatte sie neulich gesehen. Sie hatte noch den Mittelscheitel, war jetzt wohl Anfang fünfzig und sang immer noch das Lied des Jungen, der stirbt.

Der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war.

Er ging die Hauptstraße weiter Richtung Kirche, vorbei am Telefunkenhändler, dem Spielwarengeschäft, dem Zeitungsgeschäft und der Kneipe, in der sich sein Vater regelmäßig betrank.

Er sah das Haus auf der anderen Straßenseite. Seelenlos, grau gestrichen und mit einem asphaltierten großen Hof, an den vier Garagen grenzten. Auf der rechten Seite war eine zwei Meter hohe Betonwand, auf der linken Seite begrenzten der Schulhof und das Gebäude der ehemaligen Sonderschule das Grundstück. Das angrenzende Hinterhaus war seit Jahren unbewohnt.

Er ging durch die vergitterte Hoftür, die nie verschlossen war, bog nach links ab und öffnete die Haustür.

Der Fleischer wohnte seit über dreißig Jahren im Haus und darüber, im ersten Stock, wohnten die beiden. Die Angst legte sich wie ein eisiger Ring um seinen Hals, kleine Schweißperlen bildeten sich auf seinem Gesicht, doch er nahm sie nicht wahr. »Es muss Schluss sein«, dachte er, »ein für alle Mal.« Die Wut war stärker als die Furcht.

Seine Hand zitterte leicht, als er die Haustür öffnete, und er hatte Angst, sich erbrechen zu müssen. Er nahm all seinen Mut zusammen und ging die Treppe zum ersten Stock hinauf, schlug ohne zu zögern mit dem großen Eisenhaken, den er vor Jahren auf den alten Gleisen gefunden hatte, den verglasten Teil der Wohnungstür auf.

Jetzt hörte er einen Schrei und sah die alte Frau mit Lockenwicklern aus dem Bad kommen. Als sie ihn sah, lachte sie, dann wurde sie wütend. Im Hintergrund lief der Fernseher.

Sie glich einer kläffenden, bösen Hündin, die ihn anschrie, bespuckte und versuchte, ihn mit Fußtritten an die Tür zu drängen. Sie war, das wusste er, 78 Jahre alt, doch der Hass und die Wut gaben ihr eine dämonische Kraft.

Er drängte sie mit aller Macht durch die Wohnküche in Richtung Badezimmer. Sie stieß mit dem Becken gegen den Küchentisch und eine Handvoll CDs flog auf den Boden. Der altersschwache Computer wackelte bedrohlich.

»Seltsam, dass sie einen Computer hat, in ihrem Alter«, dachte er. Nur ein flüchtiger Gedanke, der sein Unterbewusstsein streifte wie der Flügel eines Vogels.

Als sie die drei Stufen rückwärts in das tiefergelegene Badezimmer stolperte, schien ihr klar zu sein, was er vorhatte. Sie fiel hin und stürzte gegen den Rand der alten Badewanne. Mit einem Schlag holte er aus und die Wucht der Eisenstange spaltete ihren alten Schädel. Sofort waren die Lockenwickler und die blauen Kacheln voller Blut. Ihre Augen blickten ihn entsetzt an und erloschen.

Den alten Mann hinter ihm hatte er nicht gleich bemerkt. »Was machst du denn da, bist du verrückt worden?«, krächzte der Greis.

Ohne zu zögern drehte er sich um und hieb die Eisenstange mit voller Wucht gegen den Hals des alten Mannes. Mit einem unangenehm klingenden Knacken brachen die Halswirbel. Der Alte röchelte kurz und sank an dem Einbauschrank des Badezimmers in sich zusammen.

»So ist es gut«, sagte er zu sich selbst. Dann wusch er das Blut von der Eisenstange, verließ das Badezimmer und ging durch die Küche in den Flur. Der Fernseher im Wohnzimmer plärrte immer noch vor sich hin. Ohne zu zögern griff er zu dem altmodischen Telefon. Festanschluss! Erneut ein Gedanke wie ein Vogelflügel, so zart, so leicht und schon wieder vorbei. Er wählte 110 und sagte der Frau, die sich meldete, dass in der Hauptstraße 66 ein Mord begangen worden war und er auf sie warten würde. Er blieb ruhig auf dem Sofa sitzen, die Polizei würde bald eintreffen.

Der Ring aus Angst und Wut um seinen Hals, ein Leben lang gefühlt, lockerte sich. Endlich!

Er sah aus dem Fenster. Zum ersten Mal, seitdem die beiden den Bann um ihn und seine Sinne gelegt hatten, konnte er die Welt wieder klar wahrnehmen.

Er öffnete das Küchenfenster, das auf den betonierten Hof hinausging. Die Schwüle hatte abgenommen und ein frischer Luftzug strömte ihm entgegen. Gierig sog er ihn auf.

Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge kamen näher.

1

Freitagnachmittag in Psychopolis

Freitag, der 11. Juni, schien ein Tag wie viele andere im Leben von Max Remark. Aber es war der Freitag, an dem sich alles ändern sollte.

Er erwachte aus dem Delirium der letzten Drogennacht mit einem zentnerschweren Kopf und einer ebenso schweren Zunge. Eine Handvoll Aspirin, literweise Espresso und viel Zucker halfen ihm meist über die erste Depression hinweg. So auch an diesem Morgen. Es gehörte zum guten Ton, sich koksend die Nächte um die Ohren zu schlagen, ohne an den Morgen danach zu denken. Zumindest in seiner Welt.

Alle taten es und in der Modeszene kamen die Dealer ins Studio, man musste keine Drogen auf der Straße kaufen oder sich in irgendwelchen dunklen Ecken schlechtes Zeug andrehen lassen. Jeder zog seine Lines, ohne sich um Geheimniskrämerei zu scheren. Irgendwann erwischte es im Laufe der Zeit jeden und obwohl Max über die Jahre viele Talente vor die Hunde gehen sah, zog es ihn immer wieder in den Strudel des anfänglichen Verzückens, des hemmungslosen Sex und der Gier nach mehr.

Ab einem gewissen Moment machten ihn die ständig gezogenen Lines zwar völlig verrückt, aber Pillen, Alkohol und ein dicker Joint holten ihn runter und irgendwann ebbte der Rausch und später auch die Depression ab. Es war alles eine Frage der Zeit.

Irgendjemand hatte ihm vor ein paar Jahren Koks auf einer Party angeboten. Zuerst nahm er die Droge nur ab und zu. Dann jedes Wochenende, kurz darauf hatte er ein, zwei oder drei Nummern von Dealern. Sein Dealer fuhr einen Porsche.

Er ließ sich immer wieder verführen, so wie all die anderen funktionierenden und nicht funktionierenden Junkies in New York. Diesem großen, wurmstichigen Apfel, der schon lange an keinem Ast mehr Halt gefunden hatte und am Boden liegend vor sich hin rottete.

Max lebte seit fast zwanzig Jahren in New York, jenem Apfel, den Eva angeblich Adam hingehalten hatte und den dieser voller Zorn auf den Boden hätte schmeißen sollen. Aber der Dummkopf nahm erst einen Bissen, ließ ihn fallen und schickte dann die Menschheit in das faulende Verderben.

Max und seine Freunde waren der festen Überzeugung, dass der Cocktail aus Uppers und Downers, schnellem Sex, Diätpillen, ADS-Syndromen, fettfreien Diäten, Botox und Cosmopolitans ungefährlich sei, dazu noch chic und ewig dauernd. Der Drahtseilakt namens New York Life forderte ständige Bereitschaft.

Der Tod ist ein langsamer Tänzer und Max stürzte sich ins Leben, aus Angst, etwas zu verpassen, oder, was viel schlimmer gewesen wäre, nicht mehr hip zu sein. Denn das wäre der wahre Tod eines jeden Bewohners von Manhattan.

Träume hatte er keine, die Suche nach Liebe abgeschlossen. Liebe war nur eine Erfindung der Literaten und von Hollywood, denn die machten Geld damit.

Mit Mitte zwanzig war Max von Paris nach New York gezogen, hoffnungsvoll seinem neuen Leben entgegen, unwissend um die Ereignisse, die in seiner Vergangenheit stattgefunden hatten. Er hatte seine Vergangenheit so erfolgreich verdrängt, dass sie keine Chance hatte, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen und sich ihm zu offenbaren.

Er wurde Fotograf, war talentiert, hatte ein gutes Auge für die Schönheit der anderen. Er war erfolgreich, die Modeszene mochte seinen Blick auf die Dinge des Lebens. Und obwohl er oft erst mittags wieder nüchtern war und den Kopf nicht mehr zwischen den Schenkeln irgendeiner Unbekannten hatte, verzieh man es ihm. Meistens.

Kreative dürfen, ja müssen anders sein als der Rest der Welt. Zauberkinder, Wunderkinder, Exoten. Zumindest solange sie das gewünschte Ergebnis erzielen und gut verkaufen. Geht der Verkauf zurück, heißt es: »Hasta la vista, Baby«, und eine ganze Armee von Nachfolgern steht auf der Matte, um einen ins Tal der Versenkung zu stoßen. Von da gibt es keinen Aufstieg mehr, außer man inszenierte seine Auf- und Abstiege so gekonnt wie Cher.

Ständig tanzten am Set zehn hysterische Menschen um Max herum: Stylisten, Artdirektoren, Assistenten, Assistenten von Assistenten, Make-up- und Hairstylisten und Redakteure, meist weiblichen Geschlechts, die offensichtlich seit Jahrhunderten keinen Sex mit einem anderen Menschen hatten und dies nicht unbedingt freiwillig. »Mal baisé«, wie der Franzose sagt, denn kein Sex bedeutet eben auf Dauer bei den meisten Warmblütern auch schlechte Laune.

Max hingegen hatte so viel Sex, dass er ihm schon fast aus den Ohren wieder herauskam. Machte ein Teil von ihm aufgrund der Kokserei mal schlapp, nahm er die Wunderwaffe gegen Impotenz: kleine blaue Pillen zu zwei Dollar das Stück, aus dem Internet frei Haus geliefert.

Nach jeder durchgemachten Nacht versprach er sich hoch und heilig: »Never again«, und war doch am Nachmittag wieder bereit für die nächste Rutschpartie ins vermeintliche Glück. Er hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt und machte sein Ding, egal ob high oder nicht, irgendwie kam immer etwas dabei heraus.

Der Heroinchic entstand nicht ohne Grund. Dass so viele Mädchen auf der Welt magersüchtig wurden, weil sie aussehen wollten wie Models, war nicht sein Problem. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Manche Models rauchten, schnupften oder spritzten Heroin in die Bikinizone, denn da sah man die Einstiche nicht. Kippten sie um, nahmen sie einfach eine Nase und bis fünf war alles im Kasten. Die Kasse stimmte.

An diesem Freitagabend war eine große Party in einem angesagten Club und Max wollte seinen besten Freund Jean-Marie dort treffen, den er seit zwanzig Jahren kannte. Es war ihnen egal, mit wem sie die Nacht verbrachten und Jean-Marie schlief mit allem, was zwei Beine hatte. Sex war wie Fahren auf der Autobahn. Es hing ganz davon ab, wie high sie waren, das Leben glich einem gezielten Drauflosfahren auf die Leitplanke. Volles Rohr drauf los und Whamm! Sex war Leben und Tod zugleich.

Jean-Marie, von allen nur JM genannt, konnte seit einigen Tagen sein Gesicht nicht mehr richtig bewegen – zu viel Botox. Er fand, er sah gut aus, mindestens fünf Jahre jünger, und wollte dies auch von jedem bestätigt wissen. Irgendwie war er immer noch der kleine Klosterschüler aus einem Pyrenäendorf in Saint-Marie. Sein Kommunionsbild mit den gefalteten Händen und der strahlenden Haut hing in Lebensgröße auf dem Gästeklo seines Penthouses in Chelsea.

JM war süchtig nach allem, was das Leben bot: Geld, Erfolg, Liebe, Essen, Sex, Alkohol, Macht, Klamotten, Koks, egal. Hauptsache, er bekam einen Kick und musste nicht daran denken, dass er als 16-Jähriger seine Schwester mit einem geklauten Jaguar gegen eine Wand im Pyrenäendorf gefahren hatte. Sie war sofort tot und er kotzte jedes Mal, wenn er während einer Panikattacke daran dachte. Silvester wollte er traditionsgemäß vom Dach seines Penthauses springen. Keine Therapien der Welt halfen ihm, mit beiden Beinen auf dem sumpfigen Boden Manhattans zu bleiben.

Egal ob Buddhismus, Hinduismus, Bagwhan, ja selbst Kabbala: Nichts hielt ihn mehr als drei Wochen in seinem Bann. Er stand morgens auf, nahm seine Schlankheitspillen, ging ins Fitnessstudio, hatte den ersten Sex des Tages im Dampfbad, ging danach zur Arbeit, hatte den ersten Cocktail um 16 Uhr, die erste Nase um 17 Uhr und dann auf zur nächsten Party, Max im Schlepptau.

Weder sein Therapeut, ein gelehrter Mann mit Buchveröffentlichungen, einer großen Nase und einem noch größeren Konto, noch sein Psychologe, der ihm immer wieder gerne die neuesten Pillen verschrieb, konnten ihm weiterhelfen. Aber sie verdienten über die Jahre nicht schlecht an ihm und gaben ihm zumindest das Gefühl, dass er etwas für sich tun würde und dabei nichts, aber auch gar nichts, unversucht ließ.

JM fickte alles, was zwei Beine hatte, oder auch nur eins. »Egal, mon cher, Fick ist Fick«, liebte er zu sagen. Diese Einstellung entsprach nicht unbedingt seiner katholischen Erziehung, aber er hatte in den letzten zwei Jahrzehnten auch nicht mehr in das Innere einer Kirche gesehen.

Auch Max war nach katholischen Grundsätzen erzogen worden, war Ministrant im Zirkus seiner Gemeinde gewesen, ganz zu schweigen vom Kirchenchor und der Jugendgemeinschaft. Damit gab es einen Schnittpunkt in der Vergangenheit der Freunde, die sie aneinanderkettete wie Klebstoff. Sie hatten früh gelernt, in einer heuchlerischen Welt anderen gegenüber die Wahrheit mit charmanten und intelligenten Lügen zu verheimlichen. Sie waren Meister in diesem Verfahren. Wären es die Siebziger gewesen, sie hätten mit Halston, Warhol und Bianca Jagger die Nächte im Studio 54 zur Legende werden lassen.

Denn nur darum ging es im American Dream: Sichtbar zu sein in der Masse der Anonymität, seine 15 Minuten Anteil am Ruhm zu haben, an den sich dann so viele verzweifelt klammerten, ohne wissen zu wollen, dass es nur 15 Minuten waren und nicht mehr. Aus, Schluss, der Nächste bitte! Gesehen werden! Darum ging es, das digitale Zeitalter verstärkte diesen Drang in fast jedem. Und genau das konnte Max. Sehen! Wenn es um andere ging.

Die Zeiten hatten sich geändert. Langjähriger Ruhm war nur noch eine Idee der Vergangenheit, denn alle wollten Action und bitte jeden Tag etwas Neues und Anderes. Instagram und Snapchat regierten die Welt.

Das Studio 54 hatte in den Siebzigern nach nur zwei Jahren die Pforten schließen müssen. Zuviel Sex, Drugs und Rock’n’Roll.

Nicht zu viel für die, die bei der Party dabei gewesen waren und noch lebten und nicht von AIDS oder einer kaputten Leber dahingerafft worden waren. Eher zu viel für die Hüter der Moral und die Sittenwächter der New Yorker Gesellschaft und derer gab es viele. Sie träumten von all den Dingen, die dort in den heiligen Hallen vor sich gingen. Aus Angst, es selbst mit Polizisten treiben zu müssen oder Kerzennummern durchzustehen, oder erst gar nicht – und das wäre das Schlimmste gewesen – in die heiligen Hallen eingelassen zu werden, riefen sie nach Panzern und Bataillonen, um Tugend und Anstand zu bewahren. Erst zwanzig Jahre später hatten es Bush Junior und Bürgermeister Guiliani geschafft, aus New York ein Disney-Land zu machen. Und das war es bis heute. Spiele fürs Volk. Schall und Rauch! Wenn auch nur nach außen hin.

Alice im Wunderland, in dem man die Wunder suchen musste.

Max stand an der stinkenden, dampfenden Ecke der Sixth Avenue und 48. Straße, Avenue of the Americas getauft. Er konnte nicht auf die Hamptons fahren, dorthin, wo jeder New Yorker, der es sich leisten konnte, am Wochenende verschwindet, um dann nach vier Stunden quälender Fahrt von 120 Kilometern die gleichen Gesichter wie in Manhattan zu sehen.

Er hatte am Sonntag ein Shooting, das er nicht verschieben konnte. Das Model, eine aparte Schönheit, war nicht nur berühmt für ihren Body und ihre Divenhaftigkeit, sondern auch dafür, handgreiflich zu werden und somit permanent in den Klatschspalten aufzutauchen. Bei Max hatte sie es einmal probiert, aber bevor ihn ein Schlag treffen konnte, hatte er selber zugeschlagen. Das Ganze endete in einer wilden Nummer auf dem Make-up-Tisch nach dem Shooting und seitdem ließ er sich die kleinen Tête-à-Têtes während der gemeinsamen Arbeit ungern entgehen.

Widerwillig nahm Max die U-Bahn, denn ein Taxi um diese Zeit in Manhattan zu bekommen, war unmöglich. Er schleuste sich durch das Geflecht von Menschen, Gerüchen und unzähligen Sprachen durch die Straßen hin zur Subway Nr. 9, dem Localtrain stadtabwärts, um nach Soho zu gelangen. Dort besaß er seit einigen Jahren ein Loft. Er hasste die U-Bahn, schwitzend stand er dicht gedrängt zwischen anderen schwitzenden und gestressten Menschen, die weiß der Himmel wohin mussten. Jeder wollte der Hitze der Straße entkommen und lieber einen Unterkühlungsschock in der klimatisierten U-Bahn erleiden.

Genervt war er kurze Zeit später im nicht minder überfüllten Soho, wo sich Touristenmassen aus aller Herren Länder an den Straßenhändlern, teuren Boutiquen und Künstlern, die ihre Bilder auf dem Pflaster ausstellten, vorbeiwälzten. Max wollte so schnell wie möglich in sein klimatisiertes Loft und Thierry, seinen Dealer, anrufen.

Sein Handy klingelte. Es war Carole, seine Agentin. Er fluchte, denn sie war nicht abzuwimmeln, wenn sie einmal am Apparat war. Carole war eine energische Frau, jüdisch, wie die meisten Agenten in New York. Selbst hartgesottene VIPs der Modebranche legten sich nur ungern mit ihr an, denn ihren Spitznamen der Drache hatte sie sich nicht umsonst verdient. Sie konnte alles und jeden in Grund und Boden reden und handelte dabei astronomische Gagen für Max aus.

Carole kannte alle Tricks der Branche und hatte sich selbst nach einem durch ihren immensen Drogenkonsum hervorgerufenen Bankrott wieder an die Spitze gearbeitet. Ende der achtziger Jahre hatte sie, verfolgt von einer nach Rache und Geld schreienden Schar von Gläubigern, nach Miami fliehen müssen. Die ganze Branche schien sich damals in Miami zu treffen, dort boomte es.

Carole spezialisierte sich auf europäische Kunden, riss sich am Riemen und wurde innerhalb kürzester Zeit wieder erfolgreich. Sie zahlte ihre Schulden, schmiss die Drogen ins Klo und zeigte den New Yorkern, was ein Comeback ist.

Max und Carole hatten sich während ihrer harten Anfangszeiten in Miami kennengelernt. Er mochte sie und erkannte ihr Potential. Sie verdiente im Laufe der Jahre viel Geld als seine Repräsentantin und hatte sich davon beim besten Chirurgen der Park Avenue ein Facelift machen lassen. Inzwischen war sie Mitte fünfzig, sah aber Dank der großen und kleinen Eingriffe zehn Jahre jünger aus. Einen Mann hatte sie nicht, aber das war auch gut so. Agentinnen in ihrem Alter arbeiteten besser, wenn sie kein Privatleben hatten und aufgrund mangelnder sexueller Betätigung unausgeglichen waren.

»Hallo Max, Darling, wo steckst du? Ich dachte, du wärst noch im Studio, ich muss dir unbedingt etwas erzählen …« Ohne Punkt und Komma und ohne die Absicht zu erfahren, wie es ihm ging, schnatterte sie drauf los und erzählte von Kunden, Gagen, Partys und anderen unwichtigen Dingen. Nach einigen Minuten kam sie endlich zum Grund ihres Anrufes. Max sollte am Dienstag nach Barbados fliegen, um dort eine neue Kampagne für Bloomingdales zu fotografieren. An Widerstand gegen Carole war nicht zu denken, was sie sagte, war Gesetz.

Nach zehn endlosen Minuten verabschiedete sie sich mit dem von Max abgerungenen Versprechen, am Sonntag nach der Arbeit bei ihr vorbeizukommen, um die Details für die Reise zu besprechen.

Er hatte den Eingang seines Appartementgebäudes fast erreicht und wollte schon Pablo, dem übergewichtigen puerto-ricanischen Doorman, das übliche »How are you?« entgegenrufen, da klingelte das Handy erneut. In der Annahme, es sei noch einmal Carole, nahm er ab, ohne auf das Display zu schauen.

Interessant, wie ein kleiner Moment, eine Unachtsamkeit, das Leben grundlegend verändern kann, ausgelöst durch den Druck auf eine kleine Handytaste. Über einen Satelliten im Weltall verbunden, meldete sich nicht Carole, sondern eine Stimme aus Paderborn in Westfalen: »Hallo, hier ist Marie.«

2

Die dritte Ohnmacht

Marie war drei Jahre älter als ihre Brüder.

An Selbstbewusstsein nach außen mangelte es ihr nie. Sie hatte eine große Klappe und riss diese zu allen gegebenen und unpassenden Momenten weit auf, um ihre Meinung kundzutun.

Sie fuhr auf den Motorrädern der heißesten Jungs und knutschte mit sämtlichen Liftboys der österreichischen Hotels, in denen die Geschwister die Weihnachtsferien mit den Eltern verbrachten. Jeder beneidete sie. Die Mädchen um ihre imposante Oberweite, die Frauen um ihre natürliche Lockerheit gegenüber den Männern und die Jungs um ihre Intelligenz. Die richtigen Kerle wussten, wo Marie zu finden war, auch wenn sie oft nicht bei ihr landen konnten.

Sie war eines dieser hinreißenden Vorstadtgeschöpfe, ein gewolltes Kind, gezeugt im ersten Ehejahr ihrer Eltern, Mitte der sechziger Jahre. Ihre Kindheit und Jugend inspiriert von Led Zeppelin, Dirty Dancing und dem Post-sechziger-Jahre-Feeling.

Man hätte sie damals fast als unkonventionell bezeichnen können, auch wenn sie, zum Leidwesen ihres Vaters, nicht sehr gebildet war. Er hütete sie wie seinen Augapfel, konnte aber nichts dagegen tun, dass sie sich zur Dorfdiva entwickelte. Sie behandelte ihn liebevoll und gleichzeitig kalkuliert.

Sie schmierte jedem gekonnt Honig um den Bart oder in die Betonfrisur und keiner kam auf die Idee, dass sie am Ende immer genau das bekam, was sie wollte.

Der unbekümmerte Teil des Lebens der Goldmarie ging rasch und unerwartet zu Ende. Was damals im September 1987 geschehen war, blieb ein wohlbehütetes Geheimnis. Eines von vielen dreckigen, zerstörerischen Geheimnissen, die dazu führten, dass Marie Max anrief. Er hatte seit über zwanzig Jahren nicht mit ihr gesprochen und hätte doch selbst im tiefsten Urwald ihre getrommelte Stimme unter Tausenden sofort wiedererkannt.

»Hallo, sprechen Sie Deutsch, könnte ich bitte mit Max sprechen?«, sagte die Stimme aus der Vergangenheit.

Max gab nicht der Versuchung nach, sich als seine Haushälterin oder einen anderen Dienstboten auszugeben, sondern versuchte, dem Vulkan, der in Sekundenschnelle aufloderte, Einhalt zu gebieten.

»Ja, Marie, hier ist Max«, war alles, was er herausbrachte.

»Es tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte die so vertraute Stimme, die dennoch wie aus einer Lichtjahre entfernten Sternengalaxie klang, »aber es ist etwas Furchtbares passiert.« Ihre Stimme versagte. Max’ Magen verkrampfte sich.

»Hallo Marie, bist du noch dran, was ist denn los?«, aber außer einem Schluchzen war nichts mehr zu hören.

Eine fast vergessene Wut und ein nicht gekanntes Schwindelgefühl überkamen Max. Die Heulattacken seiner Schwester hatten sich früher oft stundenlang hinzogen und zu keinem Ergebnis geführt, außer, dass Marie ihren Willen bekam.

»Marie, wenn du mir nicht sagst, warum du mich anrufst, hänge ich sofort auf«, sagte er.

»Nikolas ist wegen Mordes verhaftet worden!«, schluchzte die Stimme aus der fernen Galaxie.

Es gibt Momente, da verläuft das Leben nicht mehr linear, da gibt es kein Gestern, Heute oder Morgen. Alles ist gleichzeitig. Raum und Zeit verbinden sich zu einem einzigen großen Moment und alle alten Narben sind wieder wie frisch geschlagene, blutende Wunden. Oft kennt man solche Momente nur aus Träumen, wenn sich das Bewusstsein nicht vor der Vergangenheit schützen kann.

Max fühlte sich wie Jesus am Kreuz, gemartert, blutend mit der Dornenkrone auf dem Haupt und festgenagelt, ohne die geringste Chance, entfliehen zu können. Dieses Gefühl war so stark und übermächtig und zog ihn auf eine Bewusstseinsebene, die er dachte, längst vergessen zu haben, oder die in jahrelangem Wegdrücken durch Drogen aus seinem Gehirn weggeätzt schien.

An diesem Freitag, auf einer staubigen und überhitzten Straße in Soho auf der Insel Manhattan, inmitten Tausender Menschen, wurde er zum dritten Mal in seinem Leben ohnmächtig.

3

Der Anfang

Max’ Vater, Herrmann, wurde als jüngstes von vier Kindern geboren. Seine Mutter Magdalena war eine verarmte Adelige aus Pommern, die sich während eines Besuchs bei Verwandten im Ruhrgebiet unsterblich verliebt hatte.

Dass das Objekt ihrer Begierde kein Geld hatte, war der 18-jährigen Magdalena von Rasatz egal und somit verlor Deutschland in jenem Sommer nicht nur den ersten Weltkrieg, sondern Max’ Großmutter auch ihre Unschuld an Paul, einen Bergarbeiter, auf einer der zahlreichen Zechen in einem Kaff im Ruhrgebiet namens Schwarzhausen.

Ihre Hingabe an den stattlichen Paul Wilde hatte zur Folge, dass sie von ihrer Familie verstoßen und enterbt wurde. Letzteres fiel naturgemäß nicht weiter ins Gewicht. Der Adelsname wurde ihr entzogen und sie durfte nicht nach Pommern zurückkehren.

Schwanger mit dem ersten Sohn, Paul Wilde junior, sollte sie ihr Leben von da an bis zu ihrem Tod im Zechendorf verbringen.

Schwarzhausen war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Kaff mit 400 Seelen. Da man aber reichhaltige Braunkohlevorkommen fand, entstand im Jahr 1905 die stattliche Zeche. Ein majestätisches Bauwerk, das eher an den Buckingham Palace erinnerte als an eine Industrieanlage, wären da nicht die Fördertürme gewesen, die das Landschaftsbild beherrschten und die Macht der Ruhrkohle AG bezeugten.

Schwarzhausen, zehn Kilometer von Dortmund entfernt, jener Stadt aus Bier, Stahl und Schweiß, sollte das Zentrum von Max’ kindlichem Universum werden.

Doch zurück zu Magdalena von Rasatz, der früh geschwängerten Landpomeranze, die nun, statt sich mit Anstandsunterricht – hätte sie ihn bloß richtig verfolgt – und Französischlektionen zu verlustieren, die dreckigen Windeln ihres Erstgeborenen waschen musste.

Magdalena und Paul zogen in eine Drei-Zimmer-Wohnung in die Hauptstraße, schräg gegenüber der katholischen Kirche, die sie auch beflissen jeden Sonntag aufsuchten.

Magdalena, mit einem potenten Mann verheiratet, gebar zwei Jahre nach Pauls Geburt Zwillinge, die auf den Namen Ilse und Erich getauft wurden.

Ilse wurde zur lebenslangen Friedensstifterin der gesamten Familie, vermittelte zwischen Brüdern und Vater, Mutter und Vater, Schwiegertöchtern und Vater. »Um des lieben Friedens Willen!«, wie sie sich ausdrückte, blieb sie ein Leben lang dem Glauben der katholischen Kirche verhaftet, ohne den lieben Gott oder andere Autoritäten zu hinterfragen.

Ihr Bruder Erich, missmutig und schon als kleines Kind ständig nölend, bereitete der Familie nie viel Freude und arbeitete später für das Finanzamt.

Magdalena durchlief ihr freudloses Leben an der Seite ihres Mannes, der im wahrsten Sinne mit strenger Hand die Familie zusammenhielt. Dies machte er nur zu gerne deutlich, indem seine Faust nicht nur auf dem Tisch, sondern auch in den Gesichtern der geliebten Frau und Kinder landete. Er verbrachte sein Leben unter der Woche in den Stollen der Zeche und am Wochenende bei seinen Repräsentationspflichten in der Kirche und in der örtlichen Kneipe. Man besuchte die Verwandten in den anderen Dörfern und lebte am Leben vorbei, da man es nicht kannte.

Depressionen kamen und gingen, die Weimarer Republik hinterließ keine Spuren und Schwarzhausen schlief nach wie vor den Dornröschenschlaf.

1933 sollte sich alles ändern, wenn auch nicht für lange. Hitler kam an die Macht und 13 Jahre nach der Geburt der Zwillinge wurde Magdalena wieder schwanger. Gewollt war der Nachkömmling anfangs nicht. Ein Schicksal, das sich in der Familie über dreißig Jahre später wiederholen sollte.

Es war ein besonders heißer Sommer, Olympia hielt Berlin und Europa in Atem. Alle schwitzten, waren aber dennoch im Aufschwung und guter Hoffnung. Magdalena in der Hoffnung, bald von den überschüssigen zehn Kilo befreit zu werden, das deutsche Volk in der Hoffnung, den wirtschaftlichen Aufschwung unter der Führung Hitlers zu erleben.

Herrmann wurde am heißesten Tag des Jahres, am 18. August gegen 14 Uhr, in einer Wohnküche geboren. Magdalena überlebte die Geburt mit Hilfe der Hebamme nur knapp, verlor Unmengen Blut und machte die späte Schwangerschaft in ihrem Leben permanent dafür verantwortlich, dass sie ein paar Jahre später an Blutkrebs erkrankte, den sie jedoch überlebte.

Trotz aller widrigen Umstände verband sie eine tiefe Liebe zu ihrem neugeborenen Sohn, der hilflos und blutverschmiert in ihren Armen lag, instinktiv wissend, dass die Mutter der rettende Anker seines Lebens werden sollte.

Eine dörfliche Idylle, wäre da nicht der hauseigene Diktator gewesen. Was Paul sagte, galt ohne Widerrede und Diskussion und wer nicht parierte, bekam eins aufs Maul. Wer ihm nicht den Respekt zollte, den er glaubte zu verdienen, wurde kleingemacht oder ganz einfach aus seinem Bewusstsein verdammt.

Selbst später im hohen Alter, er war bereits über achtzig, halb blind und vegetierte seit zehn Jahren im Morgenrock auf der Couch bei Korn und Bier dahin, hatte er die Macht über seine Familie nicht verloren. Niemand wagte es, sich gegen den alten Haudegen durchzusetzen.

Niemand weinte ihm allerdings auch nur eine Träne nach, als er starb, selbst seine Gattin nach 54 Ehejahren nicht. Sie war nur froh, nicht mehr jeden Mittag um 12 Uhr das Essen auf den Tisch stellen zu müssen.

Eine Blase umgab die deutschen Dörfer in der Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Das Radio war Bindeglied zwischen den Machthabern in Berlin und den Mikrokosmen der Dörfer. Es gab Nationalsozialisten im ganzen Staat und auch genug in Schwarzhausen. Man passte sich an und der Dorfjude wurde verschleppt.

Paul Wilde junior, der Erstgeborene, war damals gerade Anfang zwanzig. Er wurde Soldat und starb auch brav im Feld fürs Vaterland. Erst später sollte Max herausfinden, dass sein seliger Onkel Paul, dessen Bild bis zum Tode der Großmutter über ihrem Sofa hing, in der SS war und auch zu Hitlers Leibgarde gehörte. Das wurde allerdings beim Sonntagskaffee verschwiegen.

Es gibt allerdings einen Beweis für seine Mitgliedschaft bei Hitlers Paradesoldaten. Für einen Film der Nazi-Diva Zarah Leander brauchte man in einer Szene fünfzig Statistinnen, die im Hintergrund einen engelsgleichen Chor mimten. Da die Leander groß und breit war, fand man keine Damen, die sich eigneten, und so wurde kurzerhand eine Gruppe von SS-Soldaten aus Berlin nach Babelsberg abkommandiert, in wallende Kostüme gesteckt, mit blonden Perücken ausgestattet und drastisch geschminkt. Noch heute kann man, wenn man genau hinsieht, Paul in der zweiten Reihe ganz rechts außen stehen sehen, während Frau Leander musikalisch verspricht, dass sie weiß, dass ganz, ja wirklich, ganz bestimmt ein Wunder geschehen wird, auch in Schwarzhausen.

Dort war das Gefühl der Ohnmacht allgegenwärtig, wenn auch den meisten nicht bewusst. Man lebte sein Leben, wehrte sich nicht und hatte höchstens Angst vor dem Nachbarn, der Informationen, die nicht regimekonform waren, weitergeben konnte. Was scherten einen die verschwundenen Juden.

Die ersten Lebensjahre von Max’ Vater waren geprägt von der engen Beziehung zur Mutter und zur älteren Schwester. Als der Krieg begann und die Nahrung knapper wurde, wurde er im Alter von fünf Jahren in ein kleines Dorf auf dem Land bei Paderborn geschickt. Kinderlandverschickung! Ein Bauernhof wurde sein neues Zuhause und sollte es für einige Jahre bleiben. Verstört von der Trennung, verschloss er sich mehr und mehr seiner gesamten Umgebung.

Er mistete Ställe aus, ging morgens fünf Kilometer zur Schule und nachmittags wieder zurück, trug Sommer und Winter kurze Hosen und schlief mit dem verhassten Knecht in einer Kammer ohne Ofen. Der Höhepunkt seines einsamen Lebens im Exil, das vier Jahre dauern sollte, war der monatliche Besuch der Mutter, die auch gleichzeitig auszog, um zu hamstern, damit die Familie daheim etwas zu essen hatte.

Einmal im Jahr kam er für kurze Zeit nach Hause. Beim letzten Besuch im Herbst 1944 nur, um mitzuerleben, wie das elterliche Haus zerbombt wurde. Von da an gab es kein Zuhause für Herrmann mehr.

Selbst dreißig Jahre später sprach er den Namen des Dorfes bei Paderborn nicht aus und nahm bereitwillig große Umwege in Kauf, um nicht an dem Ort seiner einsamen Kinderjahre vorbeifahren zu müssen.

Ein gehemmter, schüchterner Junge von elf Jahren kehrte nach Kriegsende im Sommer 1945 in sein Heimatdorf zurück, besuchte das Gymnasium und sagte zu allem Ja und Amen, aus Angst, wieder von der Familie getrennt zu werden.

4

Das Erwachen

Max wachte am Sonntag, den 13. Juni, gegen 14 Uhr auf.

Lippen wie Sandpapier, die Kehle völlig ausgetrocknet, sein Schädel brummte und für ein paar Minuten war er völlig orientierungslos. Nachdem er eine Ewigkeit an die Decke gestarrt und gewünscht hatte, sie wäre der Himmel, die Hölle oder zumindest das Fegefeuer, kehrte die Erinnerung langsam in seinen malträtierten Schädel zurück oder was noch von ihm übrig war und funktionierte.

Solche Momente widerten ihn so abgrundtief an, dass er vor lauter Selbsthass nicht wusste, ob er aus dem Fenster springen oder sich das nächste Messer im Harakiristil in den Bauch rammen sollte. Beides versprach einen zu blutigen Ausgang und so wartete er den Anfall einfach ab und schaute weiter auf den Wasserfleck an der Decke. Nach einer halben Stunde quälte er sich in die Küche des Appartements, sein Blick fiel auf leere Wodkaflaschen, Valiumtabletten und Koksreste auf der Anrichte.

Zwei Espressi und drei Zigaretten später kam die Erinnerung an die letzten 36 Stunden zurück. Nachdem er für einige Sekunden bewusstlos vor dem Flagshipstore von Ralph Lauren auf dem West Broadway zusammengebrochen war, kam Gott sei Dank Pablo, der Doorman, um ihn in die klimatisierten Hallen des Gebäudes zu schleppen.

Max hatte sich bei dem Fall die Stirn aufgeschlagen, blutete wie ein Schwein, sein Handy hatte den Fall seltsamerweise unbeschadet überlebt.

Während das Blut auf die weißen Marmorfliesen der Lobby tropfte, wusste Max nicht, ob die eventuelle Gehirnerschütterung oder seine Schwester, die immer noch am Telefon war, Schuld an seiner Übelkeit trug. Irgendwo nahm er die Kraft her, um zu sagen, dass er sie zurückrufen würde.

Kurze Zeit später begleitete ihn JM in die Notaufnahme des Mount Sinais Hospitals. JM kannte den Arzt von diversen sexuellen Happenings und so mussten sie nur dreißig Minuten zwischen schreienden Kindern, blutenden Unfallopfern und hysterischen Eltern warten.

300 Dollar später und mit einer Klammer auf der Platzwunde trafen Max und JM Thierry, den Schneemann mit dem weißen Pulver, an der Ecke 61. Straße und 10th Avenue. So begann eine Rutschpartie, die fast dreißig Stunden dauern sollte.

Max hatte die letzten zwei Stunden seines Lebens schon vergessen, noch bevor er sich kurz darauf mit JM die erste Line in die Nase zog. Danach war alles egal und die beiden Freunde putschten sich gegenseitig mit viel Wodka und einigen bezahlbaren Escorts zu den Limits ihres heiligen Grals hinauf.

Die Klammer in der Stirn wurde unwichtig, die Damen wurden erst am Samstagmorgen entlassen. An Schlaf war nicht zu denken, Thierry stand 45 Minuten nach einem Anruf erneut vor der Tür und sie machten da weiter, wo sie angefangen hatten. Neue Escorts waren schnell gerufen, Viagra war immer zur Hand. Jedes Gefühl wurde rigoros weggeschnupft.

Irgendwann am frühen Sonntagmorgen schaffte Max es, völlig high in ein Taxi zu fallen, das ihn nach Hause fuhr.

Vier Schlaftabletten der starken Sorte und zwei Valiumtabletten halfen ihm für einige Stunden, das Bewusstsein zu verlieren, und so stand er am Nachmittag mit der Klammer im Kopf und dem Eisring um sein Herz in seinem Soho-Loft und alles war mit noch stärkerer Macht und ohne Kompromiss zurückgekehrt: Nikolas saß in Dortmund in Untersuchungshaft, angeklagt wegen zweifachen Mordes.

Max bemerkte, dass er seine Schwester noch nicht einmal gefragt hatte, wen sein Bruder getötet hatte. Warum hatte er nichts gemerkt, gespürt? War das Band zwischen ihnen nicht mehr existent?

Mit Zwillingen ist das so eine Sache, besonders bei eineiigen. Nikolas und Max waren unzertrennlich in den ersten Jahren ihres Lebens und auch später, nachdem Nikolas dann schwierig wurde und sich zurückzog, spürte Max doch immer, wenn mit seinem Bruder etwas nicht stimmte.

Wie alle anderen in der Familie nahm Max irgendwann hin, dass Nikolas seltsam war, kaum sprach, anscheinend autistische Züge angenommen hatte. Er nahm es hin, wie man Wolken am Himmel hinnehmen muss, an einem Tag, der wolkenfrei bleiben soll. Es war eben so.

5

Der Anfang – zweiter Teil

Tibor Remark war ein schöner Mann.

Er kam von Ungarn über Umwege ins Ruhrgebiet, fand Arbeit beim Bergbau und ließ sich in Schwarzhausen nieder. Ein wahrer Till Eulenspiegel. Er erzählte harmlose Lügengeschichten, dass sich die Balken bogen, feierte, bis die Kühe nach Hause kamen, küsste mehr als eine Frau in seinem Leben und war im ganzen Dorf beliebt.

Er heiratete im Jahre 1937 Helene Bartholomae, eine verschlossene junge Frau, die als Schneiderin arbeitete. Die erste Tochter, Anna, wurde acht Monate später geboren. Das Kind wurde vom Vater zärtlich geliebt, von der Mutter eifersüchtig beäugt und verbrachte die ersten Lebensjahre glücklich in dem kleinen Hause nahe dem dörflichen Park.

Kinderfotos zeigen ein schlankes Mädchen mit dünnen Zöpfen und grünen Augen, das ständig auf dem Schoß des Vaters zu finden war. Er war ihr Held, Anna spürte, dass die Verbindung zum Vater etwas ganz Besonderes war, genauso wie ihr späterer Mann Herrmann am anderen Ende des Dorfes die Einigkeit mit seiner Mutter Magdalena pflegte.

Anna bekam zwei weitere Geschwister, Knut und Marianne. Als der Stammhalter drei Jahre nach ihrer Geburt der Stolz der Familie wurde, buhlte sie noch um die Gunst der Mutter. Aber die Geburt ihrer Schwester, dem Nesthäkchen der Familie, bedeutete das Ende der emotionalen Verbindung zu Helene.

Anna konzentrierte sich nun auf ihren geliebten und lustigen Vater, wurde nur dann lebendig, wenn er in ihrer Nähe war, und befolgte die Anweisungen der Mutter lautlos, deren Liebe sie nicht zu verdienen schien.

Als sie zwölf Jahre alt war, wurde sie zum Hüter ihrer jüngeren Geschwister, der Vater hatte einen schweren Unfall. Bei der Arbeit in der Grube fielen Eisenstangen auf seine Beine, er musste für sechs Monate ins Krankenhaus und brauchte fast zwei Jahre, um wieder laufen zu können.

Helene musste in diesen harten Nachkriegsjahren für ihre Mutter, ihren Mann und ihre drei Kinder sorgen und nahm den verhassten Beruf als Schneiderin wieder auf. Sie schneiderte sich tagsüber durch die Nachbarschaft und fuhr abends mit dem Fahrrad in das acht Kilometer entfernte Krankenhaus. Um ihr Leben aushalten zu können, vereiste sie innerlich und taute in den Jahren, die noch vor ihr lagen, nie wieder ganz auf.

Anna witterte ihre Chance, der Mutter näherzukommen und versuchte, ihr alles recht zu machen. Helene registrierte es, sprach von Pflichterfüllung und Aufgaben, ganz im preußisch-deutschen Sinne.

Anna wuchs zu einer Schönheit heran. Ihr wohlgeformter Körper, die grünen Augen, das dunkelblonde Haar und die vollen Lippen zogen viele Blicke auf sich, begehrliche der männlichen Spezies und neidische von der weiblichen Fraktion. Sie verbarg ihre Unsicherheit hinter der Maske einer Frohnatur, perfekt gespielt bis zum Tode. Sie lachte, was das Zeug hielt, und blühte auf, als ihre Pubertät sich dem Ende zuneigte.

Sie hatte eine Reihe von Verehrern, blieb aber keusch. Das Ideal der fünfziger Jahre, die Ära Adenauers und der katholischen Kirche, wollte, dass eine Frau unberührt in die Ehe ging, um dann das Desaster der sexuellen Frustration ausgiebig genießen zu können.

Sie fuhr, ganz im Sinne des Schlagers der fünfziger Jahre, in den Urlaub nach Italien, wurde zum ersten Mal braun, aß Spaghetti, saß unter Palmen und flirtete mit knackigen Italienern. Gesehen werden und doch unerreichbar bleiben, so glaubte sie, sei der richtige Weg, um sich für den Mann aufzusparen, der sie ehelichen sollte.

Die zwei Wochen in Italien im Sommer 1959 hatten sie erwachsen werden lassen. Sie kam als Frau zurück ins Provinzkaff, wo sie das Netz aus Kirchenchor, Berufsschule und Nachbartratsch erbarmungslos umgab. Anna bekam einen Job als Auszubildende in der Villa Hügel in Essen und wurde Sekretärin.

Es waren die Jahre des Wirtschaftswachstums, der kollektiven Verdrängung, die Zeiten von Caterina Valente, Freddy Quinn und Peter Alexander, der Lügen, um überleben zu können, des Heimatfilms, der diese Lügen weiter bestärkte, und der Seidenstrümpfe.

Später erinnerten sich Max’ Großeltern gerne auf Familienfesten an diese Zeit, als Deutschland im Aufbruch war und erfolgreich als wachsende Wirtschaftsnation wieder im Rampenlicht stehen konnte. Als man dann noch das Wunder von Bern erlebte, Weltmeister wurde, keimte der gebrochene Nationalstolz zaghaft wieder auf.

Worin viele Deutsche wirklich Weltmeister waren, bezog sich eher auf ihre fast grandiose Fähigkeit, die jüngste Vergangenheit zu verdrängen. »Ich war es nicht, Hitler ist es gewesen« stand vielen auf der Stirn geschrieben. Man hatte ja von nichts gewusst und sich um seinen eigenen Kram geschert, ums Überleben gekämpft, als der Iwan kam, und sich gefreut, als der Ami endlich aufgeräumt hatte.

Anna, geistig unberührt von der braunen Plage ihrer frühen Kindheit, genoss ihren vermeintlich höheren sozialen Status, da sie nun täglich in der Villa Hügel arbeiten durfte, ohne zu wissen, dass sie im Hause der hitlerschen Kollaborateure tätig war.

Am Wochenende musste sie allerdings wieder in die Rolle der braven Tochter im Elternhause schlüpfen, die Hühner füttern, Treppen putzen und mit der Übermutter Helene und der entfremdeten Schwester Marianne auf den Markt gehen. Nie sonderlich interessiert, was Hausarbeit und Kochen betraf, quälte sie sich mit der Zubereitung von Frikadellen und Sauerbraten und versalzte dennoch jede noch so einfache Suppe.

Einmal im Monat gab es den Tanzabend der katholischen Kirchengemeinde, einmal im Monat konnte sie lachen, tanzen, flirten und den jungen Männern den Kopf verdrehen, wenn auch nur bis 23 Uhr. Denn dann, und darauf bestand Helene, war Zapfenstreich für unberührte junge Damen.

Von einem dieser legendären Abende im Jugendheim gab es Fotos, auf denen Anna zu sehen ist. Nie allein, der Mann auf den Fotos an ihrer Seite wechselte ständig. Lachend, hinreißend und ausgelassen, so dass selbst der katholische Pfarrer, Herr Weferdam, ein Tänzchen mit Tibors hübscher Tochter wagte.

Nur ein Foto fiel aus dem Rahmen. Aufgefordert von einem jungen Mann mit schwarzen Haaren und Übergewicht, schwebt Anna, ernst und zurückhaltend, über das lädierte Parkett. Es war das erste gemeinsame Foto von Max’ Eltern.

Der linkische Herrmann verliebte sich sofort in dieses Wundergeschöpf, das nur aus Lachen und Lebensfreude zu bestehen schien. All das, was er nie sein durfte, nie sein würde, manifestierte sich in dieser jungen Frau.

Acht Monate später gab er stolz die Verlobung mit Anna bekannt.

6

Die Entscheidung

Lange hatte Max nicht mehr an seine Mutter gedacht. Während er regungslos auf der Couch lag und darauf wartete, dass sein Kater sich verzog, stiegen immer mehr Bilder aus der Vergangenheit aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche. Längst vergessene Situationen spulten sich wie ein alter Stummfilm vor seinem geistigen Auge ab. Er sah Nikolas und sich an einem warmen sommerlichen Sonntag in der Zinkbadewanne im Garten der Großeltern fröhlich herumplantschen. Sie aßen Zuckerwatte und Aal auf der Pflaumenkirmes und lernten vom Großvater Tibor, wie man Orangen schält. Sie kuschelten mit Anna, fühlten sich geborgen, kratzten die Schüssel mit den Teigresten aus, wenn Helene einen Kuchen backte.

Jeder liebte die blonden Engelszwillinge. Egal wo sie erschienen, schien sich die Welt nur um die beiden zu drehen. Die Erinnerung an diese Bilder brannte plötzlich in seinem durchlöcherten Gehirn und Max konnte den aufsteigenden Schmerz beim Gedanken an diese verlorene Zeit kaum unterdrücken. Er spürte die tiefe Liebe zu seinem Bruder und bekam keine Luft mehr.

Trotz der Exzesse der vergangenen 36 Stunden griff er zum Telefon, um den Schneemann anzurufen. Keine Antwort.

Seine Augen brannten, während er wartete, und ihm wurde bewusst, dass er das weiße Pulver brauchte, um nicht vollends von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

Erneut wählte er die Nummer, die sich in den letzten Jahren in seinen Kopf eingebrannt hatte, setzte sich ungeduldig und schwitzend auf das Sofa. Immer wieder lief er zum Fenster und sah hinunter auf die Straße, in der Hoffnung, den weißen Porsche heranfahren zu sehen, doch nichts passierte.

Nach weiteren 15 Minuten wurde Max wütend. Warum rief dieser Scheißdealer nicht an und ließ ihn hier in der Hölle der Erinnerung schmoren? Die Minuten zogen sich wie Kaugummi, nichts konnte seine Gedanken vom Telefon und dem erlösenden Anruf trennen.

Dann, nach einer Ewigkeit, wie es schien, rief der Schneemann zurück, um zu sagen, dass er in einer halben Stunde kommen würde.