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Tobias Bachmann

Despina Jones

und die Fälle der okkulten Bibliothek

Roman

Bachmann, Tobias : Despina Jones und die Fälle der okkulten Bibliothek. Hamburg, acabus Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-780-0

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-782-4

Print: ISBN 978-3-86282-779-4

Lektorat: Lea Oussalah, Luca Deeken, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © paseven/stock.adobe.com und © okalinichenko/stock.adobe.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Inhalt

Cover

Impressum

Despina Jones und die Fälle der okkulten Bibliothek

Der Autor

Für Eric Hantsch.

Prolog

Auf den ersten Blick wirkte All Hallows by the Tower viel unscheinbarer, als die Kirche in Wirklichkeit war. Die mächtige Schneedecke, die sich wie ein Leichentuch über London ausgebreitet hatte, konnte diesen Eindruck nicht schmälern.

Rauchend stand der Mann im Schneetreiben und starrte auf den Kirchbau, der auf das siebte Jahrhundert zurückging. Inmitten der City gelegen wirkte die anglikanische Kirche wie ein Fremdkörper zwischen dem Tower of London und Tower Place, einem wahrhaft pompösen Bürokomplex mit gläsernen Fassaden. Doch hier arbeitete gerade niemand. Es war Sonntag.

»Am siebten Tage aber sollst du ruhen«, murmelte der Mann, der seinen Mantelkragen aufgestellt hatte und nun zielsicheren Schrittes auf die Kirche zuging. Die Nacht brach gerade an, und die bereits untergehende Sonne spendete nur noch wenig Licht. Dennoch haftete sich der Blick des Mannes kurzzeitig an der Infotafel fest, die man nahe der Außenfassade angebracht hatte, um die spärlichen Informationen über Gottesdienstzeiten und andere Programme der Gemeinde zu lesen. Dann trat er auf das Eingangsportal zu, öffnete es und flüchtete hinein, Schnee und Kälte hinter sich lassend.

In der Kirche brannten nur wenige Kerzen, sodass das vorhandene Licht nicht ausreichte, um die Kunstwerke zu fotografieren: den John Croke Altar etwa, der gleichsam ein Grab war, der prächtig geschnitzte Deckel des Taufbrunnens oder das sogenannte Tate Panel, ein geflügeltes Tetraptychon. All das sah man im Schein der Kerzen nur schemenhaft. Skulpturen warfen dunkle Schatten über die Bodenfliesen und schienen ihn überwältigen zu wollen.

Eine Frau, die gebetet hatte, ging an ihm vorbei auf die große Pforte zu, die in den Schnee, in die Kälte hinausführte, und nickte ihm verabschiedend zu. Nun war er völlig allein, und die gespenstische Art der Kirche drückte den Gläubigen nieder, auf den Boden. Er bekreuzigte sich und begann zu beten.

»Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, den Retter.« Es war das Magnificat, das er zitierte. Hier wurde er unterbrochen, denn er hörte plötzlich Schritte hinter sich. Die Frau von eben? Der Priester? Neugierig drehte er sich um, doch da war niemand.

»Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen«, fuhr er fort und zitierte nun das Requiem, ein Teilstück der katholischen Totenmesse. Und weil er sich sicher war, dass er sich allein in der Kirche befand, erschrak er bis aufs Mark, als mit einem Mal die Orgel zu spielen anfing. Die monotonen Töne und Disharmonien, die diese von sich gab, wirkten an diesem Ort bizarr. Ob ein Orgelschüler zu so fortgeschrittener Stunde noch Unterricht bekam?

Der Mann stand auf. Trotz all der Dissonanzen schreckte er nicht davor zurück, dem so plötzlich einsetzenden Spiel auf den Grund zu gehen. Die Orgel befand sich im hinteren Kirchenschiff, und man musste eine Treppe zu ihr hinaufgehen. Doch als er endlich bei ihr war, war sein Entsetzen groß, da niemand an ihr saß und das Instrument von selbst spielte. Er dachte an einen Mechanismus, wie bei einem Harmonium, und um sich selbst diese Erklärung zu beweisen, suchte er nach einem Knopf oder Schalthebel, mit dem man die Geräuschkulisse stoppen konnte. Was ihn zusätzlich irritierte, war, dass die von Geisterhand gespielten Melodien keine ihm vertrauten Kirchenlieder waren.

Plötzlich beendete er seine hektische Suche. Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Tür gelenkt, die sich in einer kleinen Nische neben der Orgel befand. Er wusste nicht, warum, aber die Tür zog ihn wie magisch an. Kurz bevor er sie öffnete, hörte er ein obszönes Lachen hinter sich.

»Will mir hier jemand einen Streich spielen?«, fragte er laut gegen das wütende Gekeife der Orgel und wandte sich um, sah aber wieder niemanden. Er blickte zum Altar und erkannte im Schatten eines Gegenlichtes das riesige Kreuz.

Befand sich daran nicht eine aus Holz gefertigte Jesus-Statuette? In seiner Vorstellung hatte das geschnitzte Gesicht des hölzernen Jesu etwas Grinsendes, das ihm nicht gefiel. War er es, der gelacht hatte? Dabei war er sich nicht einmal sicher, überhaupt eine Jesusfigur gesehen zu haben. Oder war es eines der geschnitzten Motive auf dem Deckel des Taufbeckens? Wie auch immer. Er könnte das später überprüfen. Stattdessen, und um dem Lärmen der wütenden Orgel zu entkommen, öffnete er die Tür. Es war der Zugang zum Glockenturm, den er soeben betreten hatte. Behäbig stieg er Stufe um Stufe eine steile Wendeltreppe empor. Als er hinter sich Schritte vernahm, drehte er sich nicht um, sondern lief immer weiter. Die letzten Male war dort auch nichts, dachte er.

Das Lärmen der Orgel ließ er bald unter sich zurück. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Schrecken, die dort oben möglicherweise auf ihn lauern mochten. Oder eine unschlagbare Aussicht über ein winterliches London.

Dennoch wurden die Schritte hinter ihm zunehmend schneller, wie er festzustellen meinte, sodass auch er sein Tempo beschleunigte. Unmittelbar stolperte er, lief aber gleichzeitig halb kriechend weiter und rappelte sich in derselben Bewegung wieder auf.

Welche Scheußlichkeiten richten den Blick auf mich?, dachte er. Sein Herz raste, und er hörte seinen eigenen keuchenden Atem.

Oben angekommen fand er sich neben einer großen Glocke wieder. Ein eindrucksvolles Eisengebilde, in dessen Inneren eine lechzende Zunge aus Metall darauf wartete, dass sich der stählerne Mantel in Bewegung setzte. Mit harten Schlägen gegen die innere Wand würde die Stahlzunge dem Eisenkorpus schmerzerfüllte Klänge entlocken.

»Verliere ich den Verstand?«, dachte der Mann laut, als seine Vorstellung vom Glockeninneren mit einem Mal wahr wurde. Ächzend setzte sich die Glocke in Bewegung, und mit einem Mal wurden die ohrenbetäubenden Schwingungen durch seine gesamte Welt getragen. Auf die Lautstärke nicht vorbereitet, drangen die zwölf Glockenschläge in seine Ohren: hämmernd, stoßend, brutal schreiend, so lange, bis er nichts mehr hören konnte außer einem schrillen Tinnitus. Er war nahezu taub, noch ehe der zwölfte Glockenschlag erklungen war.

Der Mann, der vor wenigen Minuten erst die Kirche betreten hatte, um sich an ihr zu ergötzen, begann zu schreien, konnte jedoch seine eigenen sich krampfhaft überschlagenden Schreie nicht hören. Und schließlich, als hätte er noch nicht genug, sah er, wie das Götzenbild Jesu, das vor Kurzem noch an dem Kreuz über dem Altar gehangen hatte, auf ihn zukam. Das Grinsen hatte sich zu einem Lachen gewandelt, und das Kreuz, an dem er vorhin noch fest angenagelt gewesen war, trug er nun über seine Schulter wie seinerzeit beim Marsch zur Kreuzigung.

Dumpf spürte der Mann seine Füße, als er die Stufen hinuntereilte. Fast schlitterte er, und er bemerkte den Spreißel, den er sich am Geländer durch den Handschuh hindurch tief in die Haut seiner rechten Hand rammte.

Völlig taub war er durch das Schlagen der Glocke jedoch nicht geworden. Er vernahm ein Poltern hinter sich, spürte es wohl eher, wandte sich um und erkannte das Kruzifix des hölzernen Jesu, das – sich überschlagend – die Stufen hinabdonnerte. Panisch schrie der Mann auf und hatte endlich die Tür erreicht, doch sie war verschlossen. Er lief weiter, tiefer hinab, in den unterirdischen Bereich der Kirche. In die Katakomben und geheimen Untiefen des Kirchenschiffs. Verfolgt von Jesus, wie er meinte.

Was für eine Hölle ist die Hölle?, dachte er sich, als er die Krypta erreichte, eine unterirdische Kapelle, die dem Heiligen Franz von Assisi geweiht war. Hinter einem Gitter erblickte er das benachbarte Oratorium der Heiligen Klara. Auch erkannte er die Lamp of Maintenance, ein Symbol der Frauenbewegung Toc H, wie er wusste. Er wusste so viel, aber nicht, warum sich die Lampe nun entzündete. Er begriff auch nicht, warum der hölzerne Jesus auf ihn zukam und sich grinsend seiner annahm. Er spürte Schmerzen und sah die gesunde Röte seines Blutes, das dort austrat, wo die Nägel ihn durchbohrten.

Kurz bevor er starb, machte sich Gleichgültigkeit in ihm breit, begriff er doch nicht einmal mehr, wer er war. Und alsbald grinste er selbst … dem Angesicht des Todes gütig entgegen.

1. Kapitel

Die Bücher, die Barbarossa North in das Regal einsortiere, waren ein Vermögen wert. Umso bedauerlicher war es, dass es wohl lange dauern würde, bis er einen geeigneten Käufer dafür finden würde. Die Sammler wurden älter, hatten weniger Geld, starben nach und nach. Dies hatte einerseits den Vorteil, dass er selbst viele Sammlungsauflösungen zu einem Spottpreis erwerben konnte, aber auch den Nachteil, dass er viel zu lange auf den so erworbenen Schätzen sitzen blieb. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dennoch gelassen zu bleiben und abzuwarten. Er wusste, dass jedes Buch seine Leser fand, so wie jeder antike Schatz darauf wartete, von einem neugierigen Geist mit dem richtigen Hang zur Sammelleidenschaft entdeckt zu werden.

Dann gab es aber auch noch Bücher, die eine wahre Odyssee hinter sich hatten und die einfach nicht den Zielhafen erreichen wollten, sodass sich Barbarossa North bei manch seltenem Exemplar dachte, dass vielleicht seine Bibliothek für okkulte Fälle der wahre Zielhafen dieser Exponate war. Sie waren unverkäuflich von Haus aus, weil keiner sie haben wollte oder hier bei ihm danach suchte. Jemand anderes würde vielleicht von Ladenhütern sprechen. Uninteressante Staubfänger, die den Platz für andere Bücher nahmen, doch er sah das anders. Es waren nichts weiter als Schätze, die darauf warteten, entdeckt zu werden.

Immerhin liefen die Geschäfte besser, seit Tori ihm diese Internetseite gebastelt hatte. Regelmäßig pflegte sie nun seine Bücherlisten ein, die er nach wie vor handschriftlich erstellte. Seine Nichte sprach von Onlinekatalogen und Marketingstrategien. Sie betreute seine Stammkunden durch regelmäßige Newsletter und nahm Bestellungen per Email entgegen. North kannte sich mit alldem nicht aus, aber er war froh, dass Tori ihm unter die Arme griff, auch wenn sich seine Arbeit seitdem erschwert hatte, da er nun weitaus mehr Bestellungen bearbeiten musste als je zuvor. Was weiterhin ausblieb, war die Laufkundschaft. Nur selten verirrte sich ein Kunde persönlich in seine Räumlichkeiten. Aber wer wollte es den Leuten verübeln? Sein Geschäft sah von außen nicht wirklich attraktiv aus. Es lag in einer Straße mit zwei anderen Antiquariaten, und sie alle hatten letztlich die gleichen Probleme wie Barbarossa North. Für die meisten jungen Leute waren alte, gebrauchte Bücher eine schwere Last, die man lieber loswurde, sobald man die Werke digital eingepflegt, aufbereitet und gespeichert hatte. Selbst Tori las fast ausnahmslos auf ihrem modernen E-Reader, eine Art elektronisches Buch, womit sich Barbarossa alleine berufsbedingt nicht auseinandersetzen wollte. Seine andere Nichte, Despina, war da schon anders. Sie mochte die alten Sachen aus seinem Laden, egal wie staubig sie waren. Dieser Hang konnte durchaus mit ihrer besonderen Gabe zusammenhängen, die … 

Barbarossas Gedankengänge wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. Es erinnerte ihn an eine weitere Form der Bestellmöglichkeit in der Bibliothek für okkulte Fälle – es hieß tatsächlich so, da sich Barbarossa North vor allem auf okkulte Werke spezialisiert hatte, aber auch wegen Despina und ihrem Team, das neben seiner Wenigkeit aus Tori und Jean bestand.

Er hatte seinen Verkaufstresen erreicht. Ein alter Mahagonischreibtisch, auf dem sich verschiedene Bücher aus unterschiedlichen Gründen stapelten, und nahm den Hörer vom Apparat.

»Die Bibliothek für okkulte Fälle, Sie sprechen mit Barbarossa North. Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo Doc«, meldete sich eine rauchige Stimme.

North zog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. Auf der ganzen Welt gab es nur vier Leute, die ihn Doc nannten: Seine beiden Nichten, Tori und Despina, nebst deren Freundin Jean, und dann gab es da noch eine Person, die sich selbst der Priester nannte, eine zweifelhafte Gestalt, der er noch nie persönlich begegnet war, und er hoffte, dass das auch so blieb.

»Hey Doc, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte die Person am anderen Ende der Leitung.

»Was wollen Sie?«

Der Priester lachte. Es war das hohle Lachen eines Besessenen.

»Ich kann auch wieder auflegen«, drohte Barbarossa.

»Wollen Sie etwa keine Geschäfte machen?«

»Im besten Fall nicht«, erwiderte North, kam aber nicht umhin festzustellen, dass der Priester auch zu jenen Sammlern gehörte, die dazu bereit waren, Unsummen für das richtige Buch zu zahlen.

»Sind Sie unzufrieden mit mir als Kunde?«

»Ich bin mit Ihrer Art unzufrieden, Priester. Ich mag dieses drohende Gebaren nicht. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen und ich sage Ihnen, dass ich es nicht habe.«

»Woher wollen Sie wissen, dass Sie das Buch, das ich suche, nicht haben? Ich habe doch noch gar nicht meinen Wunsch geäußert.«

»Dann sagen Sie schon.«

»Ich weiß, dass Sie es haben.«

Barbarossa seufzte. Dieses verschwörerische Gehabe stank bis zum Himmel. »Was denn nun? Von welchem Buch sprechen Sie?«

»Die Cruciforma!«, sagte der Priester nun.

Woher weiß er das?, schoss es Barbarossa durch den Kopf. Er hatte es erst vor wenigen Tagen bekommen. Besagtes Buch lag noch hinten in seinem Arbeitszimmer, wo er die Bücher genau unter die Lupe nahm, sie teilweise restaurierte, vor allem aber säuberte und mit einer Lupe auf Schäden hin überprüfte.

»Sie sagen ja gar nichts mehr, Doc. Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«

»Ich habe das Buch nicht.«

»Sie lügen, Doc. Und ich habe Ihnen schon zu früheren Gelegenheiten gesagt, dass Sie ein schlechter Lügner sind.«

»Sie können mir ruhig glauben, Priester. Es ist nicht in meinem Besitz.«

»Dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass Sie es für mich auftreiben. Ich biete Ihnen 20.000 für die Originalausgabe. Für Abschriften und Nachdrucke entsprechend weniger. Und behaupten Sie nicht, Sie bräuchten das Geld nicht. Die Grundsteuer in Ihrer Straße ist gestiegen, und ich weiß, dass die Bibliothek einiger dringender Reparaturen bedarf.«

»Was für Reparaturen meinen Sie?«

Im selben Moment tat es einen mächtigen Schlag, und Barbarossa hörte zersplitterndes Glas. Als er aufblickte, sah er, dass ein Motorradfahrer mit seinem Helm voran durch das Schaufenster gestürzt war. Die Maschine war zum Glück draußen geblieben.

Eine schreckliche Ahnung beschlich den Bibliothekar: »Waren Sie das, Priester? Haben Sie das veranlasst, Sie Dreckschwein?«

»20.000«, wiederholte der Priester. »Ich gebe Ihnen eine Woche.« Dann war die Verbindung unterbrochen.

Er legte den Hörer auf und trat an das Schaufenster heran, um sich den Schaden anzusehen. »Geht es Ihnen gut?«, hörte er sich fragen und starrte auf den Motorradfahrer, der sich zwischen Glassplittern und ausgestellten Büchern schmerzhaft hin und her wandt. Schnee wehte ins Innere seines Geschäftes.

Barbarossa registrierte die Menschen, die sich aufgebracht von außen näherten, um den Unfall zu bestaunen. Manche versuchten zu helfen, die meisten gafften mittels ihrer Smartphones.

Die Tür wurde aufgerissen. »Geht es dir gut? Ist etwas passiert?« Die besorgte Stimme gehörte zu einer hochgewachsenen, schlanken Frau mit dunklen Haaren und Kurven betonendem Lederoutfit.

»Despina«, sagte er und konnte die Verzweiflung in seiner Stimme nicht verbergen, »schön, dich zu sehen, aber … du siehst ja, was hier los ist.«

»Wie ist das passiert?« Sie trat an den Motorradfahrer heran, der reichlich verstört dreinblickte. Despina half ihm, den Verschluss des Helms zu lösen.

»Ich … ich bin mir nicht sicher.« Er hob den Helm von seinem Kopf und zum Vorschein kam ein blonder Mittdreißiger, dessen Augen so blau waren wie Kafkas gefrorenes Meer in uns. »Die Bremsen haben plötzlich blockiert, und … nun ja, ich denke mit dem Schnee habe ich mich wohl etwas verschätzt.«

»Bei so einem Wetter ist es töricht, mit dem Motorrad unterwegs zu sein«, ereiferte sich Barbarossa North, der langsam erst registrierte, dass er die komplette Ausstellungsscheibe seines Geschäftes erneuern würde müssen. Was das wieder kostet, stöhnte er innerlich, hielt sich aber zurück.

»Haben Sie keine Spikes an Ihren Reifen?«, fragte Despina.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Die sind in der Stadt verboten. Zerstören den Straßenbelag.«

»Sie haben mein Schaufenster zerstört!«, wetterte Barbarossa und fügte gedanklich hinzu: Sie oder der Priester.

»Ich werde natürlich für den Schaden aufkommen.«

»Davon ist auszugehen!« Barbarossa North begann damit, die ausgestellten Bücher aus der Auslage vor dem nun hereinwehenden Schnee zu retten.

»Vielleicht kann Ihre Versicherung ja helfen«, hörte er Despina, die versuchte, den Mann zu beruhigen. »Möchten Sie einen Tee?«

Vermutlich auch noch genau ihr Typ, überlegte Barbarossa, sie wird doch jetzt nicht mit ihm zu flirten anfangen?

»Gerne, danke.«

Der Antiquar richtete sich mit dem Bücherstapel auf. »Ja, und beim Tee kann er seine Daten aufschreiben. Seinen Ausweis kopieren wir uns am besten, und seine Versicherung darf er gerne über den Geschäftsanschluss anrufen!«

»Ich regle das, Onkel North. Kümmer du dich um dein Schaufenster. Mit einem großen Pappkarton könnte man das doch provisorisch zubekommen.«

Barbarossa North seufzte schwer. »Ich werde den Glaser anrufen. Der muss doch für solche Notfälle ausgerüstet sein.« Missmutig starrte er auf die zerstörte Scheibe und wurde der Menschentraube gewahr, die sich davor gebildet hatte. »Na los, Leute. Geht weiter. Alles ist gut!«, rief er nach draußen. Einige besonders dreiste Passanten schossen Fotos mit ihren Handys. Barbarossa ging dazu über, sie wie Hühner zu verscheuchen.

Während sich Despina um den Motorradfahrer kümmerte, beeilte er sich, seine ausgestellten Bücher ins Trockene zu bringen. Erst vor vier Tagen hatte er das Schaufenster neu dekoriert und sich dabei gedacht, dass dafür eigentlich seine Mädchen zuständig sein sollten. Doch Tori hatte nur ihre Computer im Kopf, und gemeinsam mit Despina hatte sie tatsächlich Besseres zu tun.

Und Jean? Was war mit ihr? Er hatte sie schon einige Tage nicht mehr gesehen. Er blickte zum Verkaufstresen, wo Despina dem Motorradfahrer einen Sitz angeboten hatte, und rief: »Wo ist eigentlich Jean, wenn man sie mal braucht?«

»Die war doch eine Woche mit ihrer neuen Freundin in der Karibik«, antwortete Despina prompt. »Du hast ihr doch den Reiseführer besorgt.«

»Stimmt«, rief er und murmelte leise und mehr zu sich: »Habe ich vergessen. Ich werde wohl langsam alt.« Tatsächlich würde er dieses Jahr 68 werden. Wenn die Mädchen nicht wären, hätte er das Geschäft längst zugemacht und wäre selbst in die Karibik gereist. Aber sie brauchten ihn. Ohne ihn lief hier gar nichts!

Die Ausstellungsstücke waren nun alle in Sicherheit gebracht. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes nach unten und rückte seinen Pullunder zurecht. Die Kälte drang in das Geschäft hinein wie ein unwillkommener Geist.

»Angriff ist die beste Verteidigung, sagt man doch«, murrte er und verließ den Laden, um sich den Schaden von außen zu betrachten. Dies vertrieb auch die letzten Gaffer, die sich sogleich zerstreuten.

Von außen betrachtet war sein Laden ein renovierungsbedürftiges Schmuckstück. Renovierungsbedürftig natürlich wegen des Fensters – ein Schmuckstück war es gleichwohl, da die Fassade historisch bedeutsam war und zum klassischen Antlitz Londons gehörte. In unmittelbarer Nähe des Britischen Museums in der Museum Street gelegen, galt das Geschäft als Londons ältester unabhängiger okkulter Buchladen im literarischen Herzen der Hauptstadt. Zwar war das Geschäft nicht im Ansatz so reichlich frequentiert wie etwa die berühmten Buchhandlungen in der Charming Cross Road oder die liebevollen Antiquariate des Cecil Court, aber das kümmerte Barbarossa kaum.

Vor dem zerstörten Schaufenster lag die Maschine des Fahrers. Barbarossa fiel auf, dass er noch nicht mal seinen Namen wusste. Aber er war sich sicher, dass Despina bereits alles in Erfahrung gebracht hatte.

Die Maschine des Mannes war eine gut erhaltene Honda CB 750 Four, und so wie sie auf der Straße lag und den Spuren nach zu urteilen, die die Reifen im Schnee hinterlassen hatten, stimmte seine Geschichte. Die Räder hatten blockiert, er war ins Schleudern geraten, hatte die Kontrolle über seine Honda verloren und war in Barbarossas Schaufenster gekracht.

Aber weshalb hatten die Räder überhaupt blockiert? Neugierig ging der Antiquar neben der Maschine in die Knie und besah sich die Räder genauer. Dann entdeckte er es.

»Der Priester«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen und ballte die rechte Hand zur Faust. Er blickte auf und die Straße entlang. Irgendwo musste jemand die Route des Motorrads verfolgt haben, um auf den Auslöser zu drücken. Aber Barbarossa konnte nichts und niemanden Verdächtigen erkennen. Stattdessen wirbelten die Schneeflocken zunehmend stärker, und ihm wurde kalt.

Er packte das Motorrad am Lenker, wuchtete es hoch und schob es in den Laden hinein. Dort saß Despina noch immer mit dem Mann in ein Gespräch vertieft. Sie blickte auf und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Tori soll sich die Maschine anschauen«, sagte er. »Ich glaube, sie wurde manipuliert.«

»Deinem Blick nach zu urteilen, hast du einen Verdacht«, sagte Despina.

»Allerdings habe ich den.« Umständlich stellte er die Maschine auf ihren Ständer. »Ich hatte kurz vor dem Unfall einen Anruf vom Priester.«

Despina stockte kurz. Natürlich wusste auch sie, wer mit »der Priester« gemeint war, doch war es wohl besser, in Gegenwart des Fremden nicht allzu sehr ins Detail zu gehen. »Alles klar«, sagte Despina daher nur und wandte sich wieder an den Motorradfahrer. »Nachdem wir nun alle Formalitäten ausgetauscht haben: Meinen Sie, es wäre in Ordnung, uns Ihre Maschine für ein paar Tage zu überlassen? Wir möchten da etwas überprüfen lassen.«

Barbarossa wusste, dass sie das Wort »lassen« nur benutzt hatte, um keine Neugier bei dem Fremden zu erwecken.

»Wegen mir«, sagte er. »Aber wie komme ich nach Hause?«

»Wir rufen Ihnen ein Taxi«, beeilte sich Barbarossa zu sagen.

Glücklicherweise stellte der Mann keine weiteren neugierigen Fragen.

Wenig später saß er in einem Taxi und fuhr zurück in sein geregeltes Leben. Despina hatte sich um alles gekümmert, und weder der Motorradfahrer brauchte sich um etwas zu sorgen noch Barbarossa als Geschädigter.

Nun aber, da das Taxi fort war, sagte er: »Ich werde hier oben bleiben, um den Laden zu bewachen. Ein zertrümmertes Fenster langt mir für den Moment. Außerdem möchte ich nicht, dass jemand durch das Loch einsteigt und sich an den Büchern bedient.«

Despina nickte. »Das Motorrad …«, begann sie, doch er unterbrach sie hastig.

»… das nimmst du mit runter zu Tori. Sie soll sich dieses Gerät dort am Vorderrad genauer ansehen. Es bringt nichts, wenn dergleichen die Polizei übernimmt. Tori ist weitaus geschickter und vor allem effizienter in solchen Dingen.«

»Mir brauchst du das nicht erklären«, sagte Despina und lächelte.

»Ich weiß. Ich bin nur etwas aufgeregt«, entgegnete er und begann damit, Bücherstapel von links nach rechts zu tragen. Routine war es, was er nun am dringendsten brauchte.

Dennoch half er Despina dabei, das Motorrad vorsichtig die Treppenstufen hinunterzuschieben. Zum Glück war es dank der Bremsen möglich, die schwere Maschine ohne größere Blessuren nach unten zu befördern.

Kaum waren sie unten, hörte er, wie oben abermals das Telefon klingelte. Er nickte seiner Nichte zu und ging wieder hinauf zu seinem Schreibtisch, auf dem der Apparat schrill schellte. Es war ein altes Modell. Schwarz und schwer, mit Wählscheibe und überhaupt nicht WLAN-tauglich.

Er hob den schweren Hörer ab und meldete sich wie eh und je: »Die Bibliothek für okkulte Fälle, Barbarossa North am Apparat, was kann ich für Sie tun?«

»Hilfe!«, keuchte eine männliche Stimme aus dem Hörer. »Bitte, ich brauche Ihre Hilfe!«

***

Despina hatte schon viele Dinge durch die Stockwerke des Gebäudes in der Museum Street 49a geschleppt. Meist Barbarossas Bücherkisten oder auch neues Zubehör für Toris komplizierte Computeranlagen, die sie im Keller eingerichtet hatte. Aber noch nie war ein Motorrad dabei gewesen – und die Maschine war schwerer, als sie aussah.

Mit dem Rücken stieß sie die Tür in die Zentrale auf, wie sie die Kellerräumlichkeiten der Bibliothek für okkulte Fälle nannten.

Sie wollte die Honda am Lenker gepackt durch die Türe ziehen, doch irgendwo verkeilte sich das Bike, und sie kam nicht weiter. Despina stöhnte verärgert auf.

»Operator«, rief sie Toris Spitznamen, »wir haben ein Problem!« Sie zerrte weiter an der Maschine, schaffte es aber nicht, das Ding durch die Tür hindurchzubekommen.

Wo blieb Tori nur? Doc hatte doch gesagt, dass sie da sei. Daran gab es auch keinerlei Zweifel. Tori war immer da.

Sie schielte auf ihr Armgelenk, wo die Armbanduhr mit dem GPS-Sender und der abhörsicheren Verbindung einen vertrauten Kommunikationsweg darstellte, um Tori zu kontaktieren. Normalerweise reagierte sie prompt, wenn man sich über den Communicator meldete, wie Tori das Ding getauft hatte. Sie hatte ihn selbst entwickelt.

»Tori!«, rief Despina stattdessen über ihre Schulter, erhielt jedoch keinerlei Reaktion.

Sie ließ das Motorrad stehen und lief den Flur entlang, an dessen Ende sich Toris Operator-Raum befand. Die Glastür war nur angelehnt. »Tori? Bist du auf dem Klo?«, rief Despina und betrat den kargen Raum. Neben einer Wand mit einer Unzahl Bildschirmen und einem Schreibtisch voller Chipsresten, leeren Getränkedosen und Geräten, deren Dioden blinkten und leuchteten und von denen Despina nicht die geringste Ahnung hatte, welche Funktion sie erfüllten, war nur noch ein Hightech-Stuhl in dem Raum zu sehen. Letzteren verließ Tori eigentlich nur, um sich mit Chips und Energydrinks zu versorgen, oder tatsächlich mal aufs Klo zu gehen.

Alles sah aus wie immer. Nur Tori fehlte. »Das gibts doch nicht«, murmelte sie, holte tief Luft und rief: »Tori – Operator – Jones! Wo zur Hölle bist du?«

»Du sagst doch selbst immer, man soll nicht schlecht von der Hölle reden.« Toris Stimme klang verschlafen und kam von unter dem Tisch hervor.

Despina blickte darunter. »Tori?« Ihre Halbschwester lag zusammengekauert unter dem Tisch und guckte ihr blinzelnd entgegen. »Was machst du denn unterm Tisch?«

»Schlafen. Was denkst du denn?« Sie wälzte sich herum und kroch dann auf allen vieren rückwärts unter dem Tisch hervor.

»Auf dem blanken Boden?«

»Auch mein Körper benötigt manchmal Schlaf«, sagte Tori, wuchtete sich in ihren Stuhl und streckte sich. Sie war etwas fülliger, aber sie selbst störte das kaum – zumindest behauptete sie das anderen gegenüber.

»Aber: Hast du denn kein Bett?«

Ihre Schwester strich sich durch ihr bunt gefärbtes Haar. »Doch, aber das steht zu Hause und nicht hier.«

»Wann warst du denn das letzte Mal zu Hause?«

Tori schürzte die Lippen. »Welcher Tag ist heute?«

Despina verdrehte die Augen. »Na schön. Musst du wissen. Und jetzt steh auf, es gibt Arbeit für dich.«

»Was denn?« Sie griff nach einer der Energy-Dosen, überprüfte mit einem Schütteln, ob noch etwas darin war, und trank.

»Kennst du dich mit Motorrädern aus?«

»Ein bisschen.« Scheppernd stellte sie die Dose auf dem Tisch ab. »Was willst du wissen?«

»Ich möchte, dass du dir eine Honda CB 750 Four K2 anschaust.«

Unverzüglich betätigte Tori die Entertaste ihrer Tastatur, woraufhin die Bildschirmwand aus dem Schlummermodus erwachte. Die Monitore zeigten unterschiedlichste Arbeitsflächen: Diagramme, Bilder von Überwachungskameras, die Grundrisskizze eines Gebäudes – Despina erkannte darin Toris Recherchen ihres letzten Falles –, außerdem einen Internetbrowser, auf dem mehrere Chatfenster geöffnet waren.

Tori wechselte zu einer Suchmaske und begann zu tippen. »Was für eine Maschine sagtest du?«

Despina grinste. »Du brauchst deine Suchmaschine nicht zu fragen. Ich habe das Motorrad gleich mitgebracht.«

»Wie, du hast es mitgebracht?«

»Komm mit. Du musst mir nur helfen, es durch die Tür zu bekommen.«

Tori folgte Despina den Flur entlang zum in der Tür verkeilten Motorrad. Als Tori es sah, stutzte sie zunächst, begann dann aber zu kichern. »Und du hast die ganze Maschine die Treppe alleine hinuntergeschleppt?«

»Glaube mir, Tori, ich bin noch zu ganz anderen Dingen fähig.«

»Das weiß ich, Pina.«

»Nenn mich nicht so. Du weißt, ich hasse das!«

»Ja ja.« Tori hob beschwichtigend die Hände. »Also, dann wollen wir mal.«

Sie schoben die Maschine zunächst zurück durch die Tür. Sie mussten eine andere Position erreichen und den Lenker so anwinkeln, dass er mitsamt des Vorderrads hindurchpasste. Nach etlichen Malen des vergeblichen Hin- und Herrückens, Ziehens und Schiebens, schafften sie es schließlich gemeinsam, die Honda in den Kellerflur zu manövrieren. »Okay, das wäre geschafft«, sagte Tori. »Und nun? Was mach ich mit dem Ding hier unten?«

»Die Maschine ist oben ins Schaufenster gekracht. Der Motorradfahrer sagt, die Räder hätten ohne ersichtlichen Grund blockiert. Ich glaube ihm. Der arme Kerl war selbst bis aufs Äußerste schockiert über seinen Unfall.«

»Wer fährt denn bitteschön bei so einem Wetter Motorrad?«

»Auch das habe ich ihn gefragt, und er hat mir eine sehr lange Geschichte aufgetischt, in der es um seine Frau oder Exfrau ging und um eine Geliebte, die beide nichts voneinander wissen, und um uneheliche Kinder und dass er unter erheblichem Termindruck stand.«

»Ach du liebe Güte. Ich verstehe Leute nicht, die sich so etwas freiwillig antun.«

»Ist doch nicht unser Problem«, antwortete Despina. »Auf jeden Fall hatte Barbarossa kurz zuvor ein unliebsames Telefonat mit dem Priester, das eine Manipulation der Maschine erklären könnte.«

»Durch den Priester?« Toris Augenbrauen wanderten erstaunt ihrem Haaransatz entgegen. »Ich dachte, der interessiert sich nur für okkulte Bücher.«

»Es ist bisher nur ein Verdacht, aber Barbarossa möchte es überprüft haben. Hier am Vorderrad befindet sich ein kleines Kästchen. Doc meinte, du könntest herausfinden, was das ist, und seine Vermutung im schlimmsten Fall bestätigen.«

»Und im günstigsten Fall?«

Despina zuckte mit den Schultern. »Im günstigsten Fall ist es ein Gerät, das die Profilstärke der Reifen während der Fahrt misst oder sowas.«

»Das kannst du bei dem Modell vergessen. Die Maschine stammt aus den siebziger Jahren.«

Despina sagte nichts, sondern starrte Tori nur mit einem Blick an, der sagen sollte, dass sie dergleichen nicht wissen wollte.

Tori grinste gekünstelt. »Na schön. Das dauert aber etwas. Schieb mir die Maschine in den Operationssaal.«

Der Operationssaal war letztlich nichts weiter als ein Besprechungszimmer mit der Möglichkeit, Datenmaterial auf eine große Wand zu projizieren. Darüber hinaus gab es nur einen runden Konferenztisch mit einer Stiege Stühle darum herum.

Neben den beiden Räumen, einer kleinen Küche, einem Heizungsraum und einem Badezimmer beherbergte der Keller noch ein weiteres Zimmer, das einzig und alleine Despina zur Verfügung stand: das Legat – ein Raum für die Aschen der Verstorbenen, die dort in Urnen in einer Art Schrein aufbewahrt wurden wie in einem Tempel. Despina wusste, dass Tori ihre Gabe als makaber empfand und alleine deshalb das Legat nach Möglichkeit mied. Barbarossa und Jean hingegen respektierten die Urnen, die Despina in diesem Raum verwahrte. Hier ruhte die Asche jener Menschen, die ihr zeitlebens viel bedeutet hatten. Im Legat war sie ungestört und fand die Zeit für wichtige Gespräche, die nur sie dank ihrer besonderen Gabe führen konnte: Unterredungen mit den Toten, die mitunter sehr persönlicher Natur waren.

»Sag mal, haben wir Kaffee da?«, fragte Despina, als sie Tori in die Küche gefolgt war.

»Ich bin ja schon dabei, welchen aufzusetzen«, antwortete ihre Halbschwester. »Wenn es dir zu lange dauert, kannst du ja ’ne Dose Energy von mir haben.«

»Danke, aber ich steh nicht so auf Kaugummigeschmack.«

Tori blickte sie entgeistert an. »Ich weiß ja nicht, was du so unter Kaugummigeschmack verstehst, aber ich mag es. Das Zeug schmeckt tausendmal besser als euer bitterer Kaffee, den du und Jean die ganze Zeit über in euch reinschüttet. Da ist mir Docs schwarzer Tee ja noch lieber als dieser ekelhafte Kaffeegeschmack. Pfui.« Sie verzog das Gesicht, was ziemlich komisch aussah und Despina zum Lachen brachte.

»Ja, lach du nur über mich. Ich weiß, dass das Zeug ungesund ist und dick macht. Aber es gibt mir den Frischekick, den ich brauche und von dem ihr alle profitiert, spätestens dann, wenn ihr mal wieder eure Passwörter vergessen habt.«

»Ist ja gut, Tori. Du darfst das Zeug ja trinken, wie du lustig bist.«

»Ich bin überhaupt nicht lustig.«

»Doch, das bist du.«

Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein hektisch dreinblickender Barbarossa North stand vor ihnen und keuchte: »Jetzt mal Spaß beiseite, Mädels. Es gibt Arbeit.«

»Oh, falls du das Motorrad meinst«, begann Tori, »das haben wir gerade …«

»Das Motorrad kann warten. Wir haben einen Toten in der Kirche All Hallows by the Tower