Mami – Jubiläumsbox 7 – E-Book: 1763 - 1768

Mami
– Jubiläumsbox 7–

E-Book: 1763 - 1768

Myra Myrenburg
Annette Mansdorf
Isabell Rohde
Susanne Svanberg
Eva-Maria Horn
Gisela Reutling

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-206-0

Weitere Titel im Angebot:

Zwei, die sich nicht mögen

Roman von Myra Myrenburg

  

»Mein Enkel ist ein Genie«, sagte Livia Langenfeld und drapierte ein pflaumengroßes Seidentuch um ihre frisch geliftete Kinnpartie, »er soll nicht nur herumklimpern, sondern den besten Unterricht erhalten, der für Geld zu haben ist.«

  Axel Bloomendal, Direktor der Musikhochschule, Leiter des exquisiten ›Kleinen Orchesters‹ und Gründer des Kulturvereins der Stadt Westertal zwischen Ruhr und Rhein, neigte höflich den Kopf und strich sich mit der schmalen Hand über die graue Schläfe.

  »Ich sehe, wir verstehen uns«, fuhr Livia liebenswürdig fort, »niemand außer Ihnen, lieber Maestro, kommt als Lehrer meines Enkels in Frage.«

  Axel Bloomendal ließ die Hand sinken und starrte angestrengt durch den halb geöffneten Fensterflügel auf die zart sich begrünenden Rosenbeete, denen die Villa ihren Namen verdankte.

  War es zu fassen?

  Wollte ihn diese exzentrische alte Schachtel wahrhaftig als Klavierlehrer eines mäßig begabten, unerzogenen Jungen verpflichten?

  Ein Blick in ihr eisern entschlossenes Gesicht genügte.

  Sie wollte.

  Was Livia Langenfeld wollte, das hatte sie ein Leben lang durchgesetzt.

  Ihrem ehernen Willen, ihrem enormen Vermögen und ihrem unbegrenzten Einfluß widerstand niemand. Unter ihrer Schirmherrschaft standen alle kulturellen Einrichtungen im Umkreis von hundert Kilometern, ohne ihre Unterstützung hätte es kein Theater mehr gegeben und kein Orchester.

  »Nun«, sagte Axel Bloomendal und zwang sich zu einem interessierten Lächeln, »wie alt ist der Kleine inzwischen?«

  »Sieben«, erwiderte Livia, »und wie Sie wissen, ist er mein einziger Enkel. Schon mit fünf Jahren konnte er das Forellenquintett auswendig spielen. Ein kleiner Mozart, sage ich Ihnen! Leider wurde seine musikalische Ausbildung vernachlässigt, weil er in die Schule kam. Er braucht eine feste Hand, die ihn leitet, Maestro, und natürlich muß er motiviert werden.«

  »Sicher, gnädige Frau. Darf ich fragen, wie Sie sich das vorstellen?«

  »Er braucht Ziele wie jeder junge Mensch. Klare, hehre Ziele! Halten Sie ihm vor Augen, was aus ihm werden kann!«

  Axel Bloomendal griff in die Innentasche seines Jacketts, nahm ein ledernes Büchlein und einen silbernen Stift heraus und seufzte leicht.

  »Nun, dann wollen wir zum schwierigsten Punkt kommen, nämlich der Terminfrage. Ich bin ziemlich eingeengt…«

  »Yannik hat nur dienstags und donnerstags nachmittags Zeit«, stellte sie ohne Umschweife fest, »am besten nehmen wir beide Tage, damit er wieder in den Takt kommt. Wo werden Sie ihn unterrichten? Hoffentlich nicht in einem dieser Gemeinschaftsräume der Hochschule!«

  »Ich muß es mir überlegen, gnädige Frau.«

  »Ach was, Verehrtester. Sie lassen ihn zu sich nach Hause kommen und geben ihm jeweils eine Klavierstunde. So haben wir das früher auch gehandhabt. Wir wollen doch keine künstlichen Probleme schaffen! Der Junge wird gebracht und abgeholt und dazu angehalten, täglich zu üben. Alles andere ist Ihre Sache, und ich bin davon überzeugt, Sie werden sie gut machen! Brillant! Heute ist Freitag. Am kommenden Dienstag fangen wir an. Zwei Uhr dreißig. Notieren Sie’s in Ihrem Terminkalender. Und geben Sie mir Ihre Kontonummer.« Livia erhob sich, zum Zeichen, daß sie das Gespräch als beendet betrachtete. »Das Honorar wird monatlich überwiesen.«

  Axel Bloomendal blieb nichts anderes übrig, als sich resigniert zu verneigen, die dargebotene welke Hand mit den vielen Ringen an die Lippen zu führen und sich zu verabschieden. –

  Livia wartete, bis er durch die Halle hinausgegangen war. Dann fegte sie in ihrem knöchellangen Phantasiegewand aus gestreifter Seide hinüber in den kleinen Salon, wo ihre Freundin Ortrud Mahler bereits frische Croissants auf den zierlich gedeckten Teetisch stellte.

  »Du schuldest mir eine Flasche Sekt!« rief Livia und schwenkte das pflaumenblaue Seidentuch.

  »Heißt das, er hat angenommen?«

  »Widerspruchslos. Wie ich erwartet habe. Mir war klar, daß ich diese Wette gewinnen würde.«

  »Mir nicht«, erwiderte Ortrud Mahler düster, »wie korrumpiert muß ein Hochschuldirektor sein, daß er sich als Klavierlehrer anheuern läßt!«

  »Vergiß nicht, daß der Schüler mein Enkel ist«, sagte Livia triumphierend, »ein junges Genie, eine bisher unbekannte Größe, die in den Konzertsälen der Zukunft Furore machen wird. Wieviel Kalorien hat Pierre in diesen Croissants versteckt?«

  »Keine fünfzig. Wenn du Süßstoff nimmst, kannst du zwei davon essen.«

  »Ich hasse Süßstoff! Das Zeug kann nicht gesund sein. Du hattest übrigens recht. Er wollte ein großes Getue wegen der Termine machen.«

  »Wozu du ihn gar nicht erst kommen ließest, stimmt’s?«

  »Natürlich nicht. Ich habe ihm Yanniks freie Nachmittage genannt und ihm überlassen, sich darauf einzustellen.«

  »Und darauf ist er eingegangen?«

  »Ja, sag ich doch.«

  »Der Mann hat einfach kein Rückgrat«, murmelte Ortrud Mahler und schüttelte ihr fahlblondes Haar. Sie war nur wenig jünger als Livia, aber sie hielt sich viel darauf zugute, die Siebzig noch nicht erreicht zu haben. Auch hatte sie einen gänzlich anderen Lebenshintergrund als ihre Freundin, aber das störte die Verbundenheit nicht. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, und keine von ihnen konnte allein sein.

  Jede brauchte die Gesellschaft der anderen, und die Villa Rosengarten bot die bestmögliche Umgebung. Während Livia mit den Pfunden kämpfte und sich gern auffallend kleidete, war Ortrud dünn wie ein Strich und gab sich am liebsten mädchenhaft. Im Gegensatz zu Livia, die schon seit Jahren zu Perücken greifen mußte, hatte Ortrud immer noch sehr schönes volles Haar, das sie so oft wie möglich aufgelöst trug und flattern ließ. Sie hatte zwar eine eigene Wohnung in Düsseldorf, aber die meiste Zeit verbrachte sie in der Villa Rosengarten, wo sie als rechte Hand der Hausherrin fungierte. Außer ihr gab es einen französischen Koch namens Pierre und eine leicht betagte Wirtschafterin namens Tilde, die sich mit wechselnden Hilfskräften herumschlug.

  Der Rosengarten unterstand Livia persönlich, und wenn man ihren Worten glauben wollte, wurden alle die prächtigen Sonderexemplare von ihr und ihrem Sohn Maxim eigenhändig gehegt, gepflegt, gegossen, gedüngt, gejätet und beschnitten.

  Ebenso verhielt es sich mit dem Familiengrab, das ebenfalls als kleiner Rosengarten angelegt war und bereits zwei Namen auf der monumentalen Marmortafel aufwies, nämlich den des Familienoberhauptes Georg Maximilian Langenfeld, und den der früh verstorbenen Schwiegertochter Vanessa Langenfeld, geborene von Kruft.

  Auch hier wirkte Livia regelmäßig mit Hacke, Harke, Schaufel und Baumschere. Wer immer gerade greifbar war, mußte sie begleiten. Obwohl sie stets behauptete, Maxim leiste die eigentliche Arbeit, war es meistens Ortrud, die mitfuhr.

  »Wo liegt eigentlich Bloomendals Privatwohnung?« erkundigte sich Livia und rührte einen Löffel Zucker in ihren Tee. »Irgendwo in der Nähe des Stadtparks, glaube ich. Warum fragst du?«

  »Yannik wird dort seinen Unterricht bekommen, jeweils dienstags und donnerstags um halb drei. Er muß hingebracht und wieder abgeholt werden.«

  »Von wem?«

  »Von Maxim«, entschied Livia ohne einen Moment zu zögern.

  »Mit anderen Worten«, bemerkte Ortrud säuerlich, »ich habe mich dafür bereitzuhalten.«

  »Sei nicht albern! Wenn ich sage Maxim, dann meine ich Maxim und nicht dich! Mittags zwischen zwei und vier halten wir unseren Schönheitsschlaf, du und ich.«

  »Dein Wort in Gottes Ohr! Wo ist denn der Goldjunge eigentlich? Man hört weder seinen Gameboy quietschen noch den Fernseher dudeln.«

  »Er ist zu einem Kindergeburtstag eingeladen, irgendwo in der Neubausiedlung am Stadtrand. Tilde hat ihn hingebracht.«

  »Und wer holt ihn ab?«

  »Maxim.«

  »Ich glaub’s nicht. Ich gehe jede Wette ein, daß er sich drückt.«

  »Um was wetten wir? Ich warne dich, Ortrud, du hast heute schon eine Flasche Sekt verloren!«

  »Trotzdem. Die Chancen stehen gut, daß ich sie wieder zurückgewinne.«

  »Bitte, bitte, tu, was du nicht lassen kannst! Aber sag nachher nicht, ich hätte dich blind in den Ruin laufen lassen.«

  Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon in den Wirtschaftsräumen. Tilde nahm ab und stellte durch nach oben, wo Livia gerade eine Sitzung mit Madame Odette hatte, der Kartenlegerin.

  »Ach, Maxim«, seufzte sie unwillig in den Hörer, »muß das sein? Kannst du den Termin nicht verschieben und Yannik vorher schnell abholen?«

  »Tut mir leid, Mutter«, kam die vertraute Stimme ihres Sohnes zerknirscht durch den Draht, »aber der Präsident der Handelskammer ist ein harter Knochen. Er verzeiht es mir nie, wenn ich ihn auch nur fünf Minuten im Flughafenrestaurant warten lasse.«

  Livia legte den Hörer auf, schnaubte leicht durch die Nase, entschuldigte sich für einen Moment bei Madame Odette und ging ins Nebenzimmer ans Haustelefon.

  »Ortrud? Nein, nichts Besonderes. Ich lade dich morgen früh zum Sektfrühstück ein. Nur wir beide. Ja, du rätst

richtig. Ja, du hast gewonnen. Wärest du dann so lieb, gegen sechs in die Neubausiedlung zu fahren? Natürlich habe ich die Adresse. Warte, ich sage dir sie am besten gleich durch.«

*

  »Schade, daß du dein Musikstudium an den Nagel gehängt hast«, sagte Axel Bloomendal zu seiner Nichte Claire, die von Zeit zu Zeit sein Büro aufräumte und seine Steuerunterlagen sichtete.

  »Das war doch nur ein schöner Zeitvertreib. Weiter als bis zur Musiklehrerin hätte ich es doch nicht gebracht, und das wäre nicht das gewesen, womit ich mich für den Rest meines Lebens beschäftigen wollte. Mir haben schon die Klavierstunden gereicht, die ich jahrelang geben mußte.«

  »Du hast das gar nicht schlecht gemacht.«

  »Nein, aber ich fand’s gräßlich. Zum Lehren bin ich nicht geboren. Kinder machen mich nervös.«

  »Wem sagst du das«, murmelte Axel Bloomendal und fuhr sich mit beiden Händen über die grauen Schläfen, »aber etwas Geld könntest du doch gebrauchen, oder?«

  Claire stützte sich auf den überdimensionalen Schreibtisch und sah ihren Onkel aus aquamarinblauen Augen mißtrauisch an.

  »Ich bin nicht gerade auf Rosen gebettet, aber für die Semesterferien habe ich schon einen Aushilfsjob im wirtschaftswissenschaftlichen Institut.«

  »Na, was bringt dir das denn schon!«

  »Einschlägige Erfahrung und drei Monatsgehälter. Warum? Weißt du was Besseres?«

  »Auf jeden Fall etwas Lukrativeres. Außerdem könntest du mir damit einen Gefallen tun.«

  »Was ist es?«

  »Klavierunterricht.«

  »Nein!«

  »Wird spitzenmäßig honoriert. Ich würde es selbst machen, aber mir fehlt die Zeit!«

  »Du hast keinen Unterricht mehr gegeben, seitdem du Direktor bist. Nicht einmal Privatstunden an Prüfungskandidaten. Also – warum ist das jetzt auf einmal ein Thema?«

  »Weil ich dazu gezwungen wurde«, knirschte Axel Bloomendal und zerrte an seinem Jackett, »es gibt Leute, denen man keinen Korb geben darf.«

  »Du lieber Gott, ist es etwa eine der reifen Damen der Gesellschaft, die plötzlich den Wunsch verspüren, in die Tasten zu greifen?«

  »Nein, Gott sei Dank nicht, bei denen könnte ich mich ja nicht vertreten lassen.«

  »Also ein Kind.«

  »Ja, ein Junge, und offiziell nimmt er Stunden bei mir.«

  »Na hör mal, er wird doch merken, mit wem er es zu tun hat! Er ist doch wohl nicht beschränkt, oder?«

  »Ach, das läßt sich schon irgendwie verwischen. Ich trete gelegentlich auf und mache Eindruck, alles andere erledigst du, zweimal die Woche, dienstags und donnerstags von halb drei bis halb vier.«

  »Nein!«

  »Komm her ans Fenster, Claire. Er steigt gerade aus dem Wagen. Kannst ihn dir schon mal ansehen.«

  »Ist heute Dienstag?«

  »Genau.«

  »Aber ich will nicht!«

  »Denk an den Verdienst!« stieß Axel Bloomendal zwischen den Zähnen hervor. »Heute bin ich dran, aber du bleibst dabei und machst dich bekannt, denn ab Donnerstag ist es mehr oder weniger dein Job.«

  »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!« zischte

Claire und warf einen widerwilligen Blick aus dem Fenster auf den Luxusschlitten, dem ein geschmeidiger Typ im tabakbraunen matt glänzenden Armani-Anzug entstieg.

  »Ist das der Vater?«

  »Ja, Maxim Langenfeld.«

  »Nie von gehört. Sieht aus wie ein Dressman.«

  »Um Himmels willen, Claire! Der Mann verwaltet ein Millionenerbe!«

  »Na, wenn schon. Ich glaube, ich verziehe mich lieber.«

  »Zu spät«, raunte ihr Onkel, denn es klingelte bereits.

  Minuten später erklangen Stimmen und Schritte im Treppenhaus.

  »Seien Sie mir gegrüßt, Herr Langenfeld«, orgelte Axel Bloomendal, »und du auch, Yannik! Geh schon voraus ins Musikzimmer. Meine Assistentin erwartet dich. Dein Vater und ich halten vorab ein kleines Gespräch in meinem Büro.«

  Claire sank gerade auf den Klavierschemel, den sie in letzter Minute erreicht hatte, als der Junge eintrat.

  Er trug marineblaue Hosen, die bis über die Knie reichten, ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, weiße Socken und die üblichen Sportschuhe aus weißem Leder.

  »Hallo«, sagte er unbefangen, »ich bin Yannik Langenfeld, ich bin sieben und wohne in der Villa Rosengarten. Und du?«

  »Ich bin Claire.«

  »Ja – und?« Er sah sie aus taubenblauen Augen erwartungsvoll an. Offensichtlich rechnete er damit, daß sie sich ebenso detailliert vorstellte.

  »Ich bin vierundzwanzig und wohne in der Engelsgasse zehn.«

  Das schien ihn zufriedenzustellen.

  »Ich gehe ins erste Grundschuljahr in der Lessingschule, und ich habe im April Geburtstag. Und du?«

  »Ich gehe zur Universität, studiere dort Wirtschaftswissenschaften und habe im September Geburtstag.«

  Er holte tief Luft, um lebhaft fortzufahren: »Ich habe keine Mutter mehr, ich wohne bei meiner Großmutter und bin ein Wunderkind. Und du?«

  Claire verschlug es sekundenlang die Sprache. Aber die taubenblauen Augen waren so lange fest auf sie gerichtet, bis sie sich zu einer Antwort bequemte.

  »Ich habe auch keine Mutter mehr, ich wohne allein, und ich bin kein Wunderkind.«

  »Auch kein Sonntagskind?«

  »Nicht, daß ich wüßte.«

  »Ich bin eins. Meine Großmutter sagt, ich bin so begabt wie Mozart. Weißt du, wer das ist?«

  »Ja. Ein großer Musiker.«

  »Kannst du ihn spielen?«

  »Kommt drauf an, was.«

  »Die kleine Nachtmusik?«

  Claire wurde der Antwort enthoben durch ihren Onkel, der mit schwungvoller Geste die Tür öffnete.

  »Na, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht? Gut! Dein Vater ist nur kurz zur Tankstelle gefahren und holt dich in einer Stunde wieder

ab.«

  »Gar nicht. Er ist zum Tennisplatz gefahren und trifft sich mit Pamela. In einer Stunde ruft er hier an und sagt, ich soll mit einem Taxi nach Hause fahren.«

  »Nun, nun«, Axel Bloomendal wedelte hilflos mit seinen schönen, schmalen Pianistenhänden und griff nach der Klavierschule, die auf dem Notenständer lag, »wir werden sehen. Das hat ja noch Zeit. Wie weit bist du denn bis jetzt gekommen? Du hattest ja schon einmal Unterricht…«

  »Hundertmal!«

  »Dann kennst du vielleicht dieses Übungsheft?«

  »Kann sein.«

  »Weißt du noch, wo du stehengeblieben bist?«

  Yannik schüttelte den Kopf.

  »Ich spiele nicht nach Noten. Ich kann alles auswendig.«

  »Na, dann fang mal an.«

  Claire schraubte den Klaviersessel höher und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.

  Yannik schwang sich auf den Sessel und spielte mit Vehemenz den Flohwalzer.

  »Ist das alles?« fragte Axel Bloomendal stirnrunzelnd.

  Yannik schüttelte sich vor Lachen.

  Er begann mit einem Schumannlied, brach ab, klimperte die ersten Takte einer Etüde, wechselte zu einem Kinderlied und rutschte vom Hocker.

  »Ich hab jetzt keine Lust mehr«, verkündete er knapp.

  »Das gilt hier nicht, mein Junge! Ich sehe schon, daß wir ganz von vorn anfangen müssen«, sagte Axel Bloomendal und wechselte einen eindringlichen Blick mit seiner Nichte, »sowohl mit den Fingerübungen als auch in der Harmonielehre. Du gehst doch schon zur Schule. Habt ihr da auch Musikstunden?«

  »Wir singen«, erklärte Yannik, »aber nur zwischendurch. Wer will, kann nachmittags in die Flötenstunde gehen. Aber das mache ich nicht.«

  »Warum nicht?« fragte

Claire.

  »Es ist sooo ein Krach. Alle fiepsen durcheinander. Man muß sich die Ohren zuhalten, wirklich.«

  Claire verbiß sich ein Lachen.

  Axel Bloomendal strich sich über die Manschette und sah verstohlen auf die Uhr.

  »Paß auf, Yannik, ich spiele dir die erste Übung vor, du gibst gut acht und versuchst sie nachzuspielen.«

  Im Arbeitszimmer surrte das Telefon.

  »Gehst du bitte mal?« murmelte Axel, der sich gerade niedergelassen hatte.

  Claire verschwand nach nebenan und griff nach dem altmodischen Hörer, den ihr Onkel bevorzugte.

  Eine Männerstimme, so

geschmeidig wie der Typ im Armanianzug, meldete sich mit »Langenfeld, mein Sohn ist gerade bei Herrn Direktor Bloomendal zum Klavierunterricht…«

  »Soll ich ihn holen?«

  »Nein, nein, nicht nötig. Wenn Sie nur so nett wären, ihm ein Taxi zu bestellen, wenn er fertig ist, ja? Ich bin hier an der Tankstelle aufgehalten worden und kann nicht pünktlich bei Ihnen sein.«

  »Geht in Ordnung.«

  »Danke, vielen Dank, und grüßen Sie Yannik von mir. Ich sehe ihn nachher zu Hause.«

  »Das ist ja nicht zu fassen«, murmelte Claire, legte den Hörer auf und ging ins Musikzimmer zurück.

  »Wetten, das war mein Vater?« krähte Yannik.

  »Ja, du sollst mit dem Taxi heimfahren. Aber das hat noch  Zeit. Noch fünfzehn Minuten.«

  »Was du nicht sagst!« seufzte Axel Bloomendal, schloß die Augen, warf den Kopf in den Nacken und ließ seine Finger auf den Tasten hin und her hüpfen.

  Etwas später, als der Maestro bereits geflüchtet war und

Claire den hoffnungsvollen Schüler die Treppe hinunter zum Taxi führte, blieb Yannik stehen und hängte sich ans Geländer.

  »Hast du das gesehen?« raunte er im Verschwörerton.

  »Was?«

  »Der alte Mann spielt genauso wie ich! Er macht die Augen zu und spielt auswendig!«

  »Darauf werde ich dir beim nächsten Mal ausführlich antworten«, versprach Claire und löste seine Hand vom Geländer, »jetzt mußt du dich beeilen. Das Taxi wartet nicht ewig.«

*

  »Essen wir zusammen?« erkundigte sich Maxim Langenfeld, während er Pamela Wintrop vom Platz führte.

  Sie spielten zwar so gut wie nie Tennis, nahmen an allen Veranstaltungen nur als Zuschauer teil, gehörten aber dennoch zum festen Kern des Klubs.

  »Natürlich nicht«, erwiderte Pamela leichthin und schob sich die Sonnenbrille über die Stirn hinauf ins weiche hellbraune Haar.

  Alles an ihr war pastellfarben, vom Make-up bis zum Lippenstift, von den Sandaletten über den lavendelblauen Pulli bis zu den blaßgrauen Augen.

  Sie war großgewachsen, gut gebaut und elastisch, hatte Stil, wie Maxim nicht müde wurde, bewundernd festzustellen. Sie hatte Format.

  Leider hatte sie auch einen Ehemann, Lionel Wintrop, der zudem sein Freund war.

  Es gab Stimmen, die behaupteten, er hänge sich an die Wintrops, weil er es auf Pamela abgesehen hätte, und das nur aus dem Grund, weil ihm daraus keine Verpflichtung erwachsen würde.

  Eine vehemente Vertreterin dieser Meinung war seine Mutter Livia, und sie hielt damit nicht hinterm Berg.

  Maxim tat alle diesbezüglichen Anspielungen mit amüsiertem Schulterzucken ab.

  Er war Mitte dreißig, seit knapp sieben Jahren Witwer, finanziell unabhängig, schuldete niemandem Rechenschaft über sein Leben.

  »Nein, Max, wir essen nicht zusammen«, wiederholte Pamela heiter und schwenkte den Tennisschläger, dieses unentbehrliche Requisit, das stets im Rücksitz ihres kleinen Flitzers lag, um bei Bedarf vorgezeigt zu werden.

  »Warum nicht?«

  »Weil ich abends mit Lucille esse. Das weißt du doch.«

  »Du könntest eine Gurke zu dir nehmen oder ein Stück Ananas und später mit mir in das neue Steakhaus gehen. Lucille wird es gar nicht bemerken.«

  »O doch, sie wird. Sie ist sensibel, Max, ich darf ihre Gefühle nicht verletzen.«

  »Und was ist mit meinen Gefühlen?« Er stieß sie leicht mit dem Ellenbogen an und drohte spielerisch mit dem Tennisschläger.

  »Du bist erwachsen, obwohl es nicht immer den Anschein hat«, sagte Pamela lächelnd. »Lucille ist ein kleines Kind, und sie ist meine Tochter.«

  »Na ja, sooo klein ist sie schließlich auch nicht mehr!«

  »Vergiß nicht, daß sie ein Jahr jünger ist als Yannik, und im Gegensatz zu ihm ist sie ganztags in der Schule. Von ihr wird viel verlangt. Dafür muß ich ihr einen Ausgleich bieten.«

  Wie immer, wenn Pamela von Lucille sprach, senkte sie die Stimme. Je verhaltener sie klang, um so ernster meinte sie es.

  Maxim, der sie inzwischen besser kannte, als er seine eigene Frau gekannt hatte, hob die Schultern, lächelte in die blaue Frühsommerluft und gab auf.

  »Was habt ihr am Wochenende vor?« fragte er, als sie in ihr pastellgrünes Auto stieg.

  »Lionel ist in London, er will, daß wir ihn besuchen. In der Royal Festival wird ein großes Symphoniekonzert gegeben, und in Covent Gardens läuft ein sehr witziges modernes Stück. Kommst du mit? Ich rufe ihn gleich nachher an wegen der Karten.«

  »Ich sage dir nachher Bescheid«, rief Maxim ihr nach.

  Sie nickte, warf ihm eine Kußhand zu und ließ den Motor an.

  Es war halb vier. Um vier holte sie Lucille von der Internationalen Schule ab. Im Gegensatz zu ihm hielt sie solche und andere Termine mit großer Selbstverständlichkeit ein.

  Sie ist einfach phantastisch, dachte Maxim wieder einmal voll tiefer Bewunderung und schmerzlichem Bedauern, »sie ist die einzige Frau, die einen unbeugsamen Charakter hat und trotzdem das gewisse Etwas. Wie sie es nur immer schafft, uns alle in dieser Balance zu halten! Unglaublich! Ein reines Wunder. Trotzdem – schade, daß sie nicht mit mir essen geht!«

  Auf dem Weg in die Villa Rosengarten fiel ihm ein, daß er sich sofort nach Yanniks Klavierstunde erkundigen mußte, die er vorübergehend vergessen  hatte.

  Er fand seine Mutter im Garten vor, wo sie in orientalischen Pluderhosen durch die letzten Reihen der Rosenstöcke streifte und sich gerade die groben Handschuhe überzog.

  »Du kommst wie gerufen!« schmetterte sie ihm entgegen. »Hilf mir, die Erde aufzulockern und bring mir die Pflanzenschnur mit. Sie liegt auf der Mauer.«

  »Ich sollte mich wohl zuerst umziehen«, gab er zurück, in der Hoffnung, die Zeit zu gewinnen, daß sich seine Mitarbeit erübrigte.

  »Tu das! Aber halt dich nicht länger als zehn Minuten damit auf«, sagte Livia, die seine Gedankengänge unschwer erriet.

  »Warum haben wir eigentlich keinen Gärtner?« fragte sich Maxim murrend, während er in die alten Segelhosen stieg. Die Antwort kannte er, seit er auf der Welt war.

  Sie lautete: Gartenarbeit ist gesund für Leib und Seele, weil es eine schöpferische Tätigkeit ist, die an der frischen Luft ausgeübt wird.

  Livia stülpte gerade einen Strohhut auf die rostfarbenen Locken, als Maxim sich mit der Pflanzschnur näherte.

  »Vorsichtshalber«, murmelte sie und blinzelte zum wolkenlosen Himmel hinauf, »bedecke ich mich. Wer weiß, ob diese Perücken auf die Dauer nicht doch ausbleichen in der Sonne.«

  »Wenn schon«, entgegnete ihr Sohn gleichmütig, »dann rangierst du sie aus und kaufst dir eine neue. In deinem großen Sortiment fällt das doch gar nicht auf.«

  Livia umfing ihn mit einem kritischen Blick.

  »Lästere du nur! In ein paar Jahren wirst du dich im Spiegel ansehen und an mich denken! Ich gehe jede Wette ein, daß du mit fünfzig dein erstes Haarteil verschlissen hast.«

  »Niemals!«

  »Das ist in fünfzehn Jahren, mein Lieber, es ist gut möglich, daß ich es noch erlebe. Um was wetten wir?«

  »Um die ›Schöne von Stambul‹.«

  »Zwei Exemplare!« rief Livia stürmisch.

  Die ›Schöne von Stambul‹ war eine alte türkische Rosenzüchtung, deren sie bisher noch nie habhaft hatte werden können.

  »Du pokerst immer viel zu  hoch«, bemerkte Maxim tadelnd.

  »Das ist mein Temperament«, erklärte seine Mutter nicht ohne Stolz, »ich bin siebzig, aber ich sprühe immer noch, im Gegensatz zu einer gewissen englischen Lady, die nicht Fisch und nicht Fleisch ist. Je länger du mit ihr umgehst, um so langweiliger wirst du, Maxim, mein Sohn.«

  »Du bist einundsiebzig«, verbesserte er, und dabei beließ er es. Er hatte eine Kunstfertigkeit darin entwickelt, Diskussionen über Pamela auszuweichen.

  Zum Abendessen, das am aufwendig gedeckten großen Tisch im Erkerzimmer eingenommen wurde, gab es vier Gänge und dreierlei Getränke: Moselwein, Traubensaft und Mineralwasser.

  In der Villa Rosengarten galt die Abendmahlzeit als Höhepunkt des Tages und wurde entsprechen zelebriert.

  Livia erglänzte in Bischofslila, Ortrud trug ein weißes Stickereikleid, Tilde frisches hellblaues Leinen und Maxim einen leichten hellen Sommeranzug.

  Yannik hatte sich lediglich ein anderes T-Shirt angezogen.

  »Wie war es in der Klavierstunde?« erkundigte sich seine Großmutter angelegentlich.

  »Langweilig.«

  »Weil du schon alles kannst, nicht wahr? Aber warte nur, der Maestro wird dir noch viel beibringen.«

  »Er ist ein Schwindler«, erklärte Yannik und schob die Vorspeise angewidert von sich, »igitt, das ist ja Fisch!«

  »Es ist Lachs mit Meerrettich«, versetzte Ortrud kühl.

  »Kein Fisch?«

  »Doch, aber kein gewöhnlicher. Wie kannst du behaupten, Herr Bloomendal sei ein Schwindler?«

  »Weil er nicht nach Noten spielt.«

  »Du kannst Kritik an ihm üben, wenn du es so weit gebracht hast wie er«, entschied seine Großmutter, »vorher nicht. Morgen kaufen wir das Übungsheft, das er uns empfohlen hat. Wenn du den Lachs nicht ißt, nimm bitte etwas mehr von der Suppe!«

  »Was gibt’s danach?«

  »Spargel mit Schinken und Sauce Vinaigrette.«

  »Oh, gut. Welchen Nachtisch?«

  »Himbeermousse mit Schlagsahne.«

  »Super«, murmelte Yannik erfreut. Maxim beschloß, die gute Laune auszunutzen.

  »Wir fliegen am Freitagnachmittag nach London«, sagte er und gab seiner Stimme einen verheißungsvollen Klang.

  Yannik ließ sich jedoch nicht täuschen.

  »Nur du und ich?« fragte er mißtrauisch.

  »Du und ich«, versicherte Maxim, um etwas lahm hinzuzufügen, »und Lucille und Pamela.«

  »Neihein!«

  »Aber wir gehen in den Londoner Zoo. Weißt du nicht, wie berühmt der ist?«

  »Mir egal«, knurrte Yannik und zerfaserte eine Spargelstange.

  »Das tut einem ja in der Seele weh, wie du das Gemüse malträtierst!« zischte seine Großmutter.

  »Was hast du denn gegen London?« erkundigte sich Ortrud milde.

  »Nichts. Aber da muß ich immer ein kleiner Gentleman sein, das will ich nicht!«

  Livia hob sichtlich belustigt ihr Glas.

  »Schaden kann es dir nicht.«

  »Und Lucille ist immer so eklig.«

  »Yannik!«

  »Und so gemein!«

  »Das stimmt doch gar nicht!«

  »Wohl stimmt es! Sie ist ein Miststück!«

  »Yannik, das will ich nicht gehört haben!« grollte Livia mit Donnerstimme.

  »Schon gut«, sagte Maxim, ohne seinen Sohn anzusehen, »die Sache ist erledigt. Du bleibst hier. Ich zwinge niemanden, mit mir ins Wochenende zu fahren.«

  Minutenlang herrschte unbehagliche Stille am Tisch.

  »Ich kann’s mir ja noch mal überlegen«, brachte Yannik kleinlaut hervor.

  »Nicht nötig.«

  »Bist du vielleicht beleidigt, Papi?«

  »Nein, nur enttäuscht. Mach dir nichts draus. Ich bin dran gewöhnt.«

  »Hör auf damit, den Märtyrer zu spielen«, fuhr Livia dazwischen, »sprich mit dem Jungen wie ein Vater, nicht wie ein tragischer Held!«

  »Danke für die Unterweisung«, krächzte Maxim, dem ein Petersilienblatt in die Kehle gerutscht war. Er hustete minutenlang, schlug sich die Serviette vors Gesicht, sprang auf und stürzte mit einer gemurmelten Entschuldigung hinaus.

  »Er müßte unbedingt etwas für seine Nerven tun«, ließ sich Ortrud besorgt vernehmen.

  »Baldriantee«, schlug Tilde vor.

  »Ach was«, fauchte Livia, »was ihm fehlt, ist ein stinknormales, geregeltes Leben! Mehr Gartenarbeit, mehr Bewegung an der frischen Luft! Und du«, sie wandte sich an Yannik, »bist auch nicht gerade sehr hilfsbereit! Erst wetzt du dir den Schnabel auf Deubel komm raus an Lucille und sogar an deinem Klavierlehrer, und jetzt hockst du da wie ein Häufchen Unglück! Wenn du partout nicht mitfahren willst nach London, dann steh es auch durch!«

  Yannik seufzte schwer und stützte den Kopf in die Hand. Warum verstand ihn niemand?

  Keinesfalls wollte er das Wochenende in London mit den Wintrops verbringen. Er verabscheute sie alle drei: Pamela, Lionel und Lucille!

  Aber noch weniger wollte er seinen Vater kränken, der zwar nichts und niemanden vermißte, wenn er mit den Wintrops zusammen war und dennoch jedes Mal diesen Wirbel machte. Er tat gerade so, als hinge sein Lebensglück davon ab, daß Yannik und Lucille sich vertrugen wie Brüderchen und Schwesterchen.

  Obwohl das Gegenteil der Fall war und Yannik ihn immer wieder mit der Nase drauf stieß, wollte sein Vater dies einfach nicht wahrhaben.

  »Ja, was ist denn nun? Willst du mitfahren oder hierbleiben?« fragte Ortrud ungeduldig.

  »Wer viel fragt, kriegt viele Antworten«, bemerkte Tilde spitz.

  »Was wollen Sie damit sagen?« erkundigte sich Ortrud scharf.

  Tilde räumte schweigend den Tisch ab.

  »Ich weiß schon, was sie meint«, ließ sich Livia gedankenvoll vernehmen, »sie findet, daß wir Yannik zu viele Entscheidungen allein treffen lassen. Stimmts, Tilde?«

  »So ist es, Frau Langenfeld. Von dem Jungen wird stets das verlangt, was er selbst nie hört, nämlich ein klares Ja oder ein klares Nein.«

  »Von mir hört er dergleichen oft genug«, verwahrte sich Livia. »Übrigens, soll er ruhig lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.«

  »Wie Sie meinen, Frau Langenfeld«, murmelte Tilde mit schmalen Lippen und entfernte sich rückwärts durch die Schwingtür in den Wirtschaftstrakt.

  Yannik, der inzwischen die Glasschüssel mit der Himbeermousse geleert hatte, blinzelte seine Großmutter listig an. Ihm war gerade ein guter Gedanke gekommen.

  »Ich kann ja mitfahren nach London«, sagte er gedehnt, »wenn ich am Donnerstag nicht in die gräßliche Klavierstunde gehen muß.«

  »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« erkundigte sich Ortrud stirnrunzelnd.

  »Nichts«, antwortete Livia anstelle ihres Enkels, »nur daß ihm beides gleichermaßen zuwider ist.«

  An Yannik gewandt fügte sie grimmig hinzu: »Du hast ja wohl nicht ernsthaft geglaubt, ich ließe mich erpressen?«

*

  Lucille hatte blaßgraue Augen und blaßblonde Haare. Sie trug ihre Schuluniform, bestehend aus einem wadenlangen marineblauen Rock und passendem Blazer. In der Hand ein rotes Lackköfferchen, in dem sich, wie Yannik wußte, ihre Schulsachen befanden.

  Noch bevor sie im Flughafen angekommen waren, hatte sie bereits versucht, das Köfferchen loszuwerden. Aber ihre Mutter, die rechts eine Kosmetikbox und links eine einzelne in Folie verpackte Rose trug, hatte keine Hand frei.

  Maxim schwenkte sein Bordgepäck und zückte ihrer aller Tickets.

  »Yannik«, raunte er, »nimm Lucille doch bitte das Köfferchen ab.«

  »Nö. Warum denn?«

  »Du hast doch sonst nichts zu tragen.«

  »Sie auch nicht.«

  »Sei nett«, bat Pamela und lächelte auf ihn hinunter, »sei ein kleiner Gentleman.«

  Yannik starrte seinen Vater hypnotisch an.

  »Ich hab’s gewußt!« flüsterte er aufgebracht.

  »Komm jetzt, wir müssen durch die Sicherheitskontrolle.«

  Wie immer dauerte es eine Ewigkeit, bis Pamela alle Metallgegenstände vorgewiesen und abgelegt hatte, vom Fußkettchen bis zum Platinarmband.

  Lucille knallte ihr Köfferchen aufs Band, und als sie durch die Kontrolle gegangen war, ließ sie es einfach liegen.

  »Yannik«, Pamelas Stimme klang sanft verweisend, »bitte!« Sie wies mit der Rose auf das vertrackte rote Ding,

so, daß jeder annehmen mußte, er habe es vergessen. Wütend hob er es auf und trug es durch den Tunnel in die Maschine.

  Zu seiner Erbitterung gab es nur Zweierreihen. Die Frage, neben wem er sitzen würde, tauchte gar nicht erst auf.

  »Ihr habt ja reichlich Platz, ihr beiden«, bemerkte sein Vater wohlwollend.

  Pamela fügte lächelnd hinzu: »Sei ein kleiner Gentleman, Yannik, und laß Lucille ans Fenster.«

  »Nicht die ganze Zeit. Nur die Hälfte.«

  Niemand antwortete. Hinter ihm tauchten sein Vater und Pamela in ihren Sitzen unter, und Lucille kramte unentwegt mit der Hand in der Tasche ihres Blazers.

  Das hatte sie schon getan, als sie aus der Schule gekommen und in Maxims Wagen gestiegen war. Überhaupt wirkte sie heute noch muffiger und überheblicher als sonst.

  Sie hatte Yannik in der Tat einiges voraus, zum Beispiel, daß sie zwei Sprachen konnte, zwei Wohnsitze hatte und zwei Elternteile besaß, von denen einer, nämlich ihre Mutter, ständig verfügbar war.

  Aber da es immer noch besser war, mit Lucilles zu sprechen als mit niemandem, leitete er die Unterhaltung ein mit der Frage: »Warum willst deinen blöden Schulkoffer nicht tragen?«

  »Ich kann nicht.«

  »Doch, du kannst. Du bist nicht krank oder so was.«

  »Siehst du denn nicht, daß ich was anderes zu tun habe?« Lucille blieb abgewandt, kramte in ihrer Tasche und gab sich so geheimnisvoll, daß Yannik es nicht länger aushielt. Er zog sie so fest an ihren hellen Haarsträhnen, bis sie sich widerwillig nach ihm umdrehte, nicht ohne laut aufzuheulen.

  Auf den Sitzen hinter ihnen kam ein zweistimmiges: »Kinder, benehmt euch bitte!«

  »Yannik zieht mich an den Haaren!« schrillte Lucille, »dabei muß ich jetzt Sultan füttern! Sag ihm, er soll mich in Ruhe lassen!«

  Die Stimmen summten beruhigend im Hintergrund, aber Yannik hörte nicht zu. Er starrte Lucille verständnislos an.

  »Sultan? Wer ist das?«

  »Mein Hund.«

  »Du spinnst ja!«

  »Nein!«

  »Du bist ja hohl hier«, er tippte sich verächtlich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

  Irgendwoher ertönte ein schwaches Piepsen.

  »Wenn ich ihn jetzt nicht füttere, muß er sterben, und daran bist du schuld!« rief Lucille. Schon beugte sich ihre Mutter von hinten über die Sitzlehne.

  »Yannik, bitte! Lucille kann sich jetzt nicht um dich kümmern. Warte, bis sie mit Sultan fertig ist.«

  »Wer zum Teufel ist Sultan?« tönte es über die andere Sitzlehne, und Yannik verdrehte dankbar den Kopf nach seinem Vater.

  »Mein Hund!« jammerte Lucille.

  »Was? Wer?«

  »Sie meint doch nur ihr Tamagotchi«, säuselte Pamela und zog Maxim wieder neben sich auf den Sitz zurück.

  »Eigentlich ist es ein Ei«, erklärte sie geduldig, »es kommt aus Japan. Ein Spielzeug, verstehst du? Ein künstliches Tier, das zu bestimmten Zeiten gefüttert und betreut und schlafen gelegt werden muß. Es verkümmert, wenn man die Zeiten nicht einhält, es schrumpft und geht ein.«

  »Meine Güte!« stieß Maxim verdutzt hervor. »Warum tut man sich so was an?«

  »Es ist pädagogisch sinnvoll. Kinder lernen Verantwortung zu übernehmen. Ich bin sicher, die Tamagotchis setzen sich auch auf dem europäischen Markt bald durch.«

  »Ich habe noch nie davon gehört! Wie bist du daran gekommen?«

  »Lionel hat es aus Japan mitgebracht. Leider hält es nur zwei oder drei Wochen. Dann muß man es neu programmieren.«

  »So ein Quatsch!«

  »Sag das nicht, Max. Lucille kümmert sich rührend um Sultan. Ich hätte nie gedacht, daß sie so fürsorglich sein könnte, so zuverlässig! Sie ist schließlich erst sechs!« Pamela lehnte den Kopf ans Polster.

  »Sicher, sicher«, murmelte Maxim zerknirscht und tätschelte ihre Hand.

  »Gib ihn mir einmal«, bettelte Yannik, »nur ein einziges Mal.«

  »Nein.«

  »Warum nicht?«

  »Du machst ihn kaputt.«

  »Mach ich nicht!«

  »Doch, du bist immer so grob.«

  »Ich tu ihm nichts! Ich schwöre es! Großes Ehrenwort!«

  »Sultan gehört mir allein!«

  »Ich will ihn ja gar nicht haben, ich will ihn nur mal kurz halten!«

  »Nein, du kriegst ihn nicht.«

  »Kinder, seid friedlich«, kam es zweistimmung, »und legt eure Gurte an, wir landen in zehn Minuten!«

  Die Wohnung der Wintrops lag im ersten Stock eines ehrwürdigen großen Hauses aus den Zeiten der Königin Victoria in der Nähe des Regent-Parks.

  Die Räume waren fast drei Meter hoch, die Badewannen standen auf geschwungenen Füßen. Die Fenster öffneten sich nach außen, statt nach innen. Alle Türen hatten Drehknöpfe statt Klinken.

  Um eine Tür zu verschließen, brauchte man nur den Kopf zweimal herumzudrehen.

  Genau das tat Yannik am Abend dieses Tages, als er für ein Stündchen mit Lucille allein in der Wohnung war. Lionel hatte sie alle am Flughafen abgeholt, mit überschwenglicher Freude die Rose in Empfang genommen und Pamela und Maxim auf einen Drink in den Pub nebenan geführt. Lucille hatte Sultan gestreichelt und ihn mitsamt ihrem Lackköfferchen, ihrem Blazer und ihrer Schulkrawatte auf einem Mahagonitisch abgelegt, weil sie dringend ins Bad mußte.

  Genau dort hatte Yannik sie eingeschlossen, um endlich in Ruhe das Geheimnis des Tamagotchi zu lüften.

  Lucille, in der Annahme, daß sie den Kopf nur von innen zu drehen brauchte, um wieder hinaus zu gelangen, erreichte damit das Gegenteil. Sie verriegelte die Tür so gründlich, daß der alte Mechanismus sich nicht mehr bewegen ließ.

  Ohne auf ihr Geschrei zu achten, untersuchte Yannik das merkwürdige Kunststoffgebilde, dessen Töne ihn an seinen

Gameboy erinnerten.

  Es bedurfte zwar einiger Phantasie, um das kleine Wesen im Inneren als Hund zu definieren, aber egal, es bewegte sich und stellte von Zeit zu Zeit lautstarke Anforderungen. Yannik wußte nicht, was zu tun war, wenn es sich meldete, aber darauf kam es nicht an, denn im Moment schien es zufrieden zu sein.

  Um Lucille noch ein bißchen länger zu ärgern, beschloß er, Sultan zu verstecken.

  Er sah sich um, stieg auf einen Stuhl, öffnete ein Türchen in der Wand und hielt ein gerahmtes Foto in der Hand. Er stopfte das Tamagotchi ins Innere des Wandschränkchens zwischen einen Stapel Briefe, legte das Foto obenauf und klappte das Türchen zu.

  Dann sprang er wieder hinunter auf den chinesischen Teppich und rief Lucille zu, sie solle sich nicht so anstellen.

  »Mach auf«, jammerte sie und hämmerte wie wild gegen die Badezimmertür.

  »Ja, ja«, er drehte den Knopf zweimal nach links, ohne Erfolg, dann zweimal nach rechts.

  »Jetzt müßte es gehen«, murmelte er, aber nichts rührte sich im Schloß.

  Lucille schrie Zeter und Mordio. Sie machte ihm Angst. Er drehte und drehte, zerrte und rüttelte, taumelte rückwärts, prallte gegen den Mahagonitisch – und hielt den Türknauf in der Hand.

  Jetzt war Lucille auf sich allein gestellt, denn Yannik hatte nichts mehr, das er einsetzen konnte.

  Als er seinen Vater und die Wintrops endlich kommen hörte, fiel ihm einerseits ein Stein vom Herzen, andererseits sah er den diversen Schuldzuweisungen mit gemischten Gefühlen entgegen.

  Aus dem Bad kamen heisere, erstickte Schluchztöne, die fast nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ausnahmsweise empfand Yannik mit Lucille. Er konnte verstehen, daß sie sich noch einmal in ein ohrenbetäubendes Crescendo steigerte, als sie die Stimmen ihrer Eltern hörte.

  Lionel und Pamela, nachdem sie kopflos durch die riesige Diele zum Bad gestürzt waren, starrten einander entgeistert an und ergingen sich in Beruhigungen, die weder auf Yannik noch auf Lucille sehr glaubwürdig wirkten. In der Tat waren sie vollkommen hilflos. Zum ersten Mal erlebte Yannik, daß der unbewegte Lionel die Fassung verlor und Pamelas watteweiche Stimme zu klirren begann.

  Sie verlangte, er solle sofort einen Klempner holen. Er machte sie darauf aufmerksam, daß es sieben Uhr abends und noch dazu Freitag sei, daß sie sich in London befinde und nicht auf dem Land, wo man Gott und die Welt persönlich kenne.