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Umschlag: Collage unter Verwendung der Abbildung „Das junge Paar“ in den Neuruppiner Bilderbogen (um 1840/50) und der beiden Ölgemälde von Nicolai Sunde (Heiligenstadt 1857): Theodor und Constanze Storm (Originale in Privatbesitz, Kopien im Husumer Storm-Archiv).

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EINFÜHRUNG

Vor einigen Jahren hat Regina Fasold im Auftrage der Theodor-Storm-Gesellschaft die 222 Briefe, die der junge Theodor Storm und seine Verlobte Constanze Esmarch in den Jahren 1844–1846 miteinander gewechselt haben, in einer Kritischen Ausgabe herausgegeben. Diese Edition hat der Stormforschung und den Stormfreunden die Möglichkeit gegeben, einen Blick zu tun in eine ganz persönliche, z. T. sehr intime Korrespondenz zwischen zwei jungen Menschen, zwischen einer 19jährigen Bürgermeistertochter und einem 27jährigen angehenden Dichter.

Die Bedeutung dieser Briefveröffentlichung ist deshalb so groß, weil alle bisherigen Storm-Biographien auf dem liebenswerten, aber geschönten und unvollständigen Bild basieren, das Gertrud Storm, das siebente Kind des Dichters und das letzte Kind Constanzes, überliefert hat.

Auf der Basis der Briefveröffentlichung von Regina Fasold (vgl. Lit.-Verz. S. 122) und ihres instruktiven Anmerkungsteils läßt sich nun ein neues Bild von der konfliktreichen Verlobungszeit, aber auch von der Persönlichkeit des jungen Storm und seiner Braut zeichnen. Wie die Auswertung der Briefe, die Goethe mit Frau von Stein1 und mit Christiane Vulpius2 oder Thomas Mann mit Katja, geb. Pringsheim, 3 gewechselt haben, das Bild der Dichter wie ihrer Frauen neu beleuchtet hat, so wird in dem vorliegenden Band versucht, der Gestalt des jungen Theodor Storm und seiner acht Jahre jüngeren Verlobten neue Konturen zu geben. Darüber hinaus eröffnen die Briefe die Möglichkeit, das komplizierte Verhältnis zwischen den Verlobten zu entschlüsseln, den angehenden Dichter zu beobachten und die Welt, in der er bzw. Constanze lebten, kennenzulernen. Diese Welt ist die Kleinstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Welt der bürgerlichen Gesellschaft, der sie angehörten. Aber es wird von Anfang an deutlich, daß Storm und – auf sein Drängen hin – auch Constanze aus dieser kleinstädtischen Welt hinausstrebten, daß sie versucht haben, Ideale der Goethezeit zu verwirklichen und sich mit der Musik und Literatur über die philisterhafte Welt zu erheben.

Besonders interessant ist der Briefwechsel, weil Theodor Storm und Constanze Esmarch – obwohl sie als Cousin und Cousine eng miteinander verwandt sind – ganz unterschiedliche Naturen waren, Theodor: empfindsam, sinnlich und fordernd; Constanze: ruhig, natürlich, zur Passivität neigend. Außerdem hatte der eine die „große Welt“ gesehen (Lübeck, Kiel, Berlin), die andere war aus Segeberg nicht herausgekommen. Deshalb ergaben sich Konflikte, waren Krisen zu überwinden. So ist ihre Korrespondenz nicht immer von freundlichem Miteinander, sondern oft von unerfreulichem Gegeneinander gekennzeichnet.

Um so bemerkenswerter ist es, daß diese Verlobungsbriefe bis auf wenige Ausnahmen bis heute vollständig erhalten und selbst Teile, die als kompromittierend empfunden werden können, weder von den Verlobten selbst noch von ihren Nachfahren vernichtet worden sind. So setzen die Brautbriefe, die Theodor Storm und Constanze Esmarch miteinander gewechselt haben, den heutigen Leser in den Stand, einen unverfälschten tiefen Blick zu tun in die gesellschaftlichen Verhältnisse einer kleinen Stadt (Husum und Segeberg) und in das intensive Verhältnis zwischen einer Braut und einem Bräutigam in der Mitte des 19. Jahrhunderts, darüber hinaus aber auch in die komplizierte Seelenlage und Stimmungswelt eines Bräutigams, der sich in diesen Jahren zu einem der bedeutendsten Dichter von Liebesgedichten seiner Zeit entwickelte.

DIE LIEBE KAM „WIE VOM HIMMEL HERAB“

Constanze Esmarch, die Tochter des Segeberger Bürgermeisters, und Theodor Storm, der Sohn des Husumer Rechtsanwalts, kannten sich als Cousine und Cousin von Kindesbeinen an. Das war eine Kinderliebe, die sich in Haus und Garten austobte (BB II). Später jedoch, in der zweiten Hälfte des Jahres 1843, als die 18jährige Constanze in Theodor Storms Husumer Elternhaus lebte, haben sich zunächst keine näheren Beziehungen zwischen ihnen ergeben. Um so erstaunter waren die Familie und die Freunde, als Constanze und Theodor Ende Januar 1844 ihre Verlobung bekanntgaben. Wie es dazu gekommen war, läßt sich aus Erinnerungsbruchstücken und Mitteilungen, die sie später ihren Briefen anvertraut haben, rekonstruieren.

Als Tochter des Segeberger Bürgermeisters Ernst Esmarch war Constanze in einem gutbürgerlichen Hause aufgewachsen, hatte allerdings nur eine mäßige Schulbildung genossen. Mit 18 Jahren wurde sie nach Husum geschickt, um in Storms Elternhaus eine neue Welt und einen größeren Haushalt kennenzulernen. Theodor Storms Vater war ein Schulfreund ihres Vaters (beide hatten die Husumer Gelehrtenschule besucht), und Storms Mutter war eine Schwester ihrer Mutter (eine geborene Woldsen); Constanze und Theodor waren also Cousine und Cousin ersten Grades4. Trotzdem sind sie sich während der fünf Monate ihres Aufenthalts in Theodors Elternhaus weitgehend fremd geblieben.

Theodor lebte im Jahre 1843 sozusagen in einer anderen Welt als Constanze. Bereits mit 17 Jahren hatten ihn seine Eltern von Husum weg nach Lübeck geschickt, damit er auf dem dortigen Katharineum seine Schulbildung vollende. Er hatte dann in Kiel und Berlin Jura studiert, war nach bestandenem Examen im Herbst 1842 nach Hause zurückgekehrt, hatte zunächst in der Rechtsanwaltspraxis seines Vaters gearbeitet, dann aber sein Elternhaus verlassen, in der Husumer Großstraße eine eigene Rechtsanwaltspraxis aufgemacht und eine eigene Wohnung bezogen (März 1843). Das war ein erster Versuch des jungen Storm, sich nach dem Studium neu zu orientieren. Er hatte lange Zeit – während des Studiums und wohl auch in den ersten beiden Jahren nach seiner Rückkehr – „ziemlich locker gelebt“ (I 381 f.), der „Weiber Gunst erfahren“ (I 94), sich in „Liebschaften“ verzettelt, die „mit der Liebe nichts zu thun“ hatten (I 339), und wollte nun seinem Leben neue Akzente verleihen. Zeitweise meinte er, es in Husum „nicht länger aushalten“ zu können; ja, er spielte sogar mit dem Gedanken, seine Heimatstadt zu verlassen (gegen Ende 1844, vgl. II 133). Unzufrieden und unglücklich war er auch deshalb, weil seine große Liebe, die Hamburgerin Bertha von Buchan, seinen Heiratsantrag zurückgewiesen hatte. Diese Absage hatte ihn – wie er seinem Freund Theodor Mommsen bekannte (M 70) – „in einen Abgrund von Traurigkeit“ gestürzt, ja, er glaubte, „die Liebe zu diesem Kinde“ werde sein Leben „noch schlimm verwüsten“, und stöhnte: „Ich entbehre hier alles, den Freund und die Geliebte; ich verfalle noch gegen meine Natur in Langeweile“ (M 34 f.).

Vorübergehend bildete das Sammeln für das Müllenhoffsche Sagenbuch und für das „Liederbuch dreier Freunde“ ein Betätigungsfeld, das eine gewisse Befriedigung mit sich brachte. Nachdem aber Mommsen als treibender Motor ausgefallen, das „Liederbuch“ fertig redigiert war (Anfang 1843)5 und auch die Gründung eines „Singvereins“ in Husum zunächst mehr Schwierigkeiten als Erfolge mit sich brachte6, spürte Storm die Gefahr, den sogenannten „Vergnügungen“ zu verfallen (II 110) und aus Ermangelung an edlen Naturen mit den „Wüsten“ Umgang pflegen zu müssen (I 315). Auf der Suche nach dem „Poetischen“, das – wie er meinte (I 61) – „in seiner Natur lag“, und mit dem Wunsch, „alles geistig zu erheben“, war er von seiner Umgebung enttäuscht. Es fehlte der „beständige und lebendige Gedankenaustausch“ mit den Kieler Freunden; er vermisste den „Nachsommer der Studentenjahre“ (I 185; M 68). In diesem Zustand übersah er seine Cousine Constanze zunächst völlig, obwohl es in der zweiten Hälfte des Jahres 1843, das Constanze in Storms Elternhaus in der Hohlen Gasse verbrachte, genügend Gelegenheiten für Theodor Storm und seine Cousine gab, sich zu begegnen, miteinander zu sprechen, zu scherzen und zu tanzen. Dabei mußte Constanze Theodor eigentlich aufgefallen sein: Sie war schön, „eine stolz und hochgewachsene <Frau> mit zugleich groß und feingeschnittenen Gesichtsformen und schönen ernsten grauen Augen unter breiten Lidern“ (P 8). Sie wird als lebensfroh, ja geradezu als „übermütig“ bezeichnet, war musikalisch, sang und tanzte gern (G I 168, BB II), war aber, wie sie selbst sagt (I 117), „noch ein Kind“, das wenig erlebt und wenig von der großen Welt gesehen hatte.

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1 Constanze Esmarch, um 1844, 18 Jahre alt. Zeichnung von Friedrich Feddersen im „Album für Constanze“

(Original und Foto: StA – Husum)

Zum erstenmal sind sich Constanze und Theodor Storm am Weihnachtsabend 1843 wirklich , begegnet‘. In der „Vorstube“ des Stormschen Elternhauses – so erfahren wir aus ihren Briefen (I 201, 220) – war man damit beschäftigt, die Lichter am Weihnachtsbaum anzuzünden. Constanze saß in der „großen Stube“ an der einen Seite der großen Uhr, Theodor an der anderen Seite, und Constanze weinte vor Heimweh; da hat Theodor sich ihr zugewendet und sie getröstet.

Constanze hat später behauptet, daß damals „eine Art Liebe“ in ihr Herz gekommen sei (II 123). Das mag für sie stimmen; für Theodor aber offensichtlich nicht. Auf einem Maskenball jedenfalls, der kurze Zeit später stattfand, hat er „nicht ein einziges Mal“ mit ihr getanzt, sich überhaupt nicht um sie gekümmert. Das hat sie „unendlich“ geschmerzt (II 123).

Spielerisch nähergekommen sind sich Constanze und Theodor dann auf einem geselligen Abend im Elternhaus, Anfang Januar 1844. Wir haben zufällig einen brieflichen Bericht einer Augenzeugin darüber (G I 171): „Constanze war fast übermütig. Theodor und sie machten sich gegenseitig Liebeserklärungen. Wir wurden alle zu Zeugen aufgerufen, daß Theodor Constanze die Ehe angetragen und Constanze sie angenommen habe. Wie es geworden ist, weiß ich nicht“.

Ein entscheidendes Erlebnis wurde für beide der kleine Ball, der am 14. Januar 1844 anlässlich des 24. Geburtstages von Storms Schwester Helene gegeben wurde. Constanze hatte sich in ihrem kindlichen Übermut auf Storms „Schooß und in seinen Arm“ gesetzt, und er hatte, ohne daß ihm „damals klar bewußt“ war, was er tat, gleichsam „wie im Traum“, sich ihrer „lieben Hand bemächtigt“ (I 201, 342). Bereits wenig später, auf einem Spaziergang, haben sie sich dann verlobt (I 220, II 385).

Diese schnelle, ja, man muß sagen, überstürzte Verlobung gibt uns einige Rätsel auf; nicht so sehr von Constanzes Seite: Ihr gefiel offenbar der junge Rechtsanwalt, der wie sie Musikliebhaber war, der tanzen konnte und eine , gute Partie‘ war. Theodor dagegen hatte für Constanze zuerst kein Interesse, er krankte noch an der Zurückweisung seines Heiratsantrags durch Bertha von Buchan, ihm fehlten Freunde und ein wirklicher Lebensmittelpunkt. Da erschien auf der Bildfläche plötzlich ein schönes, unbefangenes, lebensfrohes Mädchen, und er glaubte, sie könnte seinem Leben wieder einen Sinn geben: das war Constanze. Nicht Liebe also, sondern die Überlegung, daß er mit diesem Mädchen ein neues Leben anfangen könnte, war die Triebfeder für seine Verlobung. Das hat er später mehrfach selbst bestätigt (z. B. II 398; vgl. 385). Das bestätigt auch ein Abschnitt aus einem Brief vom 2. Mai 1844, in dem Friederike Jensen, die spätere Frau von Storms Bruder Johannes, einer Freundin in Flensburg ein entsprechendes persönliches Geständnis Storms mitteilte: „Th.<eodor> ist sehr aufrichtig zu mir, und spricht mit mir Manches was er wohl zu Keine<m> sonst sagt. Sein Verhältniß zu Constance hatt eine ganz andere Wendung genommen, erst war es, nach seiner heiligen Versicherung, nur eine Vernunftparthie. Th.<eodor> hat wohl früher ziemlich locker gelebt, hat wohl mit Liebe Scherz getrieben, hat sie wohl zu seinem Spielball gemacht. Er hat wohl um einige junge Mädchen angehalten, aber, o unerhörtes Schicksal, mit Körben zurück geschickt. Er sah Constance, ihm war dies Leben hier als Junggesell zu langweilig, sie war schön, worauf er sehr viel sieht, und er glaubte, mit ihr glücklich zu werden. Dies hat er mir selbst gesagt, darum wählte er grade Constance, nicht aus Liebe. Jetzt ist es aber gottlob anders, jetzt liebt er Constance wie gewiß der zärtlichste Bräutigam und wird gewiß glücklich.“ (Original: StA – Husum, vgl. I 382). Storm gesteht hier, daß er sich nicht aus Liebe mit Constanze verlobt hat, sondern aus „Langeweile“. Er wollte seinem langweiligen Junggesellenleben einen Sinn geben.

Die Mitteilung der jungen Leute, daß sie sich verlobt hätten, hat die Familie zunächst schockiert. Storms Vater konnte sich nur schwer von seinem „Erstaunen“ erholen. Er war – wie er seinem Schwager Esmarch nach Segeberg schrieb – gegen „Familienheiraten“ (also Heirat zwischen Cousine und Cousin) und hatte Bedenken wegen der „Launenhaftigkeit“ seines Sohnes. Sonst aber – so meinte er – war „das Fortkommen des jungen Paares ziemlich gesichert“; Theodor sei „sehr gescheit und arbeitstüchtig“ (G I 172 f.). Der Vater stellte allerdings die Bedingung, „daß die Heirat 1½ bis 2 Jahre hinausgeschoben“ werden sollte.

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2 Theodor Storm 1852, nach einer Daguerreotypie vom Dezember 1852 in Berlin. Frühestes Foto von Theodor Storm

(Reproduktion aus dem „Deutschen Dichterbuch aus Schwaben“ von 1864: StA – Husum)

Dieser – offenbar bewußt gewählte – lange Zeitraum sollte den jungen Leuten die Gelegenheit geben, ihre überstürzte Verlobung in Ruhe zu überdenken; außerdem erhielt der junge Rechtsanwalt damit die Möglichkeit, seine Studentenschulden (Spielschulden?) abzuarbeiten und seine wirtschaftliche Existenz auf eine sichere Basis zu stellen. Nach einigem Hin und Her durfte Constanze noch bis Ostern in Storms Elternhaus bleiben. Storm meinte in einem Brief an den zukünftigen Schwiegervater vom 7. Februar 1844: „Wenn wir uns nicht gleich heirathen können, warum sollen wir dann nicht wenigstens so viel als möglich zusammensein?“ (E 14). Er hat Constanze dann Ostern 1844 selbst nach Segeberg gebracht.

Nach seiner Rückkehr aus Segeberg begann zwischen Husum und Segeberg ein sehr intensiver Briefaustausch, der tiefe Einblicke gewährt in die Seligkeiten und die Qualen, die die Briefpartner sich gegenseitig zugefügt haben. Es war eine Korrespondenz zwischen zwei sehr verschiedenen jungen Menschen, einer in einer Kleinstadt aufgewachsenen heiteren Bürgermeistertochter und einem grüblerischen und reizbaren angehenden Dichter. Um es in Storms Worten auszudrücken: In den Brautleuten begegneten sich „kindliche Unbefangenheit“ und „launige Heftigkeit“ (an Constanze am 24. 5. 1844 = I 84).

Schon früh, in einem der ersten Briefe, die Storm seiner Braut nach Segeberg schickte, tauchen Gedanken auf, die uns überraschen und die wir erst in einem viel späteren Lebensabschnitt erwarten. Am 24./25. April 1844 schrieb er ihr rückblickend auf ihre Verlobung: „Kam’s Dir denn nicht auf einmal wie vom Himmel herab? glaub es immer: Liebe ist unmittelbare Gottheit. Liebe ist Andacht, ja Liebe ist schon Religion“ (I 42).

Hier war Storm möglicherweise von Immermann und Feuerbach beeinflußt7, aber wohl mehr in seinen Formulierungen als in seinen Überzeugungen. In der Sache war Storm selbständiger, als allgemein angenommen wird. Denn hinter seinen Formulierungen stand ein tiefes inneres Bedürfnis, das Bedürfnis, die „Liebe“, die nach seinem Eingeständnis seine Verbindung mit Constanze nicht herbeigeführt hat (s. o.), in den „Himmel“ zu heben. Storm hat hier versucht, seine Verlobung, die aus Vernunftgründen überstürzt oder „im Traum“ zustandegekommen war (I 201), auf eine Ebene hochzustilisieren, die seinen geistigen und seelischen Ansprüchen genügte und seinem Leben einen „Sinn“ gab. Die „Liebe“ sollte ihn selbst und seine Braut – wie er immer wieder betonte – bewahren vor der „gewöhnlichen Oberflächlichkeit“ (I 31), vor dem „Schmutz der Geschäfte“ und vor einem „philisterhaften“ Leben, wie es die Eltern „eigentlich“ führten (I 33). Die Liebe sollte ihm helfen, sein Dasein „geistig zu erheben“ (I 61), ihn aus dem „lockeren“ Leben (s. o.), das er bisher geführt hatte, herauszuholen.

Der hohe Stellenwert, den er seiner Verbindung mit Constanze gab, ermöglichte ihm dann auch, von dem unschuldigen jungen Mädchen, von der unbefangenen Bürgermeistertochter, die „grenzenloseste“ körperliche Hingabe zu fordern (I 32) und diese Forderung zu rechtfertigen.

Constanze, so sehr sie Theodor liebte, so offen sie seiner Liebe entgegenkam, ist es nicht leicht gefallen, dem Drängen ihres Partners nachzugeben. Sexuelle Beziehungen vor der Hochzeit waren damals in bürgerlichen Kreisen verpönt. Schon den Verdacht, mit einem jungen Mann in ein intimes Verhältnis getreten zu sein, konnte man nicht auf sich sitzen lassen. Therese Aschenfeld, die Tochter des Segeberger Postmeisters, hat z. B. in einem Brief an ihre Freundin Constanze vom 8. 5. 1844 (gerade, als dieses Problem für Constanze akut geworden war) ausdrücklich beteuert, daß ihr Geliebter sie immer nur „bis an die Haustür“ begleitet habe und daß sie nie allein, sondern nur in Anwesenheit Dritter mit ihm zusammen gewesen sei (I 372). So hat auch Constanze Theodors Drängen zunächst zurückgewiesen und geziemend in Schranken gehalten. Noch Jahre später hat sie ihn an sein „nicht so ganz ehrerbietiges“ Verhalten auf der Rückfahrt (in der Kutsche) nach Segeberg zwischen Neumünster und Ricklinger Mühle erinnert, wo er „hinten“ ihr „Kleid“ und ihr „Korsett“ geöffnet und sie nachher so sehr darüber geweint habe (II 207).

Constanze hat wahrscheinlich Ostern 1844 (Storm hatte Constanze nach Segeberg in ihr Elternhaus begleitet, war dort acht Tage geblieben und dann nach Husum zurückgekehrt) dem Drängen ihres Verlobten nachgegeben. Sie war 19 Jahre alt und ganz erfüllt von der Liebe zu Theodor Storm, zu einem Mann, der gut aussah, der empfindsam war, der Interesse für Musik und Dichtkunst hatte, einen einträglichen Beruf ausübte, in interessanten und , besseren‘ Kreisen verkehrte, ein Mann, der sie stürmisch liebte und der ihr nähergekommen war als jemals vorher irgendein Mann. Schließlich war ihr Bräutigam ein Mann, der zartfühlend sein konnte und für ihre Schönheit empfänglich war; z. B. wie an „jenem Abend“, wo er „mit vielem Herzklopfen“ so „nach und nach“ ihr den Handschuh auszog, „um die liebe warme Hand“ in der seinen zu fühlen (I 342). Constanze konnte – das ergab sich aus der Situation und aus der bürgerlichen Welt, in der sie lebte – in ihrem Umfeld keinen interessanteren Mann finden als Theodor Storm. So darf man sich nicht wundern, daß sie sich Ostern 1844 ihrem Verlobten anvertraute und hingab, oder – wie er sich ausdrückte (I 32) – ihm ihre „grenzenloseste Hingebung der Seele, des Leibes, alles Denkens“ entgegenbrachte.