Ingrid Müller-Münch

Die geprügelte Generation

Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen

Impressum

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Klett-Cotta

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Jan Lederbogen

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94680-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10288-8

 

Für Till, mit dem ich eine glückliche Kindheit erlebt habe.

Was war der Anlass für dieses Buch und wovon handelt es?

Zu meiner Kindheit gehört Lakritzwasser, das meine Oma aus kleinen, sorgfältig von einem großen schwarzen Brocken abgeschnittenen Stückchen herstellte. Und das von mir ebenso gerne getrunken wurde wie eine Generation später von meinem Sohn die Orangenlimonade. Zu meiner Kindheit gehört der Nudelsalat, der am Abend vor Familienfesten mit Tomaten, hartgekochten Eiern und Gewürzgurken angesetzt wurde und erst kurz vor seinem Verzehr die Mayonnaise hinzubekam. Zu meiner Kindheit gehört aber auch der Kochlöffel. Nicht als Küchenutensil, sondern als Schlaginstrument. Immer dann, wenn ich tagsüber irgendwie »muksch« gewesen war, nicht pariert hatte – wie es so schön hieß –, dann wurde mein Vater, da hatte er sein Jackett noch nicht an die Garderobe gehängt, schon mit den Worten begrüßt: Das Kind hat heute Widerworte gegeben. Eine Information, die ihn mit einem genervten Seufzen die Küchenschublade aufziehen und den Kochlöffel herausholen ließ. Dann ging es ab ins Wohnzimmer, wo ich schon dessen harrte, was nun folgen würde. Und dann setzte es was. Aber nicht zu knapp. Ich hatte, wenn man so will, eine für die 50er und auch die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ganz normale Kindheit.

Deshalb, weil sie so normal war, habe ich eigentlich nie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht mit Freunden, nicht in meiner Freizeit bei Bier oder Wein, nicht bei politischen Diskussionen, einfach nie. Dabei hat mich diese Vergangenheit die ganze Zeit beschäftigt, ganz hinten in meinem Kopf. Hat meine Gefühle beeinflusst, mein Verhalten geprägt, war mitverantwortlich für Ängste, die mich begleiteten, für Beziehungsprobleme, die ich hatte. Irgendwie war dieser Vertrauensbruch meiner Eltern, den ich bei jeder Tracht Prügel schmerzlich empfand, nie mehr aus meinem Leben wegzudenken. War immer da. Übertrug sich auf andere. Hat aus mir einen Menschen gemacht, der lange Jahre mit dem Gefühl durch die Welt ging: Keiner liebt mich! Ein Gefühl, das ich für mein höchst eigenes, besonderes, individuelles hielt.

Doch als ich die ersten geprügelten Kinder meiner Generation für dieses Buch interviewte, stellte ich fest: Den meisten von ihnen erging es genauso. Auch sie hatten die Schläge ihrer Kindheit kaum jemals thematisiert. Es lohnte sich ja nicht über etwas zu reden, was sowieso fast jeder kannte und das einfach ganz normal zur Kindheit dazu gehörte! Damals! Es wusste doch jeder, dass man zu Hause »Senge« bekommen hatte. So what? Was noch groß darüber lamentieren?

Auch bei meinen Interviewpartnern waren die Prügel ihrer Kindheit bis in die Seele vorgedrungen. Die Erinnerung daran hat die meisten ihr Leben lang begleitet. Hat bei dem einen das über Jahrzehnte andauernde Gefühl ausgelöst, keiner sieht mich, keiner mag mich, ich bin böse, ich bin ein Nichts! Denn jedes geprügelte Kind schleppt diesen schmerzhaften Ausdruck von Verachtung, der durch einen schlagenden Vater, eine ohrfeigende Mutter ausgedrückt wird, mit sich herum. Unsicherheit, Vertrauensschwund, mangelndes Selbstbewusstsein, Depressionen und Verlustängste sind oftmals die langanhaltenden Folgeschäden der Misshandlungen, die diese Menschen als Kinder erlitten.

Andere haben sich trotzig aufgebäumt, nun erst recht gesagt, und sich einem anstrengenden bewegenden Leben mit der Haltung gestellt: Ich habe die Prügel als Kind überlebt, nun kann mir heute wirklich keiner mehr etwas anhaben! Manch einer befreite sich durch eine Therapie, durch eine besondere Erfahrung, manchmal auch durch das Erleben einer anderen, glücklicheren Kindheit der eigenen Söhne oder Töchter.

Als sich vor Jahren eine Frau bei mir meldete, um mir zu berichten, sie sei als Kind in diversen katholischen Kinderheimen misshandelt worden, reagierte ich ausgesprochen desinteressiert. Für mich war das irgendwie kein Thema. Jeder wusste doch, dass Nonnen prügelten, Lehrer »Tatzen« verteilten, Eltern Kinder ohrfeigten. Wo war da die News? Später, als die misshandelten Heimkinder für Schlagzeilen sorgten, ihnen Entschuldigungen und Wiedergutmachungen zugesprochen wurden, fragte ich mich: Wieso habe ich damals nicht reagiert? Ich hatte offenbar das Thema nicht gesehen. Wollte ich es nicht wahrhaben? War es für mich zu normal?

Insofern verdanke ich es in gewisser Weise dem Augsburger Bischof Walter Mixa, dass ich mich endlich mit Prügeln und Schlägen in der Kindheit meiner Generation beschäftigte. Als erste Vorwürfe gegen ihn laut wurden, horchte ich auf. Nahm zur Kenntnis, dass er darauf bestand, er habe als Stadtpfarrer von Schrobenhausen »zu keiner Zeit in irgendeiner Form körperliche Gewalt« gegenüber Kindern ausgeübt. Da habe er »ein reines Herz«. Während sich immer mehr seiner damaligen Opfer meldeten. Von Boxhieben auf die Brust war da die Rede, durch die Kinder gegen die Wand geschleudert worden sein sollten. Von Schlägen mit Stöcken, die zerbrachen und durch Gürtel ersetzt wurden. Die Vorwürfe wurden immer belastender, so dass sich der beschuldigte Bischof endlich entschloss, schon weitaus kleinlauter einzuräumen, er könne »die eine oder andere Watsch’n vor 20 oder 30 Jahren nicht ausschließen«. Dabei fügte er hinzu, eine Ohrfeige als erzieherische Maßnahme sei damals »vollkommen normal« gewesen, »und alle Lehrer und Schüler dieser Generation wissen das auch.«1

Ich habe nachgerechnet und bin zu dem Ergebnis gekommen: Das stimmt einfach nicht! Die Vorwürfe gegen ihn betrafen nicht etwa die 50er und 60er Jahre, in denen so etwas tatsächlich noch »vollkommen normal« gewesen wäre. Seine Misshandlungen, die nach Aussagen seiner Opfer mit Faust, Stock oder Teppichklopfer durchgeführten Prügel, fanden in den 80er und 90er Jahren statt. Zu einer Zeit, als es längst Kinderläden und alternative Pädagogik gab, sich die geprügelten Kinder gegen ihre Eltern aufgelehnt hatten und diese versuchten, anders mit ihren Sprösslingen umzugehen. Als offiziell schon längst Schläge an Schulen und in Heimen verboten waren. Und es erste heftige Debatten darüber gab, ob man derartig drakonische Strafen nicht auch in den Familien sanktionieren müsse.

Seine Geschichtsklitterung empörte mich. Sollte hier etwas vertuscht werden? Sollte hier eine Entwicklung verharmlost und negiert werden, die mit der 68er Studentenrevolte umschwang und im Jahr 2 000 dann zu dem eindeutigen Verbot führte, Kinder innerhalb der Familien körperlich zu züchtigen?

Erwähnenswert ist in der darauffolgenden Auseinandersetzung um Mixas »Watsch’n« die Position des Theologen und Sozialwissenschaftlers Wolfgang Ockenfels, der mit den Worten zitiert wurde: »Es ist absurd, wie aus ›Backpfeifen‹ Prügelorgien wurden. Dann könnte man ja sämtliche Angehörige der älteren Generation, die ihre Kinder in den 50er, 60er und 70er Jahren hin und wieder mit Ohrfeigen gezüchtigt haben, belangen. Es erscheint mir lächerlich, wie heute naseweise Typen Backpfeifen zu Anschlägen gegen die Menschlichkeit deklarieren.«

Ist es tatsächlich lächerlich, wenn das Prügeln von Kindern zu Anschlägen gegen die Menschlichkeit deklariert wird? Ist es nicht eine geradezu unverschämte Verharmlosung, die brutalen Erziehungsmethoden vieler damaliger Eltern lediglich zu ein paar harmlosen Backpfeifen herunterzuspielen? War die seinerzeit den Kindern gegenüber ausgeübte Gewalt nicht Körperverletzung? Je nach Art der erlittenen Wunden sogar ein Anschlag gegen die Menschlichkeit?

Ich beschloss, hier zu recherchieren. Und zwar nicht in Heimen, darüber ist ja seit Mixas zögerlichem Eingeständnis und dem nicht mehr zu überhörenden Aufschrei von Heimkindern viel, sehr viel berichtet worden. Mich interessierte die Erfahrung, die Kinder zu Hause mit strengen, vor Gewalt nicht zurückschreckenden Eltern gemacht hatten, die zu Kochlöffel und Teppichklopfer griffen, wenn ihnen der Geduldsfaden riss.

Die Antworten, die ich bekam, waren so verblüffend, dass ich mich fragte, wie dieses Thema so lange unter Diskretion und Sprachlosigkeit begraben bleiben konnte.

Zunächst scheint es üblich gewesen zu sein, in den 1950ern und 1960ern, Kinder durch Prügel zur Raison zu bringen. Die einen wurden heftig und mit System geschlagen, andere hatten lediglich ab und zu Ohrfeigen bekommen. Einige waren verschont geblieben, hatten aber mit Gleichaltrigen gespielt, von denen sie wussten, dass die zu Hause Senge bekamen. Eine Tracht Prügel – die kannte fast jeder meiner Altersklasse, den ich hierauf ansprach. Ob aus eigener Erfahrung oder vom Hörensagen, lediglich das unterschied sich.

Ich begann, die ersten dieser nun lange schon erwachsenen Kinder zu interviewen. Zunächst für Rundfunkfeatures bei WDR5 und SWR 2. An Interviewpartnern mangelte es nicht. Ich habe nicht nach besonders krassen Beispielen gesucht, sondern habe die genommen, die sich mir gegenüber als geprügeltes Kind outeten. Habe weiter gesucht, diejenigen interviewt, die dazu bereit waren. Als Ergebnis meiner Recherche kann ich sagen: Ich bin auf eine geprügelte Generation gestoßen.

Dabei fühlte ich mich ausgesprochen kompetent, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man als Kind von den Eltern verhauen wird, den Grund für die erhaltenen Schläge längst nicht mehr gegenwärtig hat, sie manchmal gar nicht versteht, danach ins Bett geschickt wird. Die Interviews zeigten mir, dass ich mich in Gesellschaft befinde mit diesem Gefühl des Alleingelassenseins. Und zwar in einer großen Gesellschaft.

Was genau war diesen Kindern damals, in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – nicht etwa in irgendwelchen Heimen, sondern zu Hause von Vater und Mutter – angetan worden? Was hatte die Eltern bewogen, ihre Kinder so lieblos, so gewalttätig, teilweise geradezu brutal zu misshandeln? Was lösten die Schläge bei den geprügelten Kindern aus? Wie alt waren diese Kinder, als sie anfingen, sich dagegen aufzulehnen? Wie haben sie die erlittene Schmach verarbeitet? Wie sind sie selbst als Erwachsene mit ihren Kindern umgegangen? Haben sie jemals mit ihren Eltern darüber gesprochen, ihnen verziehen, sich mit ihnen versöhnt oder mit ihnen gebrochen?

Fragen, die ich in den nachfolgenden Kapiteln aus der subjektiven Sicht der einstigen Kinder zu beantworten versuche. Mit denen ich mich aber auch an Juristen, Historiker und Therapeuten gewandt habe. Ich habe mit einem Erziehungswissenschaftler gesprochen, habe alte Kinderbücher gelesen, in Archiven und Bibliotheken gestöbert. Herausgekommen ist die Geschichte einer unseligen Tradition, aber auch ein Kaleidoskop tiefer Verletzungen. Es sind Porträts von Menschen entstanden, die noch immer – so alt sie inzwischen auch geworden sein mögen – mit den Dämonen kämpfen müssen, die ihnen die Eltern mithilfe von Kochlöffeln und Rohrstöcken eingebläut haben.

1. Kapitel

KOMM DU MIR BLOSS NACH HAUSE …

Bauklötze aus Brikett

Sonja war fünf Jahre alt und spielte mit einer Freundin in der Garage ihrer Eltern. Zu der Zeit wurde noch hauptsächlich mit Kohle geheizt. Und so waren dort Briketts für den Winter gestapelt, zum Entzücken der beiden Mädchen. Die packten sie sich, diese schwarzen, rechteckigen Klötze, ohne Rücksicht auf ihre sauberen Anziehsachen, stapelten sie gekonnt und bauten aus ihnen eine Sitzgarnitur. Mit Tischen und Stühlen, mit allem, was dazu gehört. Stolz betrachteten beide anschließend ihr Werk, kletterten daran rauf und runter, ohne sich groß darum zu scheren, dass sie sich dabei immer mehr mit den Briketts einstaubten und dreckig machten.

»Das war Anfang der 50er Jahre. Meine Mutter hatte keine Waschmaschine und musste für uns drei Kinder zu Hause mit der Hand waschen«, erinnert sich Sonja. Dementsprechend aufgebracht war die Mutter, als sie die verschmierte Kleidung der Tochter sah – und schlug zu. »Das war das erste Mal, dass sie den Rohrstock rausgeholt hat.« Sonja zögert. »Vielleicht war es ja auch vorher schon.« Nur an dieses Mal erinnert sich Sonja noch ganz genau.

Für den Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eine in der damaligen Zeit normale und auch gesellschaftlich anerkannte Reaktion. »Es war durchaus klar, dass man das hinnehmen musste, wenn es passierte. Körperliche Strafen, die berühmte Ohrfeige oder auch mal das ›an den Ohren ziehen‹ – solche Sachen waren üblich in den 50er und 60er Jahren und dementsprechend allgemein akzeptiert. In den Medien, überhaupt in der Öffentlichkeit, ja auch in den Gesprächen der Erwachsenen untereinander galten Schläge als erzieherisch wirksames Mittel.«

Sonja bekam das zu spüren. »Über meine Eltern wurde gelegentlich gesagt, sie seien sehr streng. Ich finde, das ist untertrieben, sie waren brutal. Sie hatten ein brutales Erziehungs-Strafsystem. Das war gestaffelt, je nach Vergehen. Und kleinere Vergehen konnten sich addieren. Bis dann der Rohrstock kam.« Sonja hatte häufig den Eindruck, ihre Eltern hätten sich »regelrecht entlastet«, wenn sie die Tochter oder die Söhne verhauten. Danach schien es Vater und Mutter richtig gut zu gehen. Sie wirkten, als hätten sie Luft abgelassen. Dabei behaupteten die Eltern stets, die Kinder müssten nach einer solchen Tracht Prügel erleichtert sein, sich geradezu befreit fühlen, weil sie ihre Schandtat endlich gesühnt hätten. »Tatsache war, die Eltern fühlten sich besser, weil sie ihren Frust rausgeprügelt hatten. Auf uns.« Auf Sonja und ihre zwei Brüder.

»Meine Eltern waren Profiteure des Nazi-Regimes gewesen«. Diese Bemerkung macht Sonja ziemlich zu Anfang unseres Gespräches. Es ist ihr wichtig, einen Zusammenhang zwischen dem Zerplatzen der Träume ihrer Eltern von einem »Großdeutschen Reich«, verbunden mit einem damit einhergehenden von ihnen offenbar erwarteten Wohlstand und den so schmerzhaften späteren Sanktionsritualen in ihrer Familie herzustellen. Jedenfalls wirkten diese Eltern auf die kleine Sonja enttäuscht, gekränkt, ja geradezu wütend. Und sie ließen ihre Wut an den Kindern aus. So kam es Sonja jedenfalls vor.

Wenn ihre Brüder zum Beispiel etwas angestellt hatten, wenn sie – was nicht selten passierte – mit schlechten Zeugnissen nach Hause kamen, dann mussten sie sich der Reihe nach im Wohnzimmer aufstellen. In diesem großen, repräsentativen Wohnzimmer, in dem Gäste mit Salzstangen und Moselwein bewirtet wurden. Und dann schlug der Vater zu, während die Mutter dabei saß, »mit einem kleinen Cognac, einer Zigarette, und sich das ansah.«

Das Trotzköpfchen soll sich beruhigen

Sonja kommt aus einer bürgerlich protestantischen Familie. Ihr Vater war das, was man heute einen Manager nennen würde. Zunächst war ihre Familie »nachkriegsverarmt«, so wie die meisten Deutschen der damaligen Zeit. Bald schon machte sich allerdings das beginnende Wirtschaftswunder bemerkbar. Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – da war die 1947 geborene Sonja noch nicht eingeschult – wurde ein erstes Auto angeschafft. Dem folgte ein eigenes Haus. Es ging mit strammem Kurs aufwärts. Bald waren »wir eine richtig gut situierte Familie«. Doch der Wohlstand änderte nichts daran, dass zu Hause eine eisige, kinderfeindliche Atmosphäre herrschte.

Inzwischen ist Sonja über 60 Jahre alt, verheiratet, kinderlos, liebt ihren kreativen Beruf als Grafikerin. Sie wirkt bei unseren Gesprächen in sich ruhend, zufrieden mit ihrem jetzigen Leben, aber auch wie jemand, der verwundet wurde, dadurch leicht verletzbar geworden ist. Das Thema Kindheit, Schläge, Eltern ist ihr spürbar unangenehm. Doch Sonja ist kein Weichei, das wurde ihr von den Eltern ausgeprügelt. Sie ist es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen, tat das schon immer. Wie diesmal dem Interview mit mir, das sie belastet. Ich merke es ihr an. Sie weicht aber dennoch nicht aus.

So kann sie mir noch nach all den Jahrzehnten genau beschreiben, wie so ein Rohrstock eigentlich aussah: »Er ist mehr als einen halben Meter lang, dünn, aus Rohr oder Bambus.« Gespürt hat sie ihn während ihrer ganzen Kindheit. Wieder und wieder. Die Eltern teilten sich die Schläge auf: »Die Mutter schlug mich, der Vater meine Brüder.« Einmal im Monat »war das bei mir dran.« Vielleicht mehr oder weniger häufig, überlegt sie, aber seltener sicher nicht. »So dass ich ständig mit dieser Bedrohung lebte.«

Das Ritual der Misshandlung spielte sich immer gleich ab. Die Mutter sagte, wenn etwas schief gegangen war: »Du weißt ja, was jetzt passiert. Hol schon mal den Rohrstock.« Der lag stets griffbereit so weit oben auf einem Schrank im Esszimmer, dass die kleine Sonja ihn gerade mal zu fassen bekam. Sie reckte sich, holte ihn. Dann musste sie vorgehen, die Treppe runter in die Waschküche. »Dort wurde ich verprügelt. Röckchen hoch. Also nicht gerade auf den nackten Po. Aber auf die Unterhose.«

Sonja erinnert sich gut an die Brutalität, die bei ihr zu Hause herrschte. Und die sich von den Eltern auch auf ihre Brüder übertragen hatte. Sie als jüngstes der Geschwister musste, bis sie elf oder zwölf Jahre alt war, »ständig damit rechnen, dass jeder, der mir in diesem Haus begegnete, das Recht hatte, mir eine Ohrfeige zu geben. Jederzeit.« Eigentlich zog sie damals Schläge mit dem Rohrstock diesen spontanen Übergriffen vor, denn die gezielten Stockschläge bedurften einer gewissen Vorbereitung, dazu ging man in den Keller, »das war irgendwie kalkulierbarer«. Doch Ohrfeigen gab es einfach zwischendurch, wann immer es den anderen passte. Und wann immer sie die Brüder streifte, ihnen auf dem Flur, im Haus begegnete, wurde sie geknufft, geschlagen, an den Haaren gezogen.

Der gewalttätige Umgang mit ihr gab Sonja das Gefühl, in ihrer Familie eine Außenseiterin zu sein. Jemand, der nicht richtig dazu gehörte, der einfach von Natur aus böse war, dem man das Schlechte durch Prügelei austreiben musste. Dabei hatte sie eine Freundin, der es ähnlich schlimm erging, auch wenn deren Eltern nie handgreiflich wurden. »Aber die musste, schon als sie noch sehr klein war, in den Kohlenkeller gehen und wurde dort eingesperrt. In den dunklen Keller. Bis das Trotzköpfchen wieder ruhig war.«

Glück gehabt

Eigentlich hatte ich mich an Professor Ulf Preuss-Lausitz gewandt, weil er an der Berliner TU Hochschullehrer für Erziehungswissenschaft war, mit dem Schwerpunkt »Entwicklung von Kindern«. Er sollte mir als Experte helfen, die Schilderungen meiner Interviewpartner zeitgeschichtlich einzuordnen. Doch dann kam auch er zunächst auf seine Kindheit zu sprechen. Darauf, dass es bei ihm zu Hause Schläge nur als Androhung gab, die aber nie in die Tat umgesetzt wurde. Er kannte Prügel nur aus Andeutungen, die andere Kinder in der Schule machten. Aber an äußeren Merkmalen, am Verhalten seiner Schulkameraden erkannte Preuss-Lausitz als Jugendlicher sehr genau, in welchen Familien Gewalt zur Tagesordnung gehörte: »Das sah man diesen Kindern an, sie wirkten meistens relativ verschüchtert.«

Da sein Vater Lehrer war und die Familie in eher bürgerlichintellektuellen Kreisen verkehrte, galt körperliche Gewalt gegenüber Kindern bei ihm zu Hause als abzulehnende, ausgesprochen proletarische Erziehungsmethode. »Als Unterschichtverhalten würde man heute sagen. So etwas gehörte sich nicht. Meine Eltern waren da doch relativ streng, fanden, so etwas dürfe – wenn überhaupt – nur im Ausnahmefall vorkommen.« Ansonsten sollte man sich als Kind bitte schön anständig benehmen.

Trotz dieses gewaltfreien Elternhauses verhielt sich auch der kleine Ulf den Erwachsenen gegenüber eher vorsichtig. »Wenn wir mal auf den Feldern Äpfel klauten und der Nachbar uns erwischt hatte und uns verprügelte, haben wir das zu Hause geheim gehalten. Weil man schon damit rechnen musste, noch zusätzlich bestraft zu werden. Es hat einen ganz anderen Umgang mit Gewalt in den Familien gegeben, als das heute üblich ist. Das war normal. Das war sehr verbreitet. Das war auch generell akzeptiert. Es war durchaus klar, dass man das hinnehmen musste, wenn es passierte«, so Preuss-Lausitz.

Als ich mit der 55-jährigen Kindertherapeutin Claudia darüber nachdachte, wie viele der in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgewachsenen Kinder zu Hause wohl körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, reagierte sie auf eine Weise, die mir inzwischen nur allzu vertraut ist. Sehr viele Kinder wurden damals geschlagen, meinte sie, sehr, sehr viele. Aber sie sei da ganz anders großgeworden, bei ihr zu Hause sei so etwas nicht üblich gewesen. Sie zögerte kurz, schränkte das etwas ein und erklärte, »jedenfalls nicht systematisch. Es war also kein explizites Erziehungsmittel.«

Dann fiel ihr wieder ein, dass auch ihren Eltern hin und wieder die Hand ausgerutscht war. »Dafür hat sich nie jemand entschuldigt«. Geradezu aufgebracht beschrieb sie, wie ihre Schwester und sie häufig keinen Anlass dafür ausmachen konnten, weshalb sie nun eine Ohrfeige bekamen. Oft empfanden sie die Gründe, die von den Eltern hierfür angegeben wurden, als ungerecht, wenig überzeugend. »Wenn man einen Teller hat fallen lassen, zum Beispiel. Oder wenn man aus Versehen jemanden geschubst hatte.«

Das erinnerte mich an ein Beispiel aus einem Erziehungsratgeber des Theologen und Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann aus dem Jahr 1780. In seinem »Krebsbüchlein« – einer ironisierten »Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder« – beschreibt Salzmann die Geschichte des kleinen Lottchens, das für die Mutter einen Blumenstrauß binden will. Dazu pflückt und rupft Lottchen Blumen aus dem Garten, dekoriert sie liebevoll auf einem Porzellanteller. Der gleitet ihr aus der Hand. Aus Unachtsamkeit »pauz, da ging der Teller in hundert Stücke. Die Mutter sprang sogleich zur Tür heraus, holte eine dicke Rute, und ohne sich nur mit einem Worte zu erkundigen […] ging sie auf dasselbe zornig los.«

Über 200 Jahre später beschrieb die Schriftstellerin Ulla Hahn eine ähnliche Szene in ihrem Roman »Das verborgene Wort«. Darin hatte die kleine Hildegard, Ulla Hahns Protagonistin, eine Tasse fallen lassen, die in sieben glatte Stücke zerbrach. Es war ausgerechnet die Tasse mit den Vergiss-mein-nicht-Girlanden um den Goldbuchstaben »Fern gedenk ich Dein«, die der Vater der Mutter geschenkt hatte, als er noch um sie warb. Abends zerrte sie der Vater am Großvater vorbei ins Wohnzimmer. Die Mutter hob Hildegards Röckchen hoch und hielt sie fest. »Das Stöckchen sauste vierzehnmal, für jede Scherbe zweimal, einmal für Papa, einmal für Mama«, heißt es in Ulla Hahns Roman »Das verborgene Wort«.

Wie mag sich das kleine Lottchen im 18. Jahrhundert bloß gefühlt haben, als seine guten Absichten so bitterlich bestraft wurden? Wie die von Ulla Hahn kreierte kleine Hildegard, als sie aus Versehen die Tasse zerbrach? Wie empfanden es Claudia und ihre Schwester, wenn bei ihnen zu Hause »sehr viel im Zusammenhang mit Tischmanieren und mit sogenanntem ›guten Benehmen‹ geschlagen wurde«? Claudia erinnert sich, dass ihre Schwester sich sehr gefreut hatte, als ein neuer Esstisch angeschafft wurde. Der war nämlich breiter als der alte. »Und da hat sie gesagt, nun kann der Papa nicht mehr rüber langen. Nun kann der mir am Tisch keine Ohrfeige mehr geben. Also mein Vater ist nicht extra aufgestanden dafür. Er langte mal so eben über den Tisch.«

Hänschen klein und die weite Welt

Wann immer Sonjas Mutter sie mit dem Rohrstock durchgeprügelt hatte, fühlte sich die Tochter »einfach nur wie ein Stück Dreck«. Die Schläge taten ihr nicht nur höllisch weh, sie fühlte sich nach dem Gang in den Keller, in dem sie ordentlich vertrimmt worden war, vor allem gedemütigt. Als kleines Kind hatte Sonja zu dem Lied ›Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein …‹ deshalb ein sehr zwiespältiges Verhältnis. »Ich hab immer gedacht«, schilderte sie mir, »warum kehrt dieses blöde Kind zurück? Jetzt ist es einmal unterwegs, soll’s doch immer weiter laufen.«

Was mir bei meinen Gesprächen mit Sonja, aber auch mit anderen, als Kind geprügelten und misshandelten heutigen Erwachsenen immer wieder auffiel war, dass sie ihre Wut über das, was ihnen angetan worden war, häufig nicht auf ihre Eltern richteten. Stattdessen hielten sich viele für schlechte Menschen, suchten nach Gründen, warum Vater und Mutter sich ihnen gegenüber so brutal und gewalttätig verhalten haben könnten – und fanden sie meist nur bei sich selbst. Sonja zum Beispiel dachte immer, sie habe die Schläge ja wohl auch verdient, sonst hätten die Eltern ihr doch so etwas nicht angetan.

Später als Jugendliche, als sie nicht mehr so häufig misshandelt wurde – aber wie sie sagt, »im Grunde war ich ja immer noch diesen Erwachsenen und auch meinen Brüdern ausgeliefert« –, hatte sie immer nur das Gefühl, sie sei böse, sei an allem schuld. »Das hat sich festgesetzt.« Deshalb wollte sie auch unbedingt ins Ausland, dachte: »Ich muss weg. Ich muss da hin, wo mich niemand kennt. Wo keiner weiß, wie schlecht ich bin. Da kann ich vielleicht noch mal neu anfangen.«

Ihr Empfinden, nichts zu taugen, einen schlechten Charakter zu haben, böse zu sein, hat als spätere Erwachsene auch ihre Beziehungen zu Männern, aber auch zu anderen Menschen geprägt. Anfangs jedenfalls. Da dachte sie stets, sie dürfe niemanden wirklich nahe an sich herankommen lassen. Denn wenn der merke, wie böse sie tatsächlich sei, dann gehe der sowieso wieder. Sie hat lange Jahre ihres Lebens mit dem Gefühl zugebracht, die ihr von den Eltern verabreichten Schläge wirklich auch verdient zu haben.

Je älter Sonja wurde, desto seltener wurde der Rohrstock vom Wohnzimmerschrank heruntergeholt. »Mit der Pubertät war damit Schluss. Da hörten auch die Schläge von meinen Brüdern auf. Der Rohrstock hörte auf. Die Ohrfeigen gingen weiter. Die letzte hab ich mit einundzwanzig gekriegt. Von meinem Vater. Das war, als wieder einmal Krach war und ich gesagt habe, wir wären eine Scheißfamilie. Daraufhin hat er mich aufgefordert, wiederhol das noch mal! Und das hab ich getan. Da hat er mir eine geknallt. Ich hab mich ins Auto gesetzt und bin weggefahren.«

Die Schläge, die Sonja zu Hause bekam, haben bei ihr nachhaltig gewirkt, auf den ersten Blick nicht sichtbare, dafür aber lang anhaltende Wunden hinterlassen. Wie sie diese Auswirkungen beschreiben soll? Da zögert sie zunächst, denkt nach, spricht eher stockend weiter. »Das Schreckliche war doch, dass ich mich als erwachsene Frau eine Zeit lang sehr für Scheinhinrichtungen interessiert habe. Und mich immer verwundert fragte, woher diese Anziehung wohl kam. Denn Scheinhinrichtungen sind ja eine Foltermethode. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass das genau das war, was mir als kleines Kind passiert ist. Denn wenn man noch nicht abstrahieren kann, also so sechs Jahre alt ist, weiß man einfach nicht, ob man den Gang die Kellertreppe hinunter mit dem Rohrstock in der Hand überlebt. Jedes Mal, wenn ich den Schmerz der Schläge spürte, wenn es los ging mit der Prügelei, habe ich geglaubt, ich werde sterben. Schon wenn es die Treppe runter in den Keller ging, habe ich gedacht, nun ist es aus. Dieses Mal überlebe ich es nicht.«

Sie hat es überlebt. Den Ballast der Erinnerung aber lange mit sich herumgetragen. »Erst als ich schon über Dreißig war und eine Therapie machte, ist mir endlich klar geworden, dass meine Eltern mich einfach furchtbar misshandelt haben. Ich habe einen Onkel, mit dem sich meine Familie zerstritten hatte und den ich erst später kennenlernte. Dem habe ich erzählt, wie es uns Kindern zu Hause ergangen ist. Woraufhin der sagte, ja, er hätte, als wir klein waren, das auch schon beobachtet, und er mache sich heute noch Vorwürfe, dass er da nichts gesagt habe. Dieser Onkel schrieb mir in einem Brief, das, was deine Eltern mit euch gemacht haben, stünde heute unter Strafe. Das hat mich enorm beruhigt. Er ist der erste aus meiner Familie, der mal bezeugt, ja, wir sind misshandelt worden.«

Entweder sie oder ich

Sonjas Vater ist früh gestorben. Ihre Mutter hat noch lange gelebt. Aber da sie es war, die Sonja die Prügel verabreicht hatte, während der Vater nur die Brüder schlug, hegte die Tochter vor allem gegen diese Mutter einen heftigen Groll. Eine Zeit lang hat sie versucht, mit ihr über all das zu reden. Doch es brachte nichts. »Als ich ungefähr 40 Jahre alt war, habe ich den Kontakt zu meiner Mutter ganz abgebrochen. Ich habe sie auch bis zu ihrem Tod nicht mehr gesehen. Der Grund hierfür war, dass sie immer alles geleugnet hat. Mir immer versicherte, so, wie ich die Vergangenheit schildere, sei sie nicht gewesen. Ich übertriebe da ganz gewaltig. Außerdem hatte ich das Gefühl, diese Traumata werden jedes Mal reaktiviert, wenn ich sie besuche. Sie machte da auf liebevolle Mutter und große Tochter. Nein, was sind wir doch ein nettes Gespann! Dabei war es furchtbar, was für mich da drunter lag.«

Bei einem von Sonjas letzten Besuchen reichte die Mutter ihr einen Zettel. Darauf stand der Text eines Liedes von Bettina Wegner: »Sind so kleine Hände, darf man nicht drauf schlagen …«. Ob das nicht ein wunderbarer Text sei, wollte die Mutter von Sonja wissen. Die saß da wie gelähmt, hatte plötzlich den Eindruck, ihre Mutter sei »völlig verrückt geworden. Nachher, als ich darüber nachgrübelte, fiel mir ein, dass dieses Verhalten Teil ihrer Tarnung ist. Die will mir damit sagen, meine Gute, du bist verrückt, du bildest dir Dinge ein, die gar nicht passiert sind. Dass du dir vorstellst, ich könne jemals so etwas mit dir angestellt haben, ist einfach absurd.«

Sonjas Reaktion auf Besuche bei ihrer Mutter haben dazu beigetragen, dass sie irgendwann einfach nicht mehr hinfuhr. »Ich hatte ein ganz merkwürdiges Symptom entwickelt. Wenn ich nach einem Besuch bei ihr wieder wegfuhr, bekam ich immer so am Ende des Ortes, etwa in Höhe des Ortsausgangsschildes, eine heftige Müdigkeitsattacke. Die war einfach unbeschreiblich. Ich war gezwungen, rechts ranzufahren, mein Kopf flog auf den Lenker, und ich schlief ein. Tief und fest. Für etwa eine viertel Stunde. Es waren solche Überfälle von Erschöpfung, das war unglaublich. Und ich war absolut sicher, dass es eine Auswirkung meines Besuches bei ihr war, des faulen Friedens, den ich mit ihr eingegangen war. Ab einem bestimmten Punkt war mir klar, so geht das nicht weiter. Entweder sie oder ich. Ich schaffe es einfach nicht, so wie ihre Haltung hierzu ist, in irgendeiner Form unsere gemeinsame Vergangenheit zu klären. Ich habe ihr daraufhin einen Brief geschrieben. So eine Art Abschiedsbrief. Den hat sie mir über einen Anwalt zurückschicken lassen. Danach stand für mich fest: Das mache ich nicht mehr mit.«

Sonja vermutet, dass sich als Folge der brutalen Erziehungsmethoden ihrer Eltern die Geschwister untereinander nicht gut verstehen. »Wir trauen uns gegenseitig nicht. Ich glaube, das resultiert aus so einem Gefühl: Wir haben uns alle gegenseitig im Stich gelassen. Meine Brüder sind ein bisschen älter als ich. Ich habe sie eine Zeitlang dafür verachtet, weil sie sich wirklich nie gewehrt haben. Kürzlich erst hatte ich mal wieder Gelegenheit sie zu sehen. Nach dreißig Jahren Pause zum ersten Mal beide auf einmal. Bei einem Familienfest. Ich empfand sie als zwei alt werdende Männer, die sich zum Boden hin neigen und völlig unerlöst von ihren Kindheitsdämonen wirkten.«

Detlevs Vater – überwiegend abwesend

Ähnlich wie bei Sonja ging es damals in vielen Familien zu. Detlev kann das bestätigen, weiß sehr genau, wie sich ein mit Schwung geführter Kochlöffel am eigenen Leib anfühlt. Der 1949 geborene Handwerker lebt als Chef eines kleinen Betriebes und Vater von drei erwachsenen Kindern in einer Großstadt. In seiner Freizeit malt er zartfarbene Aquarelle, ist begeisterter Marathonläufer, guckt gerne Fußball in seiner Stammkneipe und ist einem kühlen Pils hin und wieder nicht abgeneigt. In seinem Schrebergarten hat er gerade einen Teich angelegt, seine ersten Kartoffeln geerntet. Er hat heute, so versichert er mir bei unserem Gespräch, ein gutes, erfülltes Leben.

Doch das war nicht immer so. Geboren ist er in Norddeutschland, verbrachte dort seine ersten Lebensjahre mit einer Schwester und einem Bruder. Die ganze Fürsorge seiner Mutter galt, soweit er sich erinnern kann, diesem sowohl körperlich als auch geistig behinderten Bruder. »So dass wir anderen im Grunde genommen nicht so beachtet wurden«, erinnert sich Detlev. Er wuchs mit Schuldgefühlen diesem Bruder gegenüber auf, den er zwar mochte, aber mit dem er auch in Konkurrenz um die Zuneigung der Mutter stand.

Detlevs Mutter blieb nach der Geburt ihrer drei Kinder Hausfrau. Sein Vater war Arzt, arbeitete an einem Krankenhaus im Ruhrgebiet. Anfangs war die Familie in extra für das Pflegepersonal auf dem Krankenhausgelände errichteten Baracken untergebracht. Der Vater kümmerte sich kaum um die Kinder. Haushalt und Erziehung blieben somit der Mutter überlassen. »Meine Mutter war die entscheidende Person, mein Vater zählte für mich gar nicht«.

Detlev erinnert sich an Trümmergrundstücke in der Gegend, in der sie damals wohnten. »Trümmergrundstücke, die waren für Kinder zum Spielen ideal.« Als die ersten Häuser wieder aufgebaut worden waren, zog die Familie um. In ein Mehrfamilienhaus. In dem lebten außer ihnen noch zwei Spätheimkehrer. »Der eine hatte durch die Grauen des Krieges seine Sprache verloren, dem anderen hatte man das Bein abgeschossen. Da waren die Probleme, die wir als Kinder mit unseren Eltern hatten, eigentlich ziemlich nebensächlich«.

Auch Detlevs Vater war im Krieg gewesen, hat aber nie darüber gesprochen. Dabei hätte sein Sohn so gerne mehr von ihm erfahren. Aber Detlev hat sich nicht getraut nachzufragen, zum Beispiel danach, ob der Vater jemanden erschossen hat. »Ich weiß nicht, was er dort erlebt hat. Ich weiß nur noch, wenn wir als Kinder Räuber und Gendarm spielten, und ich hatte einen Stock in der Hand, mit dem ich auf andere Kinder zielte, dann bekam mein Vater ganz kleine Augen, eine gepresste Stimme und sagte: ›Tu den Stock weg, man zielt nicht auf Menschen.‹ Und wenn ich meinte, das sei doch nur ein Spiel, bestand er auf seiner Position und sagte, ›auch im Spiel tut man das nicht.‹« Das war eine Reaktion, die aus den Kriegserlebnissen des Vaters herrührte, vermutet Detlev.

Die Eltern hatten seiner Erinnerung nach eine gewalttätige Beziehung miteinander. Er hat zwar nie mitbekommen, dass sein Vater die Mutter schlug. Aber er hat miterlebt, wie sein Vater den gedeckten Tisch wutentbrannt hochhob und einfach umschmiss. Mit Geschirr, mit allem, was darauf stand. »Das ist oft vorgekommen. Mein Vater war sehr, sehr jähzornig.«

Detlevs Mutter – erst die Arbeit und danach kein Vergnügen

Seine Mutter kam aus einer Familie, in der immer hart gearbeitet wurde. »Von morgens bis abends. Da kannte man wenig Vergnügen«. Und wer nicht parierte, »der wurde vertrimmt. Und genauso sind wir auch erzogen worden.« Die Kinder mussten spuren, wer aus der Reihe tanzte, bekam »eins hinter die Löffel«. Noch heute kann sich Detlev an eine Situation erinnern, die sich häufig wiederholte. »Ich war einfach ein schlechter Esser. Und da meine Mutter viel zu erledigen hatte, mussten die Mahlzeiten immer ziemlich flott vonstatten gehen.« Damit Detlev nicht ständig in seinem Essen herumstocherte, ließ sich die Mutter eine besonders infame Methode einfallen, ihr Kind zur Eile zu zwingen: Sie stellte einfach einen Wecker neben Detlevs Teller. »Und dann wurde mir gesagt, bis da und dahin muss aufgegessen werden. Und da ich das Essen nicht mochte, die Zeit verstrich, wurde ich erst verprügelt und dann ins Bett gesteckt.«

Verprügelt wurde Detlev mit allem »was greifbar war«, Kochlöffel, Kleiderbügel. »Bis die Gegenstände an mir zerbrochen sind. Geblutet habe ich danach glaube ich nicht. Weil die Prügel immer aufs Hinterteil gingen oder auf den Rücken, nie ins Gesicht.« Detlev erinnert sich an die große Wut und die Heftigkeit, mit der die Mutter ihn schlug. An blaue Flecken, die zurückblieben. »Das kann man sich ja vorstellen. Ein massiver Kleiderbügel aus Buche, wenn der zerbricht, dazu muss man schon ordentlich zuschlagen.« Derartige Schläge bekam er, so glaubt er, ab dem vierten Lebensjahr bis zu seinem achten. Später dann gab es seiner Erinnerung nach nur noch Ohrfeigen. Aber ganz genau weiß er es nicht mehr. »Das ist schwer zu sagen, denn das liegt lange zurück.« Grob geschätzt, so vermutet er, ist er wohl 20 bis 30 Mal in seiner Kindheit heftig geschlagen worden. »Das war dann später immer so ein Gerenne um den Tisch herum. Meine Mutter musste mich einfangen, weil ich mich nicht habe verprügeln lassen.« Dabei wurde die Mutter immer wütender. »Und wenn sie mich dann erwischte, ging es richtig los. Dann setzte es was.«

Auch seine Schwester blieb nicht verschont. Die vier Jahre Jüngere war schon als Kind sehr jähzornig, konnte sich regelrecht in einen Wutanfall hineinsteigern. »Dann wurde sie gepackt, ausgezogen und unter eine kalte Dusche gestellt, bis Ruhe war.« Der kleine Detlev empfand das »mit ’ner gewissen Schadenfreude« darüber, dass nicht nur er den Zorn der Mutter abbekam. Ein Gefühl, bei dem er jedes Mal im Nachhinein ein schlechtes Gewissen bekam.

Sein Vater schlug nur, wenn die Mutter ihn dazu aufforderte. Lustlos, weil ihm hierzu einfach die erforderliche Wut fehlte. »Das lief dann so ab: Er forderte mich auf, leg dich über den Stuhl, und dann hat er mit der flachen Hand auf meinen Hintern gehauen. Das hat nie weh getan.« Bei seiner Mutter war das anders, die verletzte, war in Rage und in Aufruhr. Dennoch hat Detlev seine Mutter sehr geliebt, wusste immer genau, dass auch sie ihn liebte. »Trotz dieser Schläge. Das war wohl so.«

Die Einsamkeit nach der Tracht Prügel

Detlev hat allerdings oft, nachdem er eine Tracht Prügel verabreicht bekommen hatte, »genau gespürt, ich bin einsam. In der Hauptsache einsam und unverstanden«. Vor allem, weil er die Prügel nicht eingesehen hat, weil es doch meistens nur darum ging, »dass ich nicht essen wollte, was mir da vorgesetzt wurde.« Noch heute könnte er würgen, sobald ihm der Geruch von Spinat in die Nase steigt. »Ich glaube, das sind so Folgen davon. Mir wurde natürlich mit den Schlägen auch verbal immer wieder gesagt, dass ich einen schlechten Charakter habe, und dass sich meine Eltern später auf mich niemals verlassen könnten. Das wurde mir schon von Kind an eingebläut. Deshalb ging auch die Hoffnung der Eltern über auf meine Schwester, die sich später um meinen behinderten Bruder kümmern sollte.«

Wenn er sich das heute so überlegt, fällt ihm ein, dass er sich schon als Kind innerlich von seinen Eltern verabschiedet hat. »Also ich war nicht steuerbar für die. Ich führte mein eigenes Leben, von dem die oft gar nichts wussten. Überhaupt gar nichts. Die Schule war zu Ende. Danach habe ich so herumgetrödelt. Auf Hausaufgaben hatte ich sowieso keine Lust. Und dann habe ich mich so lange auf der Straße rumgetrieben, bis es anfing dunkel zu werden. Ich kam dann häufig erst so gegen 7, 8 Uhr von der Schule.«

»Ich will da jetzt nichts konstruieren«, versucht Detlev sich genau zu erinnern. »Nur so eine Gewaltbereitschaft, die habe ich von zu Hause irgendwie mitbekommen. Ich habe mich als Kind da, glaube ich, gehen lassen. War unkontrolliert. Ich war wie fremdgesteuert manchmal. Auch in meinen Wutanfällen, das habe ich schon gemerkt. Wenn der Verstand völlig aussetzte und ich dann nur noch draufgeschlagen habe. Ich konnte dann bis zur Besinnungslosigkeit draufhauen.«

Detlev schlägt zurück

Als Kind und auch als Jugendlicher war er, so sagt er selbst, »schon verhaltensauffällig. Das muss man sagen. Das hat sich auch in den Zeugnissen niedergeschlagen. Ich habe mich in den ersten vier Jahren in der Volksschule fast täglich geprügelt. Meine Mutter wurde deshalb sehr oft in die Schule zitiert. Entweder hatte ich einen Zahn weggehabt oder ich habe jemand anderem einen Zahn weggeschlagen. Ich hatte in dem Alter vor nichts Angst und wurde von älteren Kindern vorweggeschickt wenn es darum ging, jemanden zu verhauen.«

Eine Situation aus seiner Schulzeit ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Das war, als er vor einem Trümmergrundstück mal wieder heftig mit jemandem aneinander geraten war. Danach fehlten ihm büschelweise Haare, die ihm sein Gegner ausgerissen hatte. Er kam blutverschmiert nach Hause. Woraufhin ihn sein Vater drohend mit den Worten empfing: »Na, hast du dich wieder geprügelt? Ich sagte, hm. Daraufhin er: Und, haste es ihm gegeben? Ich sagte, ja, dem hab’ ich es gegeben. Da hat mein Vater sich umgedreht und gesagt: Prima. Das haste gut gemacht.«

Es geht auch anders

Detlev beschreibt den Umgang mit seinem jüngsten Sohn als etwas ganz Besonderes. Sein Verhältnis zu den beiden Kindern aus der ersten Ehe dagegen ist kompliziert. »Hierzu muss ich zurück auf meine Mutter kommen. Meine Mutter war mit meinem behinderten Bruder sehr beschäftigt. Meine Mutter hatte drei Kinder. War selber sehr im Stress. Und ich glaube, sie wollte ihre Arbeit einfach bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt kriegen, und wenn das dann nicht funktionierte, wurde sie wütend. Und so ein Typ bin ich eigentlich auch. Meine Mutter war immer schon hart. Dafür war sie bekannt, knapp, hart, wie das alle in der Familie sind, ohne Schnörkel und immer sehr direkt.« Eine Direktheit, die auch Detlev ausstrahlt. Seiner Mutter hat er später nie vorgeworfen, ihn als Kind so heftig gezüchtigt zu haben. Weil er sie »irgendwie verstanden hat. Die war überlastet und überfordert.« Und trotz der Schläge, die er von ihr bekommen hat, war er »früher ein richtiges Mutterkind. Ich habe an meiner Mutter wie ein Tier gehangen.«

Erst als Detlev dann seine jetzige, zweite Frau kennen lernte, verspürte er den Wunsch, noch ein drittes Kind zu bekommen, mit dem er anders umgehen wollte, als mit seinen ersten beiden. »Zu der Zeit litt ich schwer unter den Schuldgefühlen der Trennung von den beiden ersten Kindern. Und als nun mein drittes Kind, ein Sohn, da war, wurde es so viel besser, dass ich wieder normal empfinden konnte. Ich habe mich nur über den gefreut. Während seiner ganzen Kindheit hatte ich nicht einmal den Impuls, ihn zu schlagen. Nie. Nicht ein einziges Mal.«