cover.jpg

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

Zwischenspiel

4.

5.

6.

7.

8.

Zwischenspiel

9.

10.

Epilog

Kommentar

Leserkontaktseite

Glossar

Leseprobe Perry Rhodan-Buch 125 - Fels der Einsamkeit

Vorwort

1.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img1.jpg

 

Nr. 2742

 

Psionisches Duell

 

Ein Richter lechzt nach Heilung – und ein Magier kämpft um sein Paradies

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

img2.jpg

 

Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1516 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße seit nunmehr zwei Jahren unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals, einer noch immer weitgehend rätselhaften Organisation. Diese gibt vor, im Rahmen der »Atopischen Ordo« für Frieden und Sicherheit zu sorgen.

Welche Auswirkungen die Atopische Ordo haben kann, erfährt Perry Rhodan am eigenen Leib: Ihn hat es in die Galaxis Larhatoon verschlagen, die Heimat der Laren, die vor über eineinhalb Jahrtausenden als Mitglieder des Konzils der Sieben Galaxien eine beträchtliche Zeitspanne in der Milchstraße herrschten.

In der Milchstraße regiert indessen nur noch formal das Galaktikum, die eigentliche Politik findet stets im Schatten der Onryonen statt, die von den Atopischen Richtern ihre Befehle empfangen. Einer dieser Richter bestreitet nun ein PSIONISCHES DUELL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Matan Addaru Dannoer – Der Richter des Atopischen Tribunals hofft, sich endlich stärken zu können – und muss sich unvermutet einem mächtigen Gegner stellen.

Kaen Emund – Der Eigenbrötler möchte nur seine persönlichen Ziele verfolgen – und wird doch in kosmische Geschehnisse verwickelt.

Jabari Gneppo – Der einzige Terraner auf einer vergessenen Welt schützt seine ungewöhnliche Familie – um jeden Preis.

»Die Sonne ist rot.

Mein Vater ist tot.

Meine Mutter, das Flittchen,

Lindert die Not

Kaum, kaum, kaum.

Kaum, kaum, kaum.«

Aus Yo'A'Chims Unerhörten Gesängen

 

 

Prolog

 

Ein Gespräch an Bord der 232-COLPCOR

23. Mai 1516 NGZ

»Richter.«

»Angakkuq. Sei gegrüßt.«

»Wie geht es dir?«

»Nicht gut.«

»Das sehe ich.«

»Ja. Es ist auch schwerlich zu übersehen. Ich sieche dahin, mein Teurer. Aber das wäre nichts Neues, und prinzipiell kein Grund zur Klage. – Kommst du, um mir Nachricht von Luna zu bringen?«

»Bedaure, nein. Terras Mond ist noch nicht wieder aufgetaucht.«

»Wir suchen schon eine Weile danach, nicht wahr?«

»Ein Jahr und beinahe neun Monate, gemäß der Zeitrechnung der Terraner.«

»Für sie ist das viel.«

»Für uns nicht.«

»Nein, nicht für uns. Dennoch verspüre ich eine gewisse Dringlichkeit.«

»Natürlich, Richter Matan.«

»Ich gestehe, mit der Idee zu spielen, dass wir ins Helitas-System fliegen sollten.«

»Der tefrodischen Mutanten halber?«

»Allein jene, die bisher in Erscheinung getreten sind, würden mir fast schon genügen.«

»Richter Chuv hat seinen Einwand gesprochen.«

»Und das Wort eines Atopischen Richters hat Gewicht.«

»Davon abgesehen: Er neidet dir nichts.«

»Das weiß ich.«

»Seine Argumente sind stichhaltig. Der strategische Nachteil einer Inkorporation zu diesem Zeitpunkt ...«

»Ist mir klar; das damit verbundene Risiko nicht minder. Dennoch. Mein Entschluss steht fest.«

»Wie lautet er?«

»Ich setze eine Frist von zehn Tagen. Falls bis dahin nichts Einschneidendes geschieht, müssen wir nach Tefor fliegen.«

»Zur Mutantenschule von Apashem.«

»Es missfällt mir ebenso wie dir, treuer Angakkuq, mich über Richter Chuvs gewiss fundierten Einwand hinwegzusetzen. Ich will nicht, aber ich muss. Wie du weißt, darf ich nicht vor Schwäche sterben. Zu viel hängt davon ab, dass ich lebe, handle und richte.«

»Dieses dein Ansinnen ist lauter.«

»Wie all mein Streben. Sonst wäre ich kein Richter des Atopischen Tribunals.«

»Möchtest du mit mir über den ehemaligen Terraner namens Julian Tifflor reden?«

»Ein etwas abrupter Themenwechsel für meinen alten, momentan morschen Denkapparat, aber ... Ja, warum nicht? Jene Person hat mich ein wenig enttäuscht.«

»Inwiefern?«

»Tifflor hätte dem Tribunal einen größeren Dienst erweisen können. Und der Menschheit ebenfalls.«

»Einem Volk, mit dem er so gut wie nichts mehr zu tun hat? Längst ist Tifflor viel älter als seine sogenannte Menschheit.«

»Da magst du recht haben, aber ich bin nicht sicher, ob er das selbst schon weiß. – Nun, die Menschen, oder Terraner ... Sie sind generell nicht sehr reif.«

»Sie haben dich nicht verstanden; nicht begriffen, welches Geschenk du ihnen beispielsweise mit den Schöffen gemacht hast. Diese Vision einer mündigen, zivilisierten, wahrhaft einer besseren Zukunft zugewandten Kultur konnten sie schlichtweg nicht annehmen.«

»Zu schade.«

»Zu dumm.«

»Verurteile sie nicht vorschnell, Angakkuq. Ich bin der Richter, mein ist das Urteil.«

»Du klingst dennoch verbittert.«

»Wie auch nicht? Die Menschheit, durch und durch überheblich aufgrund der scheinbaren Erfolge ihrer jüngeren Vergangenheit, hat sich nicht einmal bemüht, den Gerichtsprozess in all seiner Fülle zu erfassen!«

»Obwohl du ihnen eine Teilhabe angeboten hast.«

»Gemäß der Atopischen Ordo. Sie haben nur das Strafgericht gesehen, bloß einen winzigen Teil dessen, was sie ursächlich hätten erleben können. – Egal. Die Zukunft ist, wie die Vergangenheit, nicht aufzuhalten.«

»Immerhin hat Julian Tifflor den Terranern einen herben Dämpfer versetzt.«

»Indem er ohne Weiteres durch den Kristallschirm um das Solsystem geflogen ist. Hm. Eine Provokation, in meinen müden Augen.«

»Er besitzt die Macht dazu.«

»Sicher. Aber musste er es so offen demonstrieren, so medienwirksam inszenieren? ›Hurra, ich bin Julian Tifflor, ich gleite, ganz unabhängig von meinem Raumvehikel, durch eine hochwertige, bislang nahezu undurchdringliche, auf pararealem Resonanz-Austausch basierende Barriere, einfach so, wie es mir beliebt?‹«

»Er ist ...«

»Ich weiß, wer und was er ist. Trotzdem. Letztlich hat er mit diesem Auftritt das Atopische Tribunal ebenso veralbert, ja verhöhnt, wie Rhodan und dessen Terranerbande.«

»Ein Scherz, meinst du?«

»In dieser Zwischenstufe tendiert man nicht selten zu Schabernack.«

»Ja?«

»Ja. – Frag mich, zum Beispiel.«

»Ich interpretiere diese Aufforderung als eine rhetorische.«

»Zu Recht.«

»In Summe hast du deine Mission erfüllt. Die Forschungsstation der Onryonen bei Sol wurde etabliert.«

»Ich habe einen hohen Preis dafür bezahlt. Um die Bewohner, die über die Erlaubnis abstimmen sollten, auf paramechanischem Weg zu überzeugen, gab ich beinahe mein Leben.«

»Ums Haar, um nicht zu sagen: ums Gefieder.«

»Ach Angakkuq, deine schiefen Wortspiele ... Wie oft haben wir dieses Gespräch schon geführt?«

»Willst du wirklich eine konkrete Zahl wissen?«

»Danke, nein. Darüber bin ich hinweg. – Was zuckst du?«

»Der SKEPTOR hat soeben eine Botschaft erhalten und an mich weitergeleitet.«

»Welches Inhalts?«

»Ein onryonischer Raumvater hat im Zuge der Linearraumkartierung der Milchstraße eine Entdeckung gemacht, die für dich interessant sein könnte.«

»Nämlich?«

»Man stieß auf einen Planeten mit erstaunlich hohem Parapotenzial.«

»Ist es eine Welt, die im Territorium der künftigen Domänen eine wichtige Rolle spielen wird?«

»Eher nicht. Vielmehr handelt es sich um einen Planeten, der dem Tribunal bislang nicht einmal bekannt war.«

»Aha. Und den Machtgruppen der Milchstraße?«

»Nur in ganz wenigen der uns vorliegenden Datenkonvolute taucht das System der roten Riesensonne Yoster überhaupt auf. Der vierte von vierzehn Planeten dürfte irgendwann von Lemurerabkömmlingen besiedelt worden sein. Allerdings sind die Quellen reichlich dubios.«

»Wie hoch liegen die gemessenen Spitzenwerte im psionischen Spektrum?«

»Sehr hoch, geradezu frappierend.«

»Und das fiel bis jetzt niemandem auf?«

»Die Milchstraße ist groß ... Außerdem liegt die erwähnte Welt in der Südseite, weitab von den historischen Brennpunkten und 23.229 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt. Die Distanz zum Solsystem beträgt 45.318 Lichtjahre, jene zu Tefor 51.815 Lichtjahre. Den Energieemissionen zufolge gibt es im engeren Umkreis keine raumfahrenden Zivilisationen.«

»Verdächtig einladend. Irgendwelche Hinweise darauf, dass uns jemand eine Falle stellt?«

»Nein. Laut des SKEPTORS beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür weniger als ein Zehntel Promille.«

»Na dann ... Lass uns Kurs dorthin setzen!«

»Wir begeben uns auf unbekanntes Terrain.«

»Besser, als Richter Chuv zu verstimmen. – Wie, sagtest du, heißt der vielversprechende, potenzialreiche Planet?«

»Ich habe dir den Namen noch nicht genannt: Yo.«

»Kurz und bündig. Diese abgelegene, vergessene Welt könnte meine Rettung sein. Stimmst du mir zu?«

»Ich stimme dir zu.«

»Also nach Yo, auf schnellstem Wege!«

»Sehr wohl, Herr Richter Matan. Nach Yo!«

1.

Straßen aus Glas

 

Es war einer jener Tage, an denen Kaen sich hätte vierteilen können und trotzdem nicht mit der Arbeit nachgekommen wäre.

Alle wollten sie etwas von ihm. Unaufhörlich trudelten Botschaften ein.

Die Glocke, die den Empfang einer Rohrpost signalisierte, schlug im Minutentakt an. Seit dem frühen Morgen gaben Laufradboten einander die Tür zur Werkstatt in die Hand, und der Andrang der Brieftauben, die in den Schlag oben am Dach einflogen, riss ebenso wenig ab.

»Du bist ein gefragter Mann«, sagte Jarbandla Utz mit spöttischem Unterton. »Die halbe Stadt giert nach dir.«

»Scheint so.«

»Sollte das nicht dein Selbstvertrauen ein wenig aufrichten? Oder einen anderen Teil von dir?«

Er gab keine Antwort. So oder so würde die fette Schlossermeisterin weiter sticheln. Sie liebte es, ihn in Verlegenheit zu bringen.

Prompt trat, während er die nächste Postbüchse öffnete und den Inhalt der Nachricht überflog, Jarbandla hinter ihn und betatschte seinen verlängerten Rücken. »Du kannst es dir aussuchen«, gurrte sie dabei, »wem du deine Gunst spendest. Ist doch toll, oder?«

»Nein.« Die Berührung war ihm unangenehm und zugleich auch wieder nicht.

Jedenfalls durfte er keine Reaktion zeigen. Kaens Meisterin machte ihm seit geraumer Zeit mehr oder weniger schlüpfrige Avancen. In Wahrheit spielte sie nur mit ihm und weidete sich an seinen Schamgefühlen.

Jarbandla war ungleich erfahrener, fast genau doppelt so alt wie er. Sie spürte wohl, dass er sich insgeheim nach einer echten, tiefen, glücklichen Beziehung sehnte – und sich dabei selbst im Weg stand, weil ihm Frauen suspekt bis unheimlich waren, sodass er ihnen nach Möglichkeit auswich.

»Du hast die Wahl, Langer«, säuselte sie ihm ins Ohr, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Er roch ihren weinsauren Atem. »Praktisch ganz Ays begehrt deine Dienste. Wie wirst du dich entscheiden?«

»Rational.« Er entwand sich den übergriffigen Wurstfingern.

»Huiii...!«, fauchte sie lang gezogen. »›Rational‹. Aber hallo! Gemäß streng wissenschaftlicher Kriterien oder was?«

»Ich versuche bloß, die Anfragen nach Dringlichkeit zu ordnen.« Vor seinem geistigen Auge sah er ein klares, geometrisches Raster, dessen einzelne Einträge er fließend umschichtete. Müßig, Jarbandla in das Bewertungssystem einzuweihen. Sie interessierte sich ohnehin nur für seine Weichteile.

»Du bist ein hoffnungsloser Fall, Kaen Emund. Ein blöder, verklemmter Kerl, der nicht einmal mitkriegt, was ihm entgeht.« Sie versetzte ihm einen schnalzenden, schmerzhaften Klaps auf die rechte Hinterbacke. Dann immerhin ließ sie von ihm ab.

Nachdem seine Quartiergeberin die Tür hinter sich zugeknallt hatte, atmete er auf. Vorsichtig, um nicht an der verbliebenen, süßlichen Parfümwolke zu ersticken.

Puh. Wieder einmal überstanden ...

 

*

 

Die Zeit drängte.

Ays stand kopf, seit Wochen. Umso wichtiger war es, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Kaen machte sich nichts vor. Man begehrte ihn nicht aufgrund seines Intellekts oder sonstiger herausragender Fähigkeiten. Ganz im Gegenteil!

Er wurde geschätzt, weil er ein brauchbarer Handlanger war, ein schweigsamer, niemals aufbegehrender, relativ geschickter Hilfsarbeiter. Vor allem aber überragte er sämtliche anderen Bewohner der Stadt am See um mehr als einen Kopf.

Was sie von ihm wollten, war schlicht seine überlegene Reichweite. Vor Ort ersparte er den jeweiligen, kurzzeitigen Auftraggebern, sich auch noch um eine Leiter kümmern zu müssen.

Kaen konnte nichts richtig, aber ein bisschen von fast allem, was mit Metallbearbeitung zusammenhing. Obwohl er keine einzige Lehre offiziell abgeschlossen hatte, war er leidlich versiert als Klempner, Kunstschmied, Mechaniker, Maschinenbauer ... Man gab ihm Anweisungen, ohne diese lang und breit erklären zu müssen, und meistens führte er sie richtig aus, widerspruchslos, dumpf und zufrieden.

Nach außen hin.

Innerlich grübelte er permanent. Oft formulierte er Brandreden, flammende Anklagen gegen seine Mutter, die ihn im Stich gelassen hatte, und gegen den Hexer, dessen Verführungskünsten sie erlegen war.

Nie schlief Kaen Emund ein, bevor er sich nicht in glühenden Farben ausgemalt hatte, wie er an Jabari Gneppo, dem Usurpator, dem verhassten Tyrannen, Rache nehmen würde.

 

*

 

Das Bimmeln der Rohrpostglocke riss ihn aus den trüben Gedanken.

Kaen bemerkte, dass er die Zügel sträflich gelockert hatte und in eine Traumwelt abgeglitten war. Er sah auf die Standuhr, eine klobige, von überbordenden Schnitzereien verunzierte, hölzerne Scheußlichkeit, deren Zifferblatt zwischen all den Ornamenten fast verschwand.

Wie er selbst. Wie die meisten Bürger von Ays, der Seestadt, Yos einziger Metropole. An diesem Ort gaben alle ihr Bestes, um den Blick aufs Wesentliche zu verschleiern.

Soeben ruckelte der große Zeiger weiter. Schnarrend rastete ein Mechanismus ein. Türchen schnappten auf. Ein verstimmtes Glockenspiel erklang, und bunte Figurinen paradierten, sich um die eigene Achse drehend, in eitlem Unverstand von links nach rechts.

Die Zwischenstunde des ersten Wachtagsdrittels brach an. Kaen Emund gab sich einen Ruck. Genug gezaudert.

Er nahm die Nachricht aus der zuletzt eingetroffenen Postbüchse. In Cremptons Essigfabrik hatte sich, warum auch immer, eine Explosion ereignet. Man benötigte dringend Aufräumhelfer und Installateure, um die zerstörten Rohrleitungen provisorisch wieder instand zu setzen.

Unter anderen Umständen wäre Kaen sofort zu Crempton geeilt, zumal als Belohnung ein Jahresbedarf an Essig in Aussicht gestellt wurde. An diesem Tag jedoch, so kurz vor der Hohen Wahl, schaffte es die Anfrage nicht einmal in die obere Hälfte seiner imaginären Liste.

Sein Plan stand fest. Mit etwas Glück, falls sich keine Komplikationen ergaben, würde er die drei erstgereihten Adressen abklappern und dann im Kloster der Sitzbader zu Mittag essen können.

Dafür musste er zwar Schwester Diff-Tongks schadhaften Boiler reparieren, aber sie kochte sehr schmackhafte Bohneneintöpfe. Und was noch wichtiger war: Sie ging ihm nicht an den Pelz.

 

*

 

Als Kaen, die Werkzeugkiste geschultert, aus dem Haus trat, kam ihm mit quietschenden Bremsen ein Laufradbote entgegengeschlittert.

»Zugunglück ... in der Verdrießlichen ... Klamm!«, keuchte der höchstens zwölf Jahre alte Bursche, während er sich mühte, sein klappriges Gefährt auf der steil abschüssigen Zufahrt einigermaßen kontrolliert zum Stillstand zu bringen.

»Viel passiert?«

»Nur ein paar ... Leichtverletzte, aber die Strecke ist ... blockiert.« Das Bürschchen sprang vor Kaen ab und rang nach Luft. »Gesucht werden Leute, die ... mit Trennschweißgeräten umgehen können.«

»Tut mir leid, bin ausgebucht. Geh hinein und frag die Witwe Utz.«

»Jarbandla?« Angewidert verzog der Bote das picklige Gesicht. Offenbar hatte er mit der Schlossermeisterin schon unliebsame Bekanntschaft gemacht.

Kaen zuckte die Achseln. »Gibt in Ays genügend andere Schweißer, die eine Handvoll Eisenbahnfahrkarten brauchen können.«

»Normalerweise. Aber heute hat mich sogar die Gilde Der Zwei Linken Hände weitergeschickt.«

»Tja. Glaub mir, auch ich bin froh, wenn der Wahlzirkus endlich vorüber ist.« Kaen entriegelte sein Handmobil und schob es hügelan. Die Klagen, die der Jüngling mit der blühenden Akne ihm nachrief, ignorierte er.

Auf der Kuppe bestieg er das Kurbelschwingenfahrzeug und setzte es durch einige kräftige Pumpstöße am Schwunghebel in Bewegung. Da es makellos gewartet war, rollte das Handmobil nahezu geräuschlos dahin.

Auch die Steuerung über die Pedale funktionierte perfekt. Sie reagierte aufs geringste Antippen mit der Fußspitze. Schließlich hatte Kaen die schmucke, dreirädrige Karre penibel an seine ungewöhnlichen Körperproportionen angepasst.

Wie stets, wenn er die Schlosserei der fetten Utzin hinter sich ließ, besserte sich seine Gemütslage erheblich. Dabei war er Jarbandla durchaus zu Dank verpflichtet. Sie hatte ihn bei sich aufgenommen, nachdem Kaens Mutter ihn schmählich verstoßen und sein Vater sich einige Jahre später zu Tode gesoffen hatte.

»Für zehn geschickte Finger ist immer Platz in meinem bescheidenen Heim ...«

Ihn schauderte bei der Anspielung.

Irgendwann in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft würde er sich eine eigene Wohnung samt kleiner Werkstatt leisten können. Noch reichten dafür die Gegenverpflichtungen, die er angesammelt hatte, nicht aus. Aber ein Ende seiner Fron unter Jarbandlas Dach und Fuchtel war absehbar.

Ein tröstlicher Gedanke. Beschwingt pumpend folgte Kaen der Glasstraße, die sich in weit ausladenden Serpentinen an die Hügelkette der südöstlichen Obervorstadt schmiegte.

Er genoss es, sein einsitziges, schlankes, dezent mattschwarz lackiertes Gefährt flott durch die Kurven zu lenken. Fahrtwind strich ihm um die Ohren. Kaum hörbar sirrend, glitten die Gummireifen, prall und doch mit fingerdickem, satt griffigem Profil versehen, über den spiegelglatten, bläulich glasierten Straßenbelag.

In rascher Folge überholte Kaen Tiergespanne und nicht minder stinkende, mit Holzgas betriebene Traktoren. Manche zogen Anhänger, auf denen sich Ladegut türmte, oder fahrbare, bedenklich schlingernde Verkaufsstände. Ihr Ziel war nicht schwer zu erraten: die Unterstadt, wo demnächst die Festivitäten anlässlich der Hohen Wahl stattfinden würden.

Kaen hingegen nahm die Ausfahrt in Richtung O'Aldituddo.

Wenn ihr einen Trottel braucht,

Schickt getrost nach mir.

Bin ich nicht zu sehr geschlaucht,

Ruf ich lauthals: Hier!

Ich diene euch von früh bis spät.

Doch wenn der Tag zur Neige geht,

Ist meine Furchtsamkeit verraucht,

Und ich zieh mein Rapier ...

Aus Yo'A'Chims Unerhörten Gesängen

 

 

2.

Getrübte Aussichten

 

Hoch über der Stadt Ays, dem See, den sie ringförmig umgab, und der Verbotenen Insel in der Mitte thronte auf einer schroffen Felsklippe die Sternwarte.

Das letzte Straßenstück war nicht mehr glasiert, sondern grob geschottert. Kaen fuhr, schwitzend und mit pfeifender Lunge, solange er den Schlaglöchern, Schlammpfützen und Schneeverwehungen auszuweichen vermochte.

Dann parkte er das Handmobil in einer von Tannennadeln und -zapfen übersäten Ausbuchtung, arretierte es und ging zu Fuß weiter. Der Henkel der Werkzeugkiste drückte hart auf Kaens Schulter. Aber das war er gewohnt.

Eine schmale Eisentreppe führte vom Fuß der Klippe im Zickzack hoch zur Warte. Das Geländer war so eiskalt, dass Kaen nach wenigen Schritten innehielt, die Arbeitshandschuhe aus der Kiste nahm und sie überstreifte. Unten am See mochte bereits der Frühling eingezogen sein, aber hier oben, in den Ausläufern des O'Aldituddo-Massivs, spürte man noch nichts davon.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stapfte Kaen hurtig hinan. Soviel er wusste, gab es an der Rückseite der Felsnadel einen Aufzug. Damit durften jedoch keine Personen transportiert werden, nur Material, hauptsächlich Verpflegung für die Astronomen.

Wind kam auf und strich über Kaens schweißnasse Haare und Kleidung. Ihn fröstelte.

Wenn er sich bloß nicht erkältete! Schreckliche Vorstellung, in den nächsten Tagen ans Bett gefesselt und der lüsternen Witwe ausgeliefert zu sein ...

Er beschleunigte. Insgesamt 192 Stufen galt es zu überwinden, mehr als auf jeder anderen ihm bekannten Treppe.

Mit jedem Schritt steigerte sich seine Vorfreude. Kaum einen Ort liebte er so sehr wie die Sternwarte von O'Aldituddo.

 

*

 

Umso enttäuschter war Kaen Emund, als sich herausstellte, dass die Astronomen bereits eine Besucherin hatten.

Es handelte sich um eine dürre, verhutzelte Frau weit jenseits der fünfzig. Sie trug Wanderkleidung in schreiend bunten, das Auge beleidigenden Farben. An der Garderobe hing ein ebensolcher Rucksack.

»Regera Daudy«, stellte sie sich vor. »Und du musst Kaen sein.«

»Muss ich?« Er strengte sich nicht sonderlich an, sein Missfallen zu verhehlen.

»Ich denke doch, mein Junge. Wir alle sind Gefangene des Schicksals. Niemand kann aus seiner Haut.«

»Außer ...«, setzte Kaen zum Widerspruch an, aber Magister Twitus warf ihm einen warnenden Blick zu. Daher sagte er stattdessen: »Außer, äh, Frage.« Vorsichtig ließ er den Werkzeugkasten zu Boden gleiten.

»Gewiss hast du Regeras Namen schon gehört«, sagte Magister Blotter, die andere Hälfte des Gelehrten-Duos. »Sie ist eine berühmte Dichterin. Für ihren Lyrikband ›Die Lilanen Quellen‹ hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, eine davon überreicht durch die Verweserin höchstpersönlich.«

»Ach, unwichtig.« Gleichwohl wiegte sie sich geschmeichelt in den Hüften. »Nur eine Minderheit interessiert sich für Poesie. Unser übergroß gewachsener Freund beispielsweise dünkt mir eher ein Mann des Schraubenschlüssels als des Wortes.«

»Handwerklich ist er tatsächlich ein wahrer Tausendsassa.« Twitus schob sich zwischen Kaen und die Frau, als wolle er verhindern, dass es zu Tätlichkeiten kam. »Tausendfach Dank, dass du gekommen bist, mein Guter. Obwohl du sicherlich eine Fülle weitaus lohnender Aufträge hättest. Möchtest du etwas trinken oder eine Kleinigkeit essen?«

»Nein, danke. Kann mich nicht lang aufhalten.« Er schielte zur Dichterin hinüber.