Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Die Heldin dieses Buches heißt Drude. Und unsere Freunde wissen, daß diese Drude gelebt hat, – jene, durch deren Reihen ein Schmerzensschrei ging, als Drude siebzehnjährig starb. Nehmt dies Buch als eine Erinnerung an sie, nehmt es als ein Vermächtnis von ihr. Denn sie hat ein Tagebuch hinterlassen, eine Quelle wunderholder, herber Jungseelen-Poesie voll klaren, starken Ringens um das Gute. – Einst wird es herausgegeben werden. Noch ist es zu früh dazu. – Aus dem Erleben dieses Tagebuches und aus meiner heimlichen Freundschaft mit ihr, die nun in Lichtregionen am Erdendasein schafft, wob sich mir die Dichtung. Und so ist Drude mehr noch als die Heldin des Buches seine eigentliche Dichterin.

Dichtung ist es! So sucht denn in der Erzählung nicht eine Lebensbeschreibung von Drude. Dichtung schaltet frei. Ebenso konnte es sich bei der Ausgestaltung des Ortes der Handlung, die in einer Waldschule spielt, nicht um die Schilderung eines bestimmten Land-Erziehungsheims handeln. Wohl entnahm ich, liebevoll und dankbar, wesentliche Züge der Wirklichkeit. Andere Züge aber verwischte und veränderte ich mit Absicht. Auf die neue Schule überhaupt wollte ich den Blick lenken, in der schon der Vorfrühling gelebt wird dieses Weltenfrühlings, den wir zu schaffen haben. Auf den Weltfrühling wollte ich ihn lenken. – Ich nahm die reinen Kräfte, die dort wirksam sind, und nahm die schönen, klaren Regungen dieser jungen, quellenhaften Menschenseele, die mir vertraut ist, und wob daraus eine Liebesgabe dir, du neue Jugend Deutschlands! ein Buch für die Führenden in deinem Kampf.

Nehmt es, ihr jungen, klaren Führernaturen, ihr mit dem Herzen voller Verantwortung für die Zeit, nehmt es als ein Vermächtnis von Drude, die euch zugehörte, die euch noch mitschaffend zugehört dort in Licht-Regionen. – Heil dir, du junges, junges Deutschland!

* * *

Es kommen noch zwei Fortsetzungen; wie dies erste Buch seine Handlung im Wesentlichen um das Problem Liebe gruppiert, so das zweite um die Frage nach Gott, das dritte um den Opferdienst an Vaterland und Menschheit.

Oberhof im Thüringer Wald,
im Sommer 1920.

Gertrud Prellwitz.

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ach, wie schön! wie schön!

Drude stand am Fenster des Eisenbahnwagens und schaute mit glücklichen Augen, in denen sich Freudentränen sammelten, in die Landschaft, die draußen vorüberzog. Blühende Obstbäume im Vordergrunde, junggrüne Buchenwälder auf den Bergen, deren schöne Formen in langer, ebenmäßiger Kette dahinglitten.

Lauter Laubwälder! jubelte sie. Sie hatte ja fast vergessen, daß es Laubwälder gibt. Zu Hause war immer nur die märkische Kiefernheide, – ach, und sie liebte sie auch, mit ihrem dunklen Angesicht und den stillen Seen – aber das ganz Richtige, was man sich so träumt, wenn man sagen hört: deutscher Wald, das ist doch der sonnendurchwobene Laubwald!

Und da oben werde ich wohnen, mehrere Jahre lang! Mitten in den wundervollen Bergen haben sie die Schule gebaut!

Vor der großen Schule fürchtete sie sich ja ein wenig: vor den vielen Kindern. Das heißt, sie freute sich unbändig! Wie hatte sie sich nach einem richtigen Umgang mit Kindern gesehnt, mit vielen Kindern!

Sie war immer mit ihrem jüngeren Bruder allein gewesen in ihrem schönen Vaterhause. Sie war richtig ein wenig vom Leben abgeschnitten gewesen, wie auf einer Insel, in diesem lieben, feierlich-schönen Künstlerhause, in das so viele erwachsene Menschen kamen, die staunend und ehrfurchtsvoll darin weilten und, wenn sie hinausgingen, eine Sehnsucht im Blick mit davontrugen. Sie wußte wohl, daß viele sie sehr beneideten um dieses Vaterhaus, – und sie hatte es ja auch sehr lieb, aber wie froh war sie, wie froh, daß nun endlich etwas ganz, ganz anderes kam! Ach, das buntfarbige Leben! Wie freute sie sich! wie freute sie sich! auf all das Liebe, Laute, Lustige, das nun anheben würde.

Ach, wenn es doch keine Enttäuschung würde!

Es gibt so oft im Leben Enttäuschungen –

Ja, und dann sagte Tante Gertrud: Wir haben nicht enttäuscht zu sein, wir haben es zu schaffen.

Sie lachte, halb zärtlich, halb ärgerlich. Sie schüttelte sich: Ach, einmal ganz was anderes, einmal ganz was anderes!

Ich will mich immer zu den ganz Leichtsinnigen halten, nahm sie sich vor, zu den ganz weltlichen, immer zu denen, die aus einer ganz, ganz anderen Sphäre kommen, als die zu Hause war. Sie sagen ja, ich bin anders als sie –

Über das herbe, süße junge Gesichtchen ging ein Schmerz. Und ein Trotz: ich bin auch ganz anders als sie. Ja. Sie haben ganz recht.

Aber nun hielt der Zug und war am Ziel, der kleinen Bahnstation, von der aus man nun noch eine Stunde weit bis zur Waldschule hinauswandern mußte. In Friedenszeiten fuhr man mit dem Wagen, wußte sie. Aber all das Bequeme gab es ja nun nicht mehr, Deutschland war im dritten Jahre des Krieges! Eilig raffte Drude ihre Sachen zusammen, zählte sie sorgfältig (in diesen schweren Kriegszeiten war alles so unersetzlich kostbar! weil es nichts zu kaufen gab!) und stieg aus. Und welche Überraschung! Da stiegen ja fast aus allen Wagen junge Menschen, Knaben und Mädchen, – manche allein, und manche von Erwachsenen begleitet. Und dort aus jenem Wagen kletterte und sprang, schreiend und scherzend, ein ganzer Trupp, und sie hatten alle rote Kappen auf dem Kopf, und das waren gewiß Schüler, die von den Ferien nach Hause kamen, und die andern, die ohne Kappen, das waren gewiß Neue wie sie? Ja und was war denn nun? Da kam es lärmend herangejauchzt, von oben herunter den Weg gelaufen, Jungen und Mädchen, eine ganze Schar, und sie begrüßten die Neuangekommenen heftig. Die waren wahrscheinlich schon in den Tagen vorher zurückgekehrt und kamen jetzt, die andern abzuholen! Sie hatten kleine Wagen, auf die wurde das Gepäck geladen, und dann war da auch ein etwas größerer Wagen mit einem Esel davor, den die Neuangekommenen freudig lärmend als alten Bekannten begrüßten. Der Mitarbeiter! der Mitarbeiter! schrien sie und streichelten ihn, und Drude begriff, daß sich das auf irgendeine lustige Geschichte beziehen mußte.

Sie stand allein und dachte: Ob ich wohl jemand anreden soll? Nein, ich werde lieber warten. – Es war so hübsch, unbemerkt zu stehen und zuzusehn, wie all das so lustig herumwuselte.

Nach einem der großen Mädchen mußte sie immer sehn. Erika nannte man sie, immer wieder riefen die andern: Erika. Sie schien eine rechte Wichtigkeit unter den Kindern. Was für ein schönes Mädchen! Strahlend goldblond und blühend. Und zugleich hatte sie etwas so Freies, Starkes in ihren Bewegungen und so viel Kraft im Blick. Ach, wie das Drude gefiel! Und dennoch – die Züge waren ihr zu weich. War es das? zu weich? Sie wußte nicht recht. Drude hatte das Gefühl, sie möchte dies schöne Gesicht zeichnen, um zu versuchen, dies viel zu – Weiche? aus diesen Zügen wegzuarbeiten –

Wie es wohl würde, wenn Vater sie zeichnete? Er würde irgend etwas Mythologisches daraus machen, weil es so stark ist; aber was? Etwas Gutes, oder etwas Böses? Ich kann es nicht herausbringen –

Plötzlich wandte Erika sich um. Fühlte sie den Blick?

Erika war sehr überrascht, als sie diesem Blicke begegnete, und dachte: Du bist ja eine ganz entzückende Person! Aber was hast du für einen forschenden Blick? Es wird gar nicht so leicht sein, vor diesem Blick zu bestehen! versuchen wir es.

Und Erika näherte sich Drude, lächelnd und siegesbewußt. Eroberungsfreudig. Du willst doch auch hinauf in die Waldschule?

Ja, sagte Drude.

Dann gib nur deine Sachen, die kann der Mitarbeiter ziehn. So, komm nur mit. Ich heiße Erika. Ich bin schon zwei Jahre in der Waldschule. Wie heißest du?

Drude.

Drude? Ach! Nicht Trude?

Nein, Drude.

Komm, Drude, wollen wir zusammengehn?

Der ganze Zug setzte sich jetzt in Bewegung. Vor ihnen buntes, scherzendes Gewimmel, auch hinter ihnen Schwatzen und Lachen. Drude fühlte sich so wohl, mitten darunter zu sein. Auch daß sie dennoch still sein durfte, gefiel ihr so gut. Denn Erika wurde immerfort angeredet.

Sie gingen erst durch die Straßen der kleinen Stadt. Aber überall blickten schon die Berge herüber. Rechts waren es Weinberge. Auf der andern Seite ragte eine Burgruine, kühn und malerisch. Und dann begann eine Landstraße, und die stieg steil hinauf, und immer schöner wurde der Blick.

Erika beobachtete Drude heimlich. Sie bemerkte, wie lebhaft sie die Reize der Landschaft in sich aufnahm, und wie ihr keine neue Schönheit des Weges entging. Die ist ganz voll innerer Bildung, dachte Erika. Dies feinfühlende, das wir andern erst hier bekommen, das bringt sie schon mit. Wer mag sie sein?

Drude sah auch immer heimlich auf Erika. Nein, wie schön sie war! Und sie war auch so freundlich zu ihr. Aber dennoch fühlte Drude etwas wie kühle Zurückhaltung allmählich über sich kommen. Denn die Art, wie Erika mit den großen Jungen verkehrte, mißfiel ihr. Aber Drude schalt sich. Mußte sie immer an allen Menschen gleich zuerst die Fehler bemerken? Laß sie doch Fehler haben, das ist doch nicht meine Sache. Und sie wollte recht freundlich sein.

Als wieder in fröhlichen Rufen die Namen hin und her flogen, wunderte sich Drude, daß alle Kinder sich nur mit dem Vornamen nannten. Eure Vatersnamen sagt ihr wohl nie? fragte sie Erika.

Nein, antwortete Erika, bei manchen weiß ich sie nicht einmal, wir leben doch ganz geschwisterlich, und da ist es natürlich, daß wir uns beim Vornamen nennen. Nur wenn Namen doppelt sind, sagen wir manchmal den Vatersnamen mit. Nun, Drude heißt so leicht keine andere. Was für ein seltsamer Name übrigens! Liebst du ihn?

Ich finde ihn schön, sagte Drude, ein wenig trotzig.

Er bedeutet doch etwas? fragte Erika. Ist es nicht ein heidnisches Zauberweib?

So sagten nur die, die sich fürchteten! Aber die Gläubigen, denen sie heilig war, denen war sie Priesterin, Wissende, Wala!

Erika hatte ihre Frage so harmlos hingeplaudert und war nun betroffen. Denn wie Drude das sagte, klang es überaus hochmütig.

Und Drude fühlte das auch, und dadurch wurde es schlimmer. Denn sie ärgerte sich. Sie hatte es doch weiß Gott nicht hochmütig gemeint! Oder wenn, dann galt es doch den alten Christenleuten, die längst, längst tot waren, und nicht dieser lebendigen, freundlichen, wunderschönen Erika.

Aber wie soll man ihr das nun sagen? Drude ärgerte sich.

Ob es wohl andern Kindern auch so ging? Daß sie so gern etwas gut machen wollten und konnten und konnten es nicht herausbekommen? Oder ob das daran lag, daß sie so viel allein gewesen war, und nicht recht Erfahrung hatte im Umgang mit Kindern? – Oder ob das andern jungen Menschen auch so ging? Daß sie so gern etwas sagen wollten, und konnten es einfach nicht herausbekommen? Zu dumm, zu dumm –

Erika ging eine ganze Weile schweigend neben ihr her. Ihr Entgegenkommen war so warm gewesen, nun fühlte sie eine Ablehnung, und es machte sie traurig. Und sie wunderte sich, daß sie nicht gekränkt war, sondern daß es sie traurig machte. Und was wirst du mir sein, Drude? dachte sie. Zauberin, dämonische, oder Priesterin? Drude fühlte diesen Blick voll stummer Frage und verstand ihn nicht, und der Blick lastete auf ihr. Sie ordnete verlegen an den Mänteln, die sie, über den Arm gelegt, trug.

Darf ich dir etwas abnehmen? fragte Erika freundlich.

Danke, ich trage sie selbst, sagte Drude abweisend.

Da wurde Erika ein wenig rot, und ging von ihr fort zu den andern, und war bald der Mittelpunkt unter ihnen.

Drude war ganz erschrocken. Ach warum, warum mußte das nun wieder kommen? Es kam ja leider so oft vor! Im Herzen war alles voll Freundlichkeit, und wenn sie sprach, dann kam etwas Kaltes und Unfreundliches heraus, so daß die andern abgestoßen wurden. Zu Hause hatte sie es auch immer so gemacht.

Immer war sie in dem Ruf, hochmütig zu sein, und sie wollte es doch nicht, sie wollte es doch nicht. Ob es wohl schon einem Menschen in der Welt so gegangen ist?

Ach, lieber Gott, mach doch, daß ich in der Waldschule unter den entzückenden Lindern nicht kalt und eklig und unglücklich bin! sondern gut und freundlich, so daß sie mich lieben!

Nach einer Weile gesellte sich eine andere zu ihr. Die war gertenschlank, und hatte glatte, gescheitelte Haare um ein liebes, stilles, schmales Gesicht, und hieß Dora.

Darf ich dir den Mantel abnehmen? fragte sie freundlich.

Ach ja, bitte! sagte Drude herzlich. Und Dora lächelte sie erfreut an. Wie gut, daß du zu uns kommst in die Waldschule! Es wird dir so bei uns gefallen.

Und sie fing an, von der Waldschule zu erzählen. Daß es dort fünf verschiedene Häuser gäbe, in denen sie familienweise wohnten. Immer sechs bis acht Schüler und Schülerinnen zusammen bildeten eine Familie. Du bist Drude? Ich habe heute deinen Namen gelesen. Ich glaube, du kommst zu Fräulein Meunier, einer Französin aus der Schweiz, die ist sehr nett.

Wo bist du?

Ich bin bei Frau Hell. Das ist nun freilich ganz etwas anderes! Über Doras Gesicht ging etwas wie eine stille Verklärung, ein frohes, heimliches Leuchten. Ach, dachte Drude ehrfurchtsvoll, wie muß die sein! diese Frau Hell!

Und Dora erzählte von den andern Lehrern und von den Schülern, und mancherlei von der Chronik der Schule.

Und Drude hörte behaglich zu. Und immer ging, wie eine begleitende Musik, die grüßende Gegenwart der lebendig schönen Landschaft mit ihr. Sie kamen nun schon seit geraumer Zeit durch ein langes Dorf, das sich in verstreuten Häusern von malerischer Lieblichkeit den Weg entlang hinaufstreckte. Drude staunte mit Entzücken diese blühende Dorfpoesie an. Das ist Deutschland, sagte sie. Ja, das ist Deutschland!

Bist du nicht aus Deutschland? fragte Dora verwundert.

Ja, aber bei uns in der Mark ist eine wendische Urbevölkerung, die baut anders. Dies hier, das ist das alte Deutschland. Sieh nur das kleine Haus da am Hange mit dem Weinlaub und den Blumenstöcken, so versponnen, so zum Verträumen – das ist deutsch. Vielleicht ist es das, was sie immer meinen, wenn sie sagen: Ostelbien! Es ist eine andere Urbevölkerung da. Andere Seelenkräfte, weißt du. Versteh, ich liebe die Mark sehr, sie ist ja meine Heimat. Aber dem deutschen Menschen in mir ist dies heimatlicher. Dora war überrascht und ergänzte eifrig: Ja, hier sind die deutschen Märchen zu Hause und die deutschen Volkslieder. Hier ist das Nibelungenlied entstanden.

O wie schön, wie schön, daß ich da mittendrin bin, sagte Drude. Es klingt und singt um einen her! Ach, wie mögen hier Mondscheinnächte sein!

Auf einmal kam Erika wieder zu ihnen.

Nun, Drude? Von Dora läßt du dir den Mantel tragen?

Drude errötete. Ach, Erika, bitte, bitte, trage du mir doch diesen Seidenschal, er ist mir so furchtbar schwer! Sie lachte, wie sie es sagte, aber ihre Augen baten um Verzeihung.

Erika nahm lachend den Schal, und dachte: Sie ist eben wirklich entzückend. – Ach, wenn ich doch, wenn ich doch an dich heran könnte! – Aber sie hält sich ja augenscheinlich lieber zu Dora.

Wie kommt es nur, durchfuhr es sie, daß die Jungen sich immer zu mir halten? Alle! Und die Mädchen nie? Bis jetzt habe ich mir nichts daraus gemacht. Aber bei dieser – ach, wenn ich doch an sie herankönnte!

Als sie das Dorf hinter sich ließen, fing die eigentliche Berglandschaft an und wurde immer großartiger, je höher man hinaufstieg. Der breite Fahrweg ging jetzt in schön gewundenen Linien sanft hinan zwischen Wäldern hindurch. Ein Wiesenstreifen blieb frei, durch den ein silbernes Bächlein glänzte. Mit großem Geschrei rannte etwas vorüber und überholte sie! Ein ganzer fröhlicher Trupp Kinder. Drude sah ihm vergnügt zu: Sagt mal, die Kriegsstiefelnot scheint ihr hier auf die einfachste Weise zu lösen! Ihr geht eben barfuß? Nicht wahr, das ist genial, sagte Dora. Und wir haben uns schon so daran gewöhnt, es ist uns gar keine Entbehrung mehr, weißt du, die Füße freuen sich so, die Erde zu berühren oder über die Wiese zu laufen, besonders morgens, wenn der Tau noch liegt.

Ja, aber die Steine! sagte Drude. Doch ich sehe schon: die Füße werden eben klug und weichen aus. Sieh mal, wie sie alle hüpfen! und keiner stößt sich. Die Füße werden viel geschickter, wenn sie so in lebendiger Verbindung mit der Erde sind, und nicht durch dickes Leder von ihr getrennt. Ich habe Freude daran, ich lerne es vielleicht auch noch. Ich muß dir ja gestehn – Sie lachte ein wenig.

Nun?

Ach, weißt du, mein Vater wollte immer gern, daß ich zu Hause im Garten barfuß ginge. Er findet es so viel schöner, und er sagte mir das: Die Füße werden sonst so unfühlend und dumm, wenn man sie nie in Verbindung bringt mit der lebendigen Erde. Dennoch hab ich's immer nicht gern getan. Aber ich lern's nun noch. Ihr habt ja ganz recht.

Ja, und dann sieh unsere Kleider, sagte Dora. Ist das nicht herrlich, was wir für schöne Kleider tragen? Ganz einfach gemacht, es kann nicht einfacher sein, aber so edel und selbstverständlich dem natürlichen Wuchs angepaßt, und Stoffe, die schöne Falten werfen, so daß es bei jeder Bewegung eine kleine Freude für das Auge gibt, und dann die vornehmen und dabei kräftigen Farben! Sieh nur, es ist doch wie ein Blumenbeet. Und es macht so froh, in diesen Kleidern zu gehn. Man hat so Freude an der eigenen Erscheinung, weißt du, und man fühlt sich so in die Natur hineingehörig, zu ihren schönen, starken, reinen Farben.

Dora konnte sich nicht genug wundern! Denn Drude schien durch das, was sie sagte, in die größte Heiterkeit versetzt. Und Dora war doch ganz stolz darauf, was für eine schöne, kleine Rede sie gehalten hatte! Und das war auch nur so herausgekommen, weil Drude ja selber so ganz stark und lebendig sprach, so daß man es alles gleich sah und fühlte. Was war denn nun mit Drude? Sie lachte und hüpfte und rief: Bin ich ein Schaf, ach, bin ich ein Schaf! So daß alle sich erstaunt herzudrängten, um das mitanzusehen, was die interessante Neue da trieb. Und Drude lachte und hüpfte: Ach, Gott, bin ich ein – – nein, nein, ein Rinozeros bin ich! Was ja nun eine sehr erstaunliche Bezeichnung war, wenn man das holde Geschöpflein hüpfen sah.

Ach Gott, sagte Drude, als sie sich ein wenig erholt hatte, ich trag doch immer solche Kleider! Solche edlen, einfachen, eben künstlerischen. In so wunderschönen Farben und mit so wunderschönem Fall, und so sinngemäß geschnitten, dem Wuchs angepaßt, weißt du, alles Gute, was du da sagst, liebe, liebe Dora, paßt darauf. Und ich habe doch jetzt, wie ich zu euch kommen sollte, Großmutti extra gebeten, mir ein braun und weiß gestreiftes, fertig gekauftes Kleid zu schenken, damit ich nicht von euch absteche. Und nun komme ich damit an, und nun steche ich erst recht ab. Aber das ist mir recht. Ach, was wird Vater lachen. Drude, das ist dir recht, wird er sagen. Und sie lachte und lachte.

Die andern lachten auch. Aber sag mal, wie kommt das, daß du immer solche Kleider hast? In der Welt draußen, wer hat denn da solche Kleider?

Mein Vater ist doch Maler, sagte Drude, und lachte und tanzte auf dem Wege vor ihnen her. Und hörte vorläufig nicht auf, denn alle ihre Herzensfreude entlud sich dabei. Die andern sahen ihr entzückt zu. Nein, was du tanzen kannst, Drude!

Mein Vater ist doch Maler, mein Vater ist doch Maler, jubelte sie. Ich hab doch schon tanzen gelernt, ehe ich geboren bin. Mein Vater hat als junger Mensch lauter tanzende Kinder und Jungfräulein gezeichnet. Und sie tanzte und tanzte.

Drudelein, sagte Erika leise vor sich hin, ach sei mir doch gut! Geh doch nicht an mir vorbei! Ich könnte dich so gut brauchen! Drudelein! – Sie sagte es aber ganz leise.

Und Drude tanzte –.

Und auf einmal war sie vor den andern voraus, – und war an einer Wegbiegung vorüber, und sah sich um, und war ganz allein. Da freute sie sich. Nimm mich gütig auf, du schöne, schöne Landschaft, in der ich nun leben werde. Hilf mir gut sein!

Links war eine Schlucht. Und rechts stieg ein Berg hinan. Ach, was für wundervolle Bäume überall! Das war doch nicht ein Park? Nein, es war gewachsene Natur. Und auf jedem Schritt neue Schönheiten, wie hatte doch Vater gesagt? Wo Natur nicht durch enge Zwecke der Menschen gehemmt wird, ist sie immer schön. Natur in sich ist schön und gut.

Ach, auch schön und gut sein! Daß es bei den Menschen so gar nicht selbstverständlich ist! Wir sind doch auch Natur! – Die Hemmungen kommen eben von innen!

Sie sah nun schon, die Waldschule wurde keine Enttäuschung, wenn nicht sie selbst sie sich bereitete durch kalte Unfreundlichkeit. Wenn sie warm und herzlich sein würde, dann würde es ganz entzückend sein. Aber daß es nun gar nicht selbstverständlich war, daß sie es auch konnte! Ach Gott, das Leben!

Mutter –! sagte sie leise und faltete die Hände. Liebe, süße Mutter, die du im Himmel bist, ganz unter lauter Licht! Bringe mir Wärme und Licht, daß ich liebevoll sein kann! Ich will so gern!

– Jetzt ging es ja ganz gut, dachte sie beglückt. Das kam, weil ichs mir vorher erarbeitet hatte, im Stillen. Also das muß man wohl tun! Man muß nicht so ins Leben hineinblasen, wie es gerade kommt, ebensowenig wie bei einer Flöte. Dann geräts ins falsche Loch und man erschrickt. Man muß bewußt wählen: Das ist der richtige Ton! – dann wirds werden.

Nein, da stand ja etwas am Wege, und das war ganz wundervoll! Eine hohe Pyramidenpappel, so schön gewachsen, daß es gar nicht zu sagen war, gerade an einer Biegung des Weges. Welch ein Baum! Wie nur schon die Rinde aussah! so warm, so liebevoll, so mütterlich! Vater hatte einmal einen Baum gezeichnet mit solch einer Rinde, – so als wenn man für alles Leid Trost finden könnte bei dem Baum! Drude ging auf die Pappel zu, legte die Hand auf den Stamm und sagte leise: Du! du! hilf mir auch gut sein.

Da trat jemand herzu. Mit freudigen Schritten stakste ein lang aufgeschossener Junge heran (sie wußte schon von den Zurufen der andern, daß er Friedel hieß), und er sah ihr mit neugierigen, frohen Augen zu. Machst du auch Gedichte? fragte er leise. Nein, sagte Drude, und lächelte ihn liebevoll an, denn als sie in sein freudig erregtes Gesicht sah, da begriff sie, daß er jedenfalls Gedichte machte.

Er stand noch immer da, mit blanken Augen. Als ob er in ihrer Art, den Baum zu lieben, etwas ganz Verwandtes spürte. Da nickte sie ihm herzlich zu, und dann gingen sie nebeneinander, und sagten nichts, und waren froh.

Aber nun machte der Weg wieder eine Biegung, und da schrie Drude vor Entzücken: Ist das die Schule? Da oben ragte es, Haus an Haus, jedes in die Bäume hineingebaut. Schöne, edle, schlichte Häuser. Ach! reine Kultur, sagte Drude leise. Ist das die Schule? rief sie, rot vor Erregung. Ja, sagte Friedel, sehr befriedigt von ihrem Entzücken. Nicht wahr, es ist schön hier? Jeder von uns freut sich, wenn er von den Ferien wieder her kommt.

Ach, was bin ich froh, was bin ich froh, sagte Drude.

Aber nun rannten die andern herbei und überrannten sie fast, und schrien vor Freude; und von oben herunter kam noch ein bunter Trupp ihnen entgegengelaufen, und es war ein Grüßen und Lachen und Zwitschern wie in einem Spatzennest. Wie Drude sich freute! Ja, da war sie nun mitten drin in der lieben, lebendigen, lustigen neuen Welt!

Und als sie oben war, hieß es: Du bist in der Familie von Fräulein Meunier. Und als sie vor der liebenswürdigen Romanin stand, wußte sie sofort: Zu der werde ich kein Verhältnis gewinnen.

Und dann hieß es: Und nun zu Julius. Erst die Alten, dann die Neuen, jeder allein. Und sie begriff verwundert, daß Julius Herr Gehrke war, der Direktor der Anstalt. Julius nennt ihr ihn? staunte sie zu Dora. Nun ja, sagte Dora stolz; die, denen er es erlaubt hat, die nennen ihn so. Und Drude faßte den leidenschaftlichen Wunsch, daß sie es auch so weit bringen möchte.

Drude hatte zu Hause schon viel von Herrn Gehrke gehört. Was für ein besonderer und bedeutender Mann er war. Mit viel Achtung und Liebe hatten sie immer von ihm gesprochen.

Drude nahm sich ernstlich vor, sich so richtig zu benehmen, daß Herr Gehrke einen guten Eindruck von ihr bekommen müßte und sie sich nachher nicht zu ärgern brauchte. Sie sagte sich vorher ganz genau vor, wie sie sein wollte. Bescheiden wollte sie sein; wozu sollten die Menschen immer denken, daß sie hochmütig sei, wenn es doch gar nicht wahr war? Wenn ihr etwas an ihm nicht gefiel, was ja sehr möglich war, dann wollte sie nicht gleich ein kaltes, kritisches Gesicht machen, wie sie immer sagten, daß sie täte, – sie selbst merkte es ja nicht so.

Und dann stand sie vor ihm. Recht lange Haare hat er, dachte sie, wie Vater; und sie sehen aus, als wenn sie jeden Tag gewaschen würden. Aber dann sah sie in sein Gesicht, ach, und sah seine Augen –

Und als Drude nach einigen Minuten wegging, wußte sie gar nicht, wie sie sich eigentlich benommen hatte und was er gesagt hatte – sie wußte nur, daß eine freudige Erregung in ihr war, und eine sehnsüchtige Liebe, und ein unendliches Vertrauen –

Und in der Liebe war Ehrfurcht und – ja, etwas Mütterlichkeit, wie wunderlich!

Und zugleich mußte sie doch an ihren Vater denken; und er und Vater sollten eigentlich Freunde sein.

Sie ging durch den Garten, ganz voll von ihrem Erlebnis, und konnte eine Weile gar nichts anderes tun, als ihm immer neu nachsinnen. Was war nur in den Augen? Sie mußte an einen klaren Bergbach denken, mit dessen Wellen die Sonne spielt, und dem sie goldene Ringel auf den braunen Boden malt: so golden und klar und sonnenhaft und voll Geheimnis waren diese Augen. Oder auch an die goldenen Märchenaugen der Frau Kröte mußte sie denken, der verwunschenen Königin –

Ist er denn eigentlich ein ganz richtiger Mensch? Er sieht aus wie ein Stück Natur – wie ein Stück Bergpoesie sieht er aus!

Sie kam an großen Bauern und Käfigen vorbei, in denen Waldtiere gehalten wurden und, wie man sah, mit großer Liebe gepflegt. Was ist das? fragte sie eine vorübergehende Schülerin. Das sind Herrn Gehrkes Tiere, er pflegt immer Tiere.

Ach! Ja! das glaube ich! dachte Drude. Ja, so sieht er aus: als wenn er wohnt und ruht in etwas Außermenschlichem, – ganz tief eingezogen, in einem liebenden Zusammenhange mit dem Naturleben. Davon sind die Augen so still und märchenhaft.

Als sie weiter durch den Garten ging, sah sie in einiger Entfernung eine Gestalt schreiten, eine hohe, schlanke, schöne Frau, von königlicher und so beseelter Haltung, daß sie erschrocken stehen blieb.

Wer ist das? fragte sie, atemlos, das nächste Kind.

Das ist Frau Hell, sagte die Kleine.

Ach!

Sie heißt mit Vornamen »Edine«, plauderte das Kind. Das paßt so gut, nicht wahr? Es ist etwas so Geheimnisvolles um sie her!

Pech! dachte Drude. Bei der kann man in der Familie sein, und ich bin es nicht? Aber die ist ja ganz wie Vaters Bilder! Und die gehört ja ganz in Vaters feierliche Halle – und zu Tante Gertruds Gesprächen, zu den ganz hohen, die man nicht versteht. Ja! Und sie würden sagen: Schwester! Und ich, ich bin in einer andern Familie? Blech! das geht ja gar nicht. – Auf einmal sagte sie sich: So! hast du das nicht selber gewollt, in einer ganz andern Sphäre sein? Nun hast du es ja! Ist ja alles in Ordnung. – Pech! setzte sie noch einmal hinzu.

Als am Abend Drude im Bette lag, dehnte sie sich froh und dachte: Wie hab' ich's gut! wie hab' ich's gut! Und es zog alles an ihr vorüber: die Berge mit den Frühlingswäldern, und die bunten Kindergestalten, und Erika und Dora und Friedel, und der schöne Weg, und die Pappel, und der Bach mit den gelben Blumen daran, und dann sah sie die goldenen Augen, und dann schritt die hohe Frau daher – und dann freute sie sich auf morgen und schlief ein.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wie die Tage, die Wochen flogen! Wie berauscht trank Drude das neue Leben mit allen Seelensinnen in sich und fühlte, wie alles in ihr sich dehnte und löste, und alles stärker und bewußter wurde, und das Leben ihr klarer wurde und reicher und blühender. War das eine Lust! Manchmal staunte sie in sich hinein, wie rasch sie sich veränderte. Nicht einen Tag war sie ganz wie den vorigen.

Mit Friedel, mit Erika und Dora war sie kaum wieder zusammengekommen. Sie sah sie immer nur von weitem, woher das wohl kam? Es schien, daß für persönliche Verhältnisse in dem lebhaft bewegten Treiben des festgeordneten Tages gar kein Platz blieb. Oder lag es daran, daß sie in einer andern Familie waren? Sie waren alle drei bei Frau Hell.

Sie selbst hatte sich bei der lebhaften Schweizerin anfänglich recht wohl gefühlt, weil deren immer gleiche Liebenswürdigkeit staunende Bewunderung in ihr erregte. Das war es ja, was sie bei sich so schmerzlich vermißte. Und sie nahm sich vor, es der Romanin abzulauschen und hier gleichsam auf die hohe Schule der Liebenswürdigkeit zu gehen. Aber mit der Zeit bemerkte sie, daß, wenn sich Konflikte in den Weg stellten, Fräulein Meunier sie nicht löste, sondern über sie hinwegglitt, und das machte Drude unmutig. Denn es erschien ihr unsauber. Und in ihrer Enttäuschung richtete sie nun ihren Zorn gegen die Liebenswürdigkeit selbst. Sie wurde ungeduldig und reizbar, war es um so mehr, je freundlicher die junge Lehrerin, die sie gern hatte, um ihre Zuneigung warb. Sie war traurig, daß sie Unrecht tat. Und konnte sich doch nicht helfen.

Mit den andern Kindern, die in der Familie waren, lebte sie eine laute, lustige Kameradschaft, die sich in selbstgedichteten, neckenden Schnadahüpfeln äußerte, und an der das Herz nicht groß teilnahm.

Die ganze Kraft ihres Innenlebens wendete Drude in diesen ersten Wochen dem Unterricht zu. Von dem war sie hingerissen.

Es gab hier nicht feste Klassen, wie in andern Schulen. Sondern es hieß: Jetzt ist Geschichtskurs; an dem nehmen die und die teil. Und dann hatte man jeden Tag Geschichte, wochenlang. Und daneben nur ein anderes Fach, mehr nebenbei, und einen Wiederholungskurs noch, der das allgemeine Wissen auffrischte. Also nicht am Tage allerlei Fächer gleichwichtig nacheinander; nicht alle Lehrfächer, die es überhaupt gab, nebeneinander über die ganze Woche gleichmäßig verteilt. Sondern diese Wochen hindurch hatte man eben Geschichte. Und man sammelte alle Kräfte auf den Zeitraum, den es zu bearbeiten galt, und man konnte sich nach Herzenslust in ihn hineinvertiefen. Drude fand das wundervoll.

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