29.

Inhaltsverzeichnis


Am anderen Morgen war es, als sei die gute Stadt B. durch plötzlichen kriegerischen Trommelwirbel aus dem gewohnten Geleise des Werkeltages aufgeschreckt morden. Das Gerücht von der Verlobung im Prinzenhofe lief von Mund zu Mund, und daß keine Menschenseele auch nur »eine blasse Ahnung« davon gehabt hatte, ja, daß selbst die Damenkränzchen mit ihrem unbestrittenen Monopol für Spürsinn und Kombinationen so stockblind gewesen waren, das machte allerdings die Leute nahezu auf dem Kopfe stehen.

Durch das Stubenmädchen kam auch die alarmierende Nachricht brühwarm in das Schlafzimmer der Frau Amtsrätin. »Unsinn!« rief die alte Dame verächtlich, fuhr aber doch mit beiden Füßen aus dem Bette und stand nach wenigen Minuten im Schlafrock und Nachthäubchen vor ihrem Sohne.

»Was ist das für ein fabelhaft dummes Gerede über Heloise und den Prinzen von X, das die Bäckerjungen und Metzgerfrauen von Haus zu Haus tragen?« fragte sie, das Thürschloß in der Hand.

Er sprang auf von seinem Schreibstuhl und bot ihr die Hand, um sie tiefer ins Zimmer zu führen; aber sie wies ihn zurück. »Lasse das!« sagte sie hart. »Ich habe nicht die Absicht, hier zu bleiben. Ich will nur wissen, wie es möglich ist, daß ein solch grundloses Gerücht entstehen konnte.«

Er zögerte einen Moment. Sie that ihm leid, daß sie diesen bitteren Kelch leeren mußte, wenn sie auch selbst die Schuld trug; aber nun sagte er ruhig: »Liebe Mama, die Leute reden die Wahrheit, Fräulein von Taubeneck hat sich allerdings gestern mit dem Prinzen von X verlobt.«

Das Thürschloß entglitt ihrer Hand – sie fiel fast um. »Wahr?« stammelte sie und griff nach ihrer Stirn, als zweifle sie an ihrem eigenen Verstande. »Wirklich wahr?« wiederholte sie und sah ihren Sohn mit funkelnden Augen an; dann brach sie in ein hysterisches Gelächter aus und schlug die Hände zusammen. »Da hast du dich ja schön an der Nase herumführen lassen!«

Er blieb vollkommen gelassen. »Ich bin nicht geführt worden, wohl aber habe ich das Brautpaar zusammengeführt,« entgegnete er ohne die mindeste Gereiztheit und knüpfte daran mit wenig Worten die Mitteilung des Sachverhaltes.

Sie hatte ihm, während er sprach, immer mehr den Rücken gewendet und nagte erbittert an der Unterlippe. »Und das alles erfahre ich jetzt erst?« fragte sie, nachdem er geendet, mit zuckenden Lippen über die Schulter zurück.

»Kannst du von deinem Sohne wünschen, daß er ein ihm anvertrautes Geheimnis vor Damenohren laut werden läßt? Ich habe nach Möglichkeit gegen deinen Irrtum angekämpft; ich habe dir oft genug erklärt, daß mir Fräulein von Taubeneck vollkommen gleichgültig sei, daß es mir nicht einfiele, mich je ohne Liebe zu binden. Du hast für alle diese Versicherungen stets nur ein geheimnisvolles Lächeln und Achselzucken gehabt–«

»Weil ich sah, wie dich Heloise mit ihren Blicken verfolgte und –«

Er errötete wie ein Mädchen. »Und ist das nicht einseitig gewesen? Kannst du dasselbe von mir behaupten? Fräulein von Taubeneck ist sich ihrer Schönheit bewußt und kokettiert mit allen. Solche Blicke sind wohlfeil – mir machen sie nicht den geringsten Eindruck. Du aber solltest doch wissen, daß das ein leichter amüsanter Tauschhandel ist, den die meisten für erlaubt und durchaus nicht für verpflichtend halten. Fräulein von Taubeneck wird trotz alledem eine brave Frau werden – dafür bürgt schon ihre große Gemütsruhe.

Die Thüre fiel wieder zu, und die alte Dame verschwand mit blassem, verstörtem Gesicht abermals in ihrem Schlafzimmer. Aber eine Stunde später eilte das Stubenmädchen zur Schneiderin und in die Putzhandlung, und der Hausknecht rumorte auf dem Boden und schleppte verschiedene Koffer und Köfferchen die Treppe hinab – die Frau Amtsrätin wollte nach Berlin zu ihrer Schwester reisen.

Und als gegen Mittag der Amtsrat seinen Einzug hielt und am Arme seines Sohnes die Treppe im Lamprechtshause hinaufstieg, da kam just seine Frau im Pelzmantel und Schleierhut von oben herab, um in der Stadt Abschiedsbesuche zu machen. Sie sprach überall von ihrem längstgehegten, sehnsüchtigen Wunsche, doch auch wieder einmal eine gute Oper und Konzerte zu hören, der sie nunmehr unwiderstehlich nach Berlin locke. Das Ereignis im Prinzenhofe wurde nur nebenbei berührt, und lächelnd als etwas längst Gewußtes behandelt, über das sich selbstverständlich jedes loyale Herz innig freuen müsse; der Allerintimsten aber flüsterte sie ins Ohr, daß sie den anfänglichen Widerstand des Fürsten von X sehr wohl begreife – es sei nicht jedermanns Sache, die Tochter einer ehemaligen Ballerina in seine Familie aufzunehmen.

Mit ihrer Abreise wurde es für einige Tage still und friedlich im alten Kaufmannshaufe; aber dann kam noch ein Sturm, der allen Bewohnern das Herz erbeben machte. Reinhold mußte endlich die Umwandlung der Familienverhältnisse erfahren. Der alte Amtsrat und Herbert waren möglichst vorsichtig zu Werke gegangen; allein die Enthüllungen hatten trotz alledem die Wirkung einer zerspringenden Bombe gehabt. Reinhold geriet in eine furchtbare Aufregung. Er schrie und tobte und erging sich in den heftigsten Anklagen gegen seinen verstorbenen Vater. Sein leidenschaftlicher Protest half ihm freilich nichts, er mußte sich schließlich fügen. Aber von da an zog er sich noch mehr als früher zurück von der Familie – er aß sogar allein auf seinem Zimmer, aus Furcht, daß er dem kleinen Bruder einmal in der Wohnstube begegnen könne; denn mit »dem Burschen« wolle er nie und nimmer etwas zu schaffen haben, und wenn er hundert Jahre alt werden solle, wiederholte er immer wieder.

Für diesen Ausspruch hatte der alte Hausarzt immer nur ein melancholisches Lächeln – er wußte am besten, wie es um die Altersaussichten seines Patienten stand. Er forderte deshalb möglichste Nachgiebigkeit und Schonung von seiten der Verwandten für den Kranken, und das geschah bereitwilligst. Der kleine Max kreuzte seinen Weg nie. Die Thüre nach dem Packhause war nicht zugemauert worden; auf diesem Wege wurde der lebhafte Verkehr zwischen dem Vorder- und Hinterhause vermittelt... Der Amtsrat hatte den prächtigen Knaben an sein Herz genommen, als sei er auch ein Kind seiner verstorbenen Tochter, und Herbert war sein Vormund geworden.

In Stadt und Land machte, wie vorausgesehen, das geoffenbarte Geheimnis des Lamprechts Hauses großes Aufsehen; es blieb lange Tagesgespräch, und in den Klubs, den Damenkränzchen und auf den Bierbanken wurde für und wider debattiert – die Lamprechts wurden in der That »auf das Allerschönste zerzaust«. Dieser Widerstreit blieb jedoch ohne jedwede Einwirkung auf das jetzige friedvolle Zusammenleben in Großpapas Zimmer, dem roten Salon. Man kam da täglich zusammen, ein enger Kreis von Menschen, die innige Liebe und Zuneigung verband. Und auf dieses Bild der Eintracht zwischen alt und jung sah »die Frau mit den Karfunkelsteinen« lächelnd und augenstrahlend herab.

»Die Schönheit der Frau da oben ist so dämonisch und packend, daß man sich vor ihr fürchten könnte,« sagte Frau Lenz eines Abends erblassend zu Tante Sophie, die neben ihr auf dem Sopha saß und Margaretens Namenschiffre in eine Ausstattungsserviette stickte. Eine Lampe stand auf der Kommode unter dem Bilde, und aus dem Lichtstrom tauchte das junge Weib so lebenatmend empor, als werde es im nächsten Augenblick die Lippen öffnen, um auch ein Wort in die Unterhaltung zu werfen.

»Dieser verderbliche Zauber muß sich meiner armen Blanka förmlich an die Fersen geheftet haben, als sie von hier wieder in die Welt hinausgegangen ist,« setzte die alte Frau mit gepreßter Stimme hinzu. »Sie hat sich am liebsten mit den Steinen geschmückt, die dort in den dunklen Haaren stecken, und in ihren letzten Fieberträumen hat sie mit der schönen Dore gerungen, die – ›sie mitnehmen wolle‹«

Der Landrat, stand auf und rückte die Lampe fort, so daß die Gestalt wieder ins Halbdunkel zurücktrat. »Ich habe die Rubinsterne heute in den Händen gehabt und sie weggeschlossen... In dein Haar werden sie nie kommen!« sagte er zu Margarete.

Sie lächelte. »Denkst du wie Bärbe?«

»Das nicht – aber an ›den Neid der Götter‹ muß ich denken. Und so mag das unheimliche rote Gefunkel für künftig in Frieden ruhen!«

Bärbe aber sagte fast zu derselben Stunde drunten in der Küche zu den anderen: »Der Weg, den unser Junge jetzt alle Tage durch den Gang machen muß, will mir aber nicht gefallen. Die mit den Karfunkelsteinen hat ihr Kindchen mit in die Erde nehmen müssen, und da ist nun so ein schöner strammer Stammhalter dageblieben, und das macht boshaftig.«

»Jetzt müssen Sie sich aber die Zunge abbeißen, Bärbe!« sagte der Hausknecht. »Sie haben ja von dem Unwesen in Ihrem ganzen Leben nicht wieder sprechen wollen.«

»Ach was, ›einmal ist keinmal‹ Am besten wär's, der Gang würde vermauert; denn wer kann's wissen, ob nicht jetzt gar auch noch der schöne Flachskopf neben der Schwarzhaarigen umgehen thut?« ...

Der Glaube an dunkle Mächte wird nicht sterben, solange das schwache Menschenherz liebt, hofft und fürchtet!

1.

Inhaltsverzeichnis


Tante Sophie hatte die Klammerschürze vorgebunden und nahm Wäsche von der Leine. Das Herz lachte ihr im Leibe, während sie unter den hochgespannten Seilen hinschlüpfte – frischgefallener Schnee, ja, was war der gegen das Weiß der bleichenden Tafeltücher und Leinenbezüge? – Seit urvordenklichen Zeiten war stets das schönste Bleichwetter, sobald die Leinenschätze des ehrenwerten Hauses »Lamprecht und Sohn« an die Luft gebracht wurden – »selbstverständlich!« Es sei das so gut ein Vorrecht wie das berühmte Kaiserwetter, meinte Tante Sophie immer mit listigem Augenzwinkern, denn es war jemand im Hause, der solche »Blasphemien« absolut nicht hören mochte ...

Nun zog heute wieder die köstliche Sommerluft dörrend durch die feuchten Lakenreihen, und die Julisonne schien ihre ganze Kraft in dem mächtigen Viereck des Hofes zu konzentrieren. Ueber die Dächer schossen Schwalbenscharen, wie stahlglänzende Pfeile, in den Hof herein; ihre Nester hingen an den steinernen Fenstersimsen in der Bel-Etage des östlichen Seitenflügels, und es war niemand da, der den kleinen Blauröcken wehrte, wenn sie auf den Simsen rasteten und in ihrem aufdringlichen Gezwitscher kein Ende fanden. Ja, es wehrte ihnen weder ein Menschenblick, noch eine fortscheuchende Handbewegung; denn nie klang eines der Fenster droben in diesem Seitenbau, höchstens daß einmal im Jahre auf Stunden gelüftet wurde; dann fielen die großblumigen Gardinen wieder zusammen und ließen es geduldig geschehen, daß ihnen die Sonne den letzten Farbenrest aus der morschen Seidenfaser sog.

Das Haupthaus, dessen Fassade auf den vornehmsten Platz der Stadt hinausging, hatte der Zimmer und Säle genug, und der Bewohner waren nicht viele, da brauchte man die obere Zimmerflucht des östlichen Seitenflügels nicht. Die Leute sagten aber anderes. So hell und sonnig auch das angebaute Hinterhaus in die Lüfte stieg, und so friedlich es erschien mit seinen hohen, stillen Fenstern, es war doch der unheimliche Schauplatz eines Kampfes, eines fortgesetzten, gespenstigen Kampfes bis in alle Ewigkeit. So sagten die Leute draußen in Gassen und Straßen, und die darinnen widersprachen nicht. Warum auch? Hatte es doch seit Anno 1795, wo die schöne Frau Dorothea Lamprecht in dem Seitenflügel ihr Wochenbett abgehalten und da verstorben war, fast keinen dienstbaren Geist der Familie gegeben, der nicht wenigstens einmal die lange Schleppe eines weißen Nachtgewandes durch den Korridor hätte schleifen sehen, oder gar gezwungen gewesen war, sich halbtot vor Schrecken platt an die Wand des Ganges zu drücken, um die lange, hagere »Selige« im grauen Spinnwebenkleide an sich vorüberzulassen. Drum schliefe auch niemand droben in dem Hause, sagten die Leute.

An dem »Unwesen« sollte ein Eidbruch schuld sein.

Justus Lamprecht, der Urgroßvater des derzeitigen Familienoberhauptes, hatte seinem sterbenden Eheweibe, der Frau Judith, feierlich zuschwören müssen, daß er ihr keine Nachfolgerin geben wolle – es sei um ihrer zwei Knaben willen, sollte sie gesagt haben; im Grunde aber war es glühende Eifersucht gewesen, die keiner anderen den Platz an der Seite ihres zurückbleibenden Ehemannes gegönnt. – Herr Justus hatte aber ein leidenschaftliches Herz gehabt, und seine schöne Mündel, die in seinem Hause gewohnt, nicht minder. Sie hatte gemeint, und wenn sie in die Hölle mit ihm müsse, sie lasse doch nicht von ihm und heirate ihn der neidischen Seligen zum Trotz und Tort. Und sie hatten auch zusammen gelebt, wie zwei Turteltauben, bis sich die schöne, junge Frau Dorothea eines Tages in den Seitenflügel zurückgezogen, um sich in der mit fürstlicher Pracht ausgestatteten Wochenstube ein neugeborenes Töchterchen in den Arm legen zu lassen. Herr Justus Lamprecht hatte gesagt, nun sei er auf dem Gipfel des Glückes ...

Es war aber gerade strenger Winter gewesen, und just in der Weihnachtsnacht, wo draußen alles zu Stein und Bein gefroren, war mit dem Glockenschlag Zwölf langsam und feierlich die Thüre der Wochenstube nach dem Gange hinaus zurückgefallen, und die Selige war auf einer grauen Wolke, wie in Spinnweben gewickelt, hereingekommen. Und die Wolke, der Spinnwebenrock, und der häßliche Kopf mit der Spitzen-Dormeuse, alles war unter den seidenen Betthimmel gekrochen und hatte sich auf der Wöchnerin so fest zusammengekauert, als solle dem blühenden jungen Weibe das Herzblut ausgesogen werden. – Der Wartfrau waren Hand und Fuß gelähmt gewesen, und sie hatte sozusagen in einer Eisgrube gesessen, so mörderisch kalt war es von dem Spukwesen ausgegangen; die Sinne waren ihr vergangen, und erst lange danach, als das Neugeborene geschrieen, war sie wieder zu sich gekommen.

Ja, das war nun eine schöne Bescherung gewesen! Die Thüre nach dem eisigkalten Gang hatte noch sperrangelweit offen gestanden, und von der bösen Frau Judith war auch nicht ein Rockzipfelchen mehr zu sehen gewesen, im Bette aber hatte Frau Dorothea aufrecht gesessen und unter heftigem Schütteln und Schaudern mit den Zähnen geklappert und ganz wirr nach dem Kind in der Wiege gesehen, und nachher war sie in Raserei verfallen, und nach fünf Tagen hatte sie, ihr totes Kindlein im Arm, im Sarge gelegen. – Die Aerzte hatten gesagt, Mutter und Kind seien infolge heftiger Erkältung gestorben; die pflichtvergessene Wärterin habe die Thüre schlecht verschlossen, sei eingeschlafen und habe verrückt geträumt – einfältiges Gewäsch! – Wenn das alles so mit natürlichen Dingen zugegangen war, weshalb geschah es denn nachher, daß die schöne Verführerin oft schon im Abendzwielicht aus der ehemaligen Wochenstube gehuscht kam, und die graue Furie hinter ihr hersauste, um ihr von hinten die langen, dürren Arme würgend um den Hals zu schlingen? – – –

Die Firma »Lamprecht und Sohn« hatte zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch mit Leinen gehandelt, und die öfter wiederholte Bezeichnung »Thüringer Fugger« sollte gar nicht übel auf ihr Ansehen gepaßt haben. – Dazumal hatte ihr großer Häuserkomplex am Markte einem Bienenstock geglichen, so lebendig war der Menschenverkehr gewesen. – Bis unter die Dächer hinauf sollten die Leinenballen aufgestapelt gewesen sein, und allwöchentlich waren mächtige Frachtwagen schwerbeladen in die weite Welt hinausgefahren. Tante Sophie wußte das alles ganz genau. Sie selbst hatte freilich jene Zeiten nicht gesehen; aber in ihrem hellen Kopfe waren Familientraditionen, alte Geschäfts- und Tagebuchnotizen und die verschiedenen, oft kuriosen Nachlaßverfügungen so pünktlich registriert, wie sie kaum der Archivar einer Regentenfamilie in den Annalen sammelt.

So war denn auch die alljährliche Julibleiche eine Zeit der Reminiszenzen. Da kamen uralte Wäschestücke auf die Leine, nicht der Benutzung wegen – bewahre! – nur damit sie nicht vergilbten und in neue Brüche gelegt werden konnten. Und die eingewebten Jäger und Amazonen, die mythologischen und biblischen Figuren in dem Damastzeug mochten sich dann freilich jedesmal verwundern, wie still und anders es in dem Hofe geworden, daß von Flachspreisen und Webelöhnen kein Wort mehr fiel, kein hochgetürmter Frachtwagen durch die Thorwölbung des Packhauses rasselte, und das Schlagen der Webstühle in fast lautloser Stille erloschen war. – Es ging ja wohl öfter ein Flüstern und Rauschen durch den Hof, aber das kam vom Zugwind, der durch das Gesträuch und Gezweig fuhr – du lieber Gott, wie sich doch die Welt änderte! – Grünes Blattwerk auf dem ehemaligen Geschäftstummelplatz, der dazumal nicht die ärmlichsten Grasspitzen zwischen seinem festen Bachkieselgefüge hatte aufkommen lassen! Je nun, hatte sich doch das alte Steinpflaster im Laufe der Zeiten selbst nicht behaupten können! Eine dichte Rasendecke lag jetzt auf dem. etwas abschüssigen Terrain, schöne Rosenbäume schüttelten ihre buntfarbigen Blütenblätter über das weiche Gras her; es rauschte junges strotzendes Lindenlaub vor dem westlichen Seitenflügel, der sogenannten Weberei, und das alte Packhaus, welches nach Norden hin den Hof abschloß, war von oben bis unten völlig umschnürt von dem grünen Schuppenpanzer des Pfeifenstrauches.

Der Leinenhandel war längst vertauscht worden mit einer Porzellanfabrik, die sich außerhalb der Stadt, auf dem nahegelegenen Dorfe Dambach befand.

Der gegenwärtige Chef des Hauses »Lamprecht und Sohn« war Witwer. Er hatte zwei Kinder, und Tante Sophie, die Letzte einer Seitenlinie der Familie, führte ihm die Wirtschaft, mit fleißigen Händen, in Zucht und Ehren und weiser Sparsamkeit. Und die lustige Tante mit der großen Nase und den gescheiten braunen Augen hielt es für den klügsten Einfall ihres ganzen Lebens, eine alte Jungfer geworden zu sein, dieweil auf diese Weise doch noch für ein Weilchen eine echte Lamprechtsphysiognomie aus der Hausfrauenstube auf den Markt hinausgucke. – Das klang nun freilich ebenso unangenehm nervenberührend für das Ohr der Frau Amtsrätin, wie die stehende Bemerkung über das Kaiserwetter; aber die Frau Amtsrätin war eine sehr feine Dame, die zu Hofe ging, und Tante Sophie steckte stets die unschuldigste Miene auf, und so kam es nie zu einem Streit zwischen beiden.

»Amtsrats«, die Schwiegereltern des Herrn Lamprecht, wohnten im zweiten Stock des Haupthauses. Der alte Herr hatte sein schönes Rittergut verpachtet und sich zur Ruhe gesetzt; aber er hielt es in der Stadt nicht lange aus. Er ließ Frau und Sohn – seinen einzigen – oft allein und war weit mehr draußen in Dambach, in der Landluft, wo ihm der Wald und das Hasenrevier greifbar nahe lagen, und er in dem geräumigen, zu der Fabrik gehörigen Pavillon seines Schwiegersohnes hausen konnte, so oft und so lange er Lust hatte. –

Es schlug vier auf dem nahen Rathaustürmchen; und mit der Nachmittags-Kaffeestunde nahte das Bleichwerk seinem Ende. – Die Wäsche hatte sich allmählich in den riesigen Korbwannen weiß und hoch wie Schneehügel aufgetürmt, und Tante Sophie nahm zu allerletzt die Klammern behutsam von den kostbaren Wäschealtertümern. Aber da gab es ihr plötzlich einen förmlichen Stich durch das Herz.

»Eine schöne Bescherung!« rief sie ganz erschrocken und betreten der helfenden alten Magd zu. »Da guck' her, Bärbe! Das Tafeltuch mit der Hochzeit zu Kana ist aus dem Leim gegangen – es hat einen mächtigen Riß!«

»Ist auch alt genug – der reine Zunder! – Alles hat seine Zeit, Fräulein Sophie!«

»Was du doch gescheit bist, alte, kluge Bärbe! Das Sätzchen kann ich auch auswendig. – O je, der Schaden geht dem Speisemeister geradeswegs durch die ganze Physiognomie – da werde ich meine liebe Not mit dem Stopfen haben.« – Sie hielt das dünngewordene, morsche Gewebe prüfend gegen das Licht.

»Ein altes Erbstück ist's freilich! Die Frau Judith hat das Gedeck noch mit eingebracht.«

Bärbe räusperte sich laut und schielte verstohlen nach den Fenstern des östlichen Seitenflügels empor. »Solche Leute, die keine Ruhe in der Erde haben, die muß man nicht so laut beim Namen nennen, Fräulein Sophie!« rügte sie mit gedämpfter Stimme und entschieden mißbilligendem Kopfschütteln. »Justement in der Zeit nicht, wo es wieder umgehen thut – der Kutscher hat es erst gestern abend wieder weiß um die Gangecke laufen sehen –«

»Weiß? Na, dann ist's ja doch der Spinnwebenrock nicht gewesen ... Also der nette dicke Kutscher spielt sich auf das Sonntagskind in Eurer Gesindestube? Das sollte nur der Herr wissen! Ihr Hasenfüße wollt wohl sein Haus wieder einmal in aller Leute Mäuler bringen?« – Sie zuckte die Achseln und schlug das Tafeltuch zusammen. »Mir, für meine Person, mir wäre das übrigens ganz egal. Es hört sich eigentlich gar nicht schlecht an, wenn die Leute sagen: ›die weiße Frau in Lamprechts Hause!‹ – Alt und angesehen genug sind die Lamprechts ja! Den Luxus können wir uns schon erlauben, so gut wie die im Schlosse.«

Diese letzten Worte waren offenbar nicht an die Adresse der Magd gerichtet – Tante Sophiens braune Augen zwinkerten lustig nach der Lindengruppe vor der Weberei. Dort funkelten ein paar Brillengläser auf dem feinen Nasenrücken der Frau Amtsrätin. Die alte Dame hatte ihren Papagei ein wenig ins Grüne heruntergetragen und hielt Wache bei ihm von wegen der Hauskatzen. Sie stickte, und neben ihr, am weißgestrichenen Gartentische, saß ihr Enkel, der kleine Reinhold Lamprecht, und schrieb auf seiner Schiefertafel.

»Ich will nicht hoffen, daß Sie das ernstlich meinen, liebste Sophie!« sagte die Frau Amtsrätin; eine leichte Röte war in ihr Gesicht getreten, und die Augen blickten scharf über die Brille. »Mit solchen geheiligten Vorrechten spaßt man übrigens nicht; das ist unziemlich – Strengere als ich würden sagen ›demokratisch‹!«

»Ach ja, das sähe denen schon ähnlich!« lachte Tante Sophie. »Das sind solche, die auch am liebsten wieder mit Feuer und Schwert in der Welt hantieren möchten! Aber muß denn der Mensch gleich ein Demokrat sein, wenn er nicht wie ein Wurm am Boden kriecht? Bei denjenigen, die da wiederkommen, um die lebendigen Kreaturen ins Bockshorn zu jagen, ist doch kein Unterschied mehr, und die weiße Schloßfrau muß ebensogut erst aus einem Moderhäufchen steigen, wie dem Urgroßvater Justus sein schönes Dorchen auch!«

Die alte Dame rümpfte die feine, kleine Nase und schwieg indigniert. Sie legte ihren Stickrahmen weg und trat zu Bärbe. »Wie ist denn das – der Kutscher will gestern abend auch in dem Gange etwas gesehen haben?« fragte sie gespannt.

«Jawohl, Frau Amtsrätin, und der Schreck liegt ihm heute noch in allen Gliedern. Er hat oben in den guten Stuben bis zur Dämmerstunde die Fußböden gewichst, und nachher beim, ›runtergehen‹ ist's ihm gewesen, als wenn in dem Gange hinten eine Thüre sachte zugemacht würde – Frau Amtsrätin, in dem Gange, wo im ganzen Leben kein Thürschlüssel umgedreht wird! Na, kurz und gut – es ist ihm freilich eiskalt über den Rücken gelaufen, und die Beine sind ihm bleischwer geworden; aber er hat sich doch ein Herz gefaßt, ist ein Paar Schrittchen auf die Seite geschlichen und hat um die Ecke geschielt. Und da ist's vor seinen Augen in den langen Gang hingehuscht, ganz schlank und schmächtig und schlohweiß von oben bis unten –«

»Vergiß nur ja die schwarzledernen Handschuhe nicht, Bärbe!« warf Tante Sophie ein.

»Bewahr' mich Gott, Fräulein Sophie, nicht einen schwarzen Faden hat das Unding an sich gehabt! Und wie's um die andere Gangecke saust, da fliegt alles auseinander wie Schleierzeug und ist verschwunden gewesen, der Kutscher sagt, wie Rauch im Winde. Den bringen um die Dämmerstunde nicht zehn Pferde wieder bis an den Gang hin!«

»Wird auch gar nicht verlangt von der Heldenseele – der gehört in den Altweiberspittel mit seinem Spinnstubengewäsch!« sagte Tante Sophie halb amüsiert, halb ärgerlich, und griff nach einer Serviette, um sie von der Leine zu nehmen; aber in demselben Augenblick fuhr auch ihr Kopf herum. »Potztausend, was kömmt denn da für ein Fuhrwerk angerasselt! Ja Gretel, bist du denn närrisch?«

Durch den hochgewölbten Thorweg des Haupthauses kam ein hübscher Kinderlandauer mit einem Gespann von zwei Ziegenböcken in den Hof hereingebraust. Die Lenkerin, ein Mädchen von ungefähr neun Jahren, stand aufrecht und hielt die Zügel stramm in den Händen. Der runde, breitrandige Strohhut war ihr nach dem Nacken zurückgesunken und schwebte, von den Bindebändern am Halse festgehalten, wie eine gelbe Heiligenscheibe hinter dem dunklen Gelock, das wild im scharfen Zugwind aufflog.

Das Gefährt rollte bis zu den Linden, unter denen der kleine Reinhold saß; da erst wurde mit einem kräftigen Ruck Halt gemacht, zum Schrecken des Papageien, der laut aufkreischte, während der Knabe von der Bank glitt.

»Aber, Grete, du sollst ja nicht mit meinen Böcken fahren! Ich will's nicht haben!« zankte Reinhold weinerlich, und sein blasses, schmales Gesichtchen rötete der Zorn. »Es sind meine Böcke! Der Papa hat sie mir geschenkt!«

»Ich thu's nicht wieder, ganz gewiß nicht, Holdchen?« versicherte die Schwester, vom Wagen springend. »Geh, sei nicht böse! – Hast mich noch lieb?« – Der Kleine kletterte wieder auf seine Bank und ließ es nur widerwillig geschehen, daß sie ihn mit stürmischer Zärtlichkeit umfaßte. – »Siehst du, Hans und Benjamin wollen ja doch auch ihren Spaß haben! Die armen Kerle sind so lange im Dambacher Stalle eingesperrt gewesen.«

»Und du bist wirklich allein von Dambach hereingefahren?« fragte die Frau Amtsrätin, Entrüstung und nachträglichen Schrecken in ihrer zarten Stimme.

»Natürlich, Großmama! Der dicke Kutscher kann doch nicht hinter mir im Kinderwagen sitzen? – Der Papa ist nach Hause geritten, und ich sollte mit der Faktorin wieder im großen Wagen hereinfahren; aber die Trödelei dauerte mir zu lange.«

»Solch ein Unsinn! Und der Großpapa?«

»Der stand im Hofthor und hielt sich die Seiten vor lachen, wie ich vorbeisauste.«

»Ja, du und der Großpapa! Ihr seid mir« – die alte Dame verschluckte weislich den Rest ihrer scharfen Bemerkung und zeigte mit dem Finger empört auf Brust und Leib der Enkelin. »Und wie siehst du aus? So bist du durch die Stadt gefahren?«

Die kleine Margarete riß an der Schleife am Halse, um sich von dem Hute zu befreien und streifte mit einem gleichgültigen Blick das gestickte Vorderblatt ihres weißen Kleides. »Heidelbeerflecken!« sagte sie kaltblütig. Es geschieht euch schon recht, warum zieht ihr mir immer weiße Kleider an! Bärbe sagt's ja immer, Packleinwand wäre am besten für mich –«

Tante Sophie lachte, und eine männliche Stimme fiel ein. Fast mit der kleinen Equipage zugleich war ein junger Mensch in den Hof gekommen, ein auffallend hübscher, neunzehnjähriger Jüngling, der Sohn der Frau Amtsrätin und ihr einziges Kind; denn sie war die zweite Frau ihres Mannes und nur die Stiefmutter der verstorbenen Frau Lamprecht gewesen. Der junge Mann hatte einen Stoß Bücher unter dem Arm und kam vom Gymnasium her.

Die Kleine streifte ihn mit einem finstern Blick. »Du brauchst gar nicht zu lachen, Herbert!« murrte sie geärgert, während sie die Zügel der Böcke wieder aufnahm, um das Gespann nach dem Stalle zu bringen.

»So? Werde mir's merken, meine kleine Dame! Aber darf man fragen, wie es mit den Schularbeiten steht? Draußen beim Heidelbeeressen hat das gnädige Fräulein schwerlich seine französische Lektion repetiert, und ich möchte wissen, wie viel Kleckse das Schönschreibebuch heute abend zu verzeichnen haben wird, wenn die Aufgabe per Dampf erledigt werden muß –«

»Keine! Ich werde schon aufpassen und mir Mühe geben – gerade dir zum Trotz, Herbert!« »Wie oft soll ich dir wiederholen, unartiges Kind, daß du nicht ›Herbert‹, sondern ›Onkel‹ zu sagen hast!« zürnte die Frau Amtsrätin.

»Ach, Großmama, das geht ja nicht, und wenn er zehnmal Papas Schwager ist!« entgegnete die Kleine unwirsch und mit allen Zeichen der Ungeduld die dunkle Lockenwucht aus dem Gesicht schüttelnd. »Wirkliche Onkels müssen alt sein! Ich weiß aber noch ganz gut, wie Herbert mit Ziegenböcken gefahren ist und mit Bällen und Steinen die Fenster eingeworfen hat. Und vom Doktor war ihm das Obst verboten, und er hat doch immer ganze Hände voll Pflaumen heimlich aus der Tasche gegessen – ja wohl, das weiß ich noch sehr gut! – Und jetzt ist er ja auch weiter nichts, als ein Schulfuchs, der noch mit den Büchern unter dem Arme geht. – Brr, Hans! Wollt ihr warten!« schalt sie auf das ungeduldige Gespann und faßte die Zügel fester.

Bei der sehr laut gesprochenen, rückhaltslosen Kritik aus kindlichem Munde war der junge Mann dunkelrot geworden. Er lächelte gezwungen. »Du Naseweis, dir fehlt die Rute!« preßte er zwischen den Zähnen hervor, während sein scheuverlegener Blick das gegenüberliegende Packhaus streifte.

Die ein wenig schief hängende äußere Holzgalerie, die im oberen Stock vor den Schiebefenstern dieses alten Hauses hinlief, war auch laubenartig von dem Blattgeflecht des Pfeifenstrauches übersponnen; nur da und dort ließ es Raum für Luft und Licht, indem es einen Rundbogen wölbte. Und in einer solchen grünen Nische blinkte es wie mattes Gold, und manchmal hob sich eine zarte, weiße Hand hinter der Brüstung, um wie träumerisch über das lockere Goldhaar hinzustreichen, oder sich hinein zu vergraben ... In diesem Augenblick aber blieb drüben alles still und unbeweglich.

Die Frau Amtsrätin war die einzige, die das verstohlene Hinüberblicken des Sohnes bemerkt hatte. Sie sagte kein Wort, aber ihre Stirn zog sich finster zusammen, während sie dem Packhaus geflissentlich den Rücken wandte.

»Liebste Sophie, mein Sohn hat recht – Gretchen wird von Tag zu Tag unmanierlicher!« sagte sie hörbar gereizt zu Tante Sophie, wobei sie den Ständer mit ihrem Papagei ergriff, um ihn wieder hinaufzutragen. »Ich thue mein möglichstes, so oft das Kind oben bei mir ist, aber was hilft das alles, wenn hier unten über ihre Ungezogenheiten gelacht wird? – Unsere selige Fanny war in Gretchens Alter schon völlig Dame; sie hatte von klein auf Takt und Chic in bewunderungswürdiger Weise. Was würde sie sagen, wenn sie ihr Kind so wild und ungezügelt aufwachsen sähe, wenn sie hörte, wie das Mädchen so entsetzlich ›geradeheraus‹ und unverblümt zu sprechen gewohnt ist! – Ich verzweifle an irgend einem Resultat diesem Kopf gegenüber!«

»Hartes Holz, Frau Amtsrätin! Daran läßt sich freilich schwer schnitzeln,« entgegnete Tante Sophie mit einem humorvollen Lächeln. »Über wirkliche Ungezogenheiten lache ich nie – da seien Sie ganz ruhig! Aber damit macht mir unsere Gretel das Leben auch gar nicht sauer ... Mit den Knixen und Reverenzen mag's freilich schwer halten – das glaub' ich Ihnen gerne; und darin kann ich auch nicht helfen, denn ich bin keine von den sogenannten Weltpolitischen. Ich sehe nur immer darauf, daß dem Wildfang seine schöne Wahrheitsliebe verbleibt, daß das Kind nicht heucheln und schmeicheln und schöne Dinge sagen lernt, an die es selbst nicht glaubt.«

Währenddem brachte die kleine Margarete, die bei dem Wort »Rute« empört aufgefahren war, als fühle sie bereits den Schlag, mit Bärbes Hilfe das Gefährt unter Dach und Fach, und Reinhold zeigte dem jugendlichen Onkel seine Schreibübungen auf der Schiefertafel.

Der Knabe war von ausnehmend zarter Gestalt, ein dürftig zusammengeschmiegtes Figürchen mit matten, langsamen Bewegungen.

»In der Gretel steckt ein Ueberschuß von Kraft, der will sich austoben!« fuhr Tante Sophie fort. »Wollte Gott, unser stilles, blasses Jüngelchen da« – sie zeigte verstohlen nach dem Kleinen, und ihr Blick verdunkelte sich – »hätte ein Teil davon!«

»Ueber sogenannte Kraftmenschen habe ich meine eigene Ansicht, Liebste!« entgegnete die Frau Amtsrätin achselzuckend. »Mir geht die distinguierte Ruhe über alles! – Da sind wir übrigens wieder einmal bei dem alten Thema von Reinholds Schwächlichkeit – wenn Sie wüßten, wie Sie mich mit dieser ewigen Gespensterseherei irritieren! Mein Gott, Lamprechts einzige Hoffnung, sein Kleinod! – Nein, Gott sei Dank, unser Junge ist innerlich ganz gesund! Der Doktor beteuert es, und ich zweifle nicht, daß Reinhold später einmal seinem Papa an Kraft und Gewandtheit nichts nachgeben wird!«

Diese Behauptung erschien sehr gewagt, wenn man das kümmerliche Menschenpflänzchen am Gartentische mit dem Mann verglich, der in diesem Augenblick in den Hof ritt.

Herr Lamprecht kam von einer andern Seite, als sein Töchterlein, durch die Straße hinter seinem Besitztum, welche einst die mit Leinen befrachteten Wagen frequentiert hatten. Er kam in der letzten Zeit meist diesen Weg. –

Sowie die Reitererscheinung aus dem Dunkel des tiefen Packhaus-Thorweges auftauchte, hatte sie etwas überaus Imposantes. Herr Lamprecht war ein auffallend schöner Mann, tannenschlank und dunkelbärtig, voll Feuer und Würde zugleich in Haltung und Bewegungen.

»Papa, da bin ich! Volle zehn Minuten früher als du! Ja, die Böcke laufen anders als dein Luzifer, die laufen ganz famos!« triumphierte Margarete, die bei dem Getrappel der Pferdehufen auf dem hallenden Thorwegpflaster aus der Stallthüre gesprungen kam.

Das Geräusch des aufgestoßenen Thorflügels drunten brachte auch Bewegung in das grüne Versteck der Holzgalerie, das gerade über der Einfahrt lag – der blonde Kopf fuhr empor. – Vielleicht wurden das Grün der überhängenden Blätter und die altersdunkle Hauswand dahinter zur besonderen Folie und ließen die Maiblumenfrische des jungen Gesichts doppelt blendend hervortreten; auf jeden Fall aber war das Mädchen im hellen Sommerkleide eine Gestalt, die sofort aller Blicke auf sich ziehen mußte.

Sie bog sich, voller Neugierde, wie es schien, aus dem Blätterrundbogen; dabei fielen zwei dicke Flechten vornüber und hingen jenseits des Geländers lang herab, so daß der Zugwind die blauen Bandschleifen an ihren Enden hin und her wehen machte.

Und auf der Geländerbrüstung mochten Blumen liegen; bei der hastigen Bewegung, mit welcher das Mädchen den Arm aufstützte, flogen ein paar schöne Rosen herab und fielen vor den Hufen des Pferdes auf das Pflaster nieder. – Das Tier scheute; aber der Reiter klopfte ihm beruhigend den Hals und ritt in den Hof herein. Mit einem seltsam starren Blick, der weder rechts noch links zu sehen schien, zog er beim Näherkommen den Hut; er war achtlos über die Blumen hingeritten und hatte nicht einmal emporgeblickt nach dem offenen Gange, von woher die duftenden Störenfriede gekommen – Herr Lamprecht war ein stolzer Mann, und die Frau Amtsrätin begriff vollkommen, daß er den Bewohnern des Hinterhauses wenig Beachtung schenke.

Seine kleine Tochter dagegen schien anders zu denken. Sie lief bis zum Packhaus und hob die Blumen auf. »Sie binden wohl einen Kranz, Fräulein Lenz?« rief sie nach dem Gange hinauf. »Ein paar Rosen sind heruntergefallen – soll ich sie Ihnen zuwerfen, oder hinaufbringen? Ja?«

Keine Antwort erfolgte. Das junge Mädchen war verschwunden; es mochte sich, erschrocken über das zurückscheuende Tier, in das Innere des Hauses geflüchtet haben.

Herr Lamprecht stieg indessen vom Pferde. Er war nahe genug, um zu hören, wie seine Schwiegermutter mit mißbilligendem Erstaunen zu Tante Sophie sagte: »Wie kömmt denn Gretchen zu der Intimität mit den Leuten da drüben?«

»Intim? – Davon weiß ich nichts. Ich glaube nicht, daß das Kind je die Treppe im Packhause hinaufgestiegen ist. Nichts als das gute Herz ist's, Frau Amtsrätin! Die Gretel ist eben hilfreich gegen jedermann; das ist die richtige Höflichkeit und mir tausendmal lieber als solche, die außen voller Komplimente sind und innerlich recht grob denken in bezug auf andere Menschen ... Es mag aber auch bei dem Kinde die Freude an der Schönheit sein – ich mach's ja nicht besser! Mir lacht immer das Herz im Leibe, wenn ich das schöne Mädchen dort auf dem Gange hantieren sehe.«

»Geschmacksache!« warf die Amtsrätin leicht hin, aber ihre Stirn furchte sich in Mißmut, und ein finsterer Seitenblick streifte den Sohn, der sich tief über Reinholds Schiefertafel bückte. »Das blonde Genre hat nie Reiz für mich gehabt,« setzte sie mit ihrer stets sanften, gedämpften Stimme hinzu. »Uebrigens habe ich ja gewiß an Gretchens Zuvorkommenheit nichts auszusetzen; es überrascht und freut mich vielmehr, daß sie auch höflich sein kann. Ich gehöre auch nicht zu ›solchen‹, die innerlich grob in bezug auf andere Menschen denken, Liebste – keineswegs; dazu bin ich zu mild und zu christlich! Aber ich stehe auch fest auf meinen gut konservativen Anschauungen, nach welchen gewisse Grenzen absolut aufrecht erhalten werden müssen... Das junge Mädchen – mag es auch als Erzieherin in England gewesen sein und einen höheren Bildungsgrad erlangt haben – allen Respekt vor diesem Streben! – aber ich sage trotz alledem: dieses Mädchen ist und bleibt hier doch nur die Tochter eines Mannes, der für die Fabrik arbeitet, und das muß für uns alle maßgebend sein – hab' ich nicht recht, Balduin?« wandte sie sich an ihren Schwiegersohn, der etwas Ungehöriges an dem Sattelzeug seines Pferdes zu prüfen schien.

Er hob kaum die Stirn, aber ein verstohlener Blitz zuckte seitwärts aus seinen dunkelglühenden Augen, so jäh und grell, als wolle er die zarte sanfte Frau zu Staub und Asche verbrennen. – Sie mußte einen kurzen Moment auf die Bestätigung ihres Ausspruchs warten, dann aber kam sie prompt und gleichmütig von den Lippen des schönen Mannes: »Sie haben ja stets recht, Mama! Wer würde sich wohl unterstehen, anderer Meinung zu sein?«

Er drückte sich den Hut tiefer in die Augen und führte das Pferd nach dem Stall in der Weberei.

2.

Inhaltsverzeichnis


Unter den Linden ging es inzwischen ziemlich laut her. Margarete hatte die aufgelesenen Rosen auf den Gartentisch gelegt – nur so lange, bis Fräulein Lenz wieder auf den Gang herauskomme, sagte sie und kniete auf der Bank neben dem kleinen Bruder nieder.

»Da sieh her, Grete!« sagte Herbert und zeigte auf die Schiefertafel. Er sah noch sehr rot aus, und seine Stimme klang so sonderbar zitterig und unterdrückt – wahrscheinlich noch vom Aerger, dachte das kleine Mädchen. – »Sieh her,« wiederholte er, »und schäme dich! Reinhold ist fast zwei Jahre jünger als du, und wie schön und korrekt ist seine Schrift gegen deine Buchstaben, die so häßlich groß und steif sind, als wären sie mit einem Stück Holz, und nicht mit der Feder geschrieben!«

»Aber deutlich sind sie,« entgegnete die Kleine ungerührt – »so schön deutlich, sagte Bärbe, daß sie die Brille gar nicht erst aufzusetzen braucht wie beim Gesangbuchlesen – warum soll ich mich denn da plagen mit den dummen Schnörkelchen?«

»Nun ja, das konnte ich wissen – du bist ein unverbesserlich faules kleines Mädchen!« sagte der junge Mann, wobei er wie zerstreut eine der Rosen ergriff und ihren Duft einatmete – er schien dies aber nur mit den Lippen zu thun.

»Ja, faul bin ich manchmal in der Schule, das ist wahr!« gab die Kleine ehrlich zu; »aber nicht in der Weltgeschichte – nur im Rechnen und –«

»Und in den Schularbeiten zu Hause, wie dein Direktor klagt –«

»Ach, was weiß denn der? Solch ein alter Mann, der fürchterlich schnupft und immer nur in der Schule und in seiner engen, schrecklichen Gasse steckt – keine Sonne scheint hinein, und seine Stube ist voll Tabaksqualm wie ein Schlot –, der weiß viel, wie einem zu Mute ist, wenn man im Dambacher Garten im Grase liegt und – halt, daraus wird nichts! Die wird nicht wegstibitzt!« unterbrach sie sich, warf ihren geschmeidigen Körper blitzschnell über die Tischplatte hin und haschte nach der Rose, die Herbert, vermutlich abermals infolge seiner Zerstreutheit, eben in der Brusttasche verschwinden ließ.

Aber der sonst so beherrschte junge Mann war in diesem Augenblick kaum wieder zu erkennen. Ganz blaß, die Augen voll Grimm, erfing er die kleine Hand, noch bevor sie ihn berührte, und schleuderte sie von sich wie ein bösartiges Insekt. Die Kleine stieß einen Schmerzenslaut aus, und auch Reinhold sprang erschrocken von der Bank.

»Holla – was geht denn da vor?« fragte Herr Lamprecht, welcher dem herbeigeeilten Hausknecht sein Pferd überlassen hatte, und eben an den Tisch trat.

»Er darf nicht! Das ist so gut wie gestohlen!« stieß die kleine Margarete noch unter der Einwirkung des Schreckens hervor. »Die Rosen gehören Fräulein Lenz –«

»Nun, und –?«

»Herbert hat eine weiße genommen und in die Tasche gesteckt – gerade die allerschönste!«

»Kinderei!« zürnte die Frau Amtsrätin. »Was für abgeschmackte Späße, Herbert!«

Herr Lamprecht sah erhitzt aus, als habe ihm der Ritt das ganze Blut nach dem Kopfe getrieben. Er trat dem jungen Mann schweigend näher und wiegte die Reitpeitsche in seiner Hand; und allmählich umschlich ein überlegenes, verletzendes, spöttisches Lächeln seinen Mund; er kniff die Augen zusammen und fixierte sein jugendliches Gegenüber von Kopf bis zu Füßen, und es war, als sprängen Funken aus den Lidspalten in das Gesicht des jungen Menschen, der heftig errötete.

»Lasse ihn doch, Kleine!« sagte Herr Lamprecht endlich mit einem lässigen Achselzucken zu seinem Töchterchen. »Herbert braucht das gestohlene Gut für die Schule – er wird morgen in der botanischen Stunde seinem Professor eine rosa alba vorzeigen müssen.«

»Balduin! –« die Stimme erstickte dem jungen Manne, als würge eine Hand an seiner Kehle.

»Was befiehlst du, mein Junge?« wandte sich Herr Lamprecht mit ironischer Beflissenheit um. »Habe ich nicht recht, wenn ich behaupte, der bravste Schüler, der ehrgeizigste Streber, der je die Schulbank gedrückt hat, werde vor seinem Abiturienten-Examen schlechterdings keinen anderen Gedanken haben, als die Schule und abermals die Schule? – Geh, büffele nicht so übermäßig! Du bist in der letzten Zeit ganz hohläugig geworden, und dein pausbackiges Jungengesicht verliert die Farbe; unser zukünftiger Minister aber braucht – du weißt, wie jeder Minister heutzutage – Nerven von Stahl und ein ganz gehöriges Quantum Eisen in seinem Blut.«

Er lachte spöttisch auf, schlug den jungen Mann auf die Schulter und ging.

»Auf ein Wort, Balduin!« rief ihm die Frau Amtsrätin nach und nahm zum so und so vielten Mal den immer wieder hingestellten Ständer mit ihrem geliebten Papagei auf.

Herr Lamprecht blieb pflichtschuldigst stehen, obgleich er so ungeduldig aussah, als brenne ihm der Boden unter den Sohlen. Er nahm auch seiner Schwiegermutter den Vogel ab, um ihn zu tragen, und währenddem schoß Herbert wie toll an ihnen vorüber in das Haus, und die steinerne Treppe hallte wider unter den wilden Sätzen, mit welchen er aufwärts stürmte ...

»Nun hat Herbert doch recht behalten!« murrte Margarete und schlug zornig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich glaub's nicht! Der Papa hat nur Spaß gemacht – Herbert wird wohl dem Professor eine Rose mitbringen müssen! – Dummes Zeug!« Sie raffte die übrigen Blumen zusammen, wand ihr seidenes Haarband um die Stiele und lief nach dem Packhaus, um den kleinen Strauß über das Holzgeländer zu werfen. Er blieb auf dem Sims liegen, niemand griff danach, nicht ein Schein des hellen Musselinkleides wurde sichtbar, noch weniger aber dankte die sanfte süße Mädchenstimme, »die man so gern hörte«, vom Gange herab. – Mißmutig kehrte das kleine Mädchen unter den Lindenschatten zurück.

Es war recht still geworden im Hofe. Tante Sophie und Bärbe hatten die letzten Wäschestücke von der Leine genommen und die hochgetürmten Korbwannen ins Haus getragen, der Hausknecht war, nachdem er die Stallthüre geschlossen, ausgegangen, um Besorgungen zu machen, und der kleine, stille Junge saß wieder auf der Bank und malte mit beneidenswerter Geduld seine gerühmten Buchstaben auf die Schiefertafel.

Margarete setzte sich neben ihn und faltete die kleinen, hageren, sonnverbrannten Hände im Schoße; sie ließ die ewig unruhigen Füße baumeln und verfolgte mit ihren lebendigen, klugen Augen den Flug der Schwalben, wie sie über die Dächer herkamen und im scharfen Bogen die blauen Lüfte durchschnitten, um unter den weit hervorspringenden Fenstersimsen des gegenüberliegenden Seitenflügels zu verschwinden.

Inzwischen kam Bärbe mit dem Wischtuch; sie fuhr mit demselben über den Gartentisch, legte eine Kaffeeserviette auf und stellte das klirrende Tassenbrett hin; dann fing sie an, die Waschleine aufzurollen. Von Zeit zu Zeit warf sie einen ärgerlichen Blick nach dem Kinde, das so ungeniert und angelegentlich seine Augen über die obere Fensterreihe des spukhaften Hauses hinwandern ließ; für die alte Köchin war das eine naseweise Herausforderung, die ihr einen gelinden Schauder über die Haut jagte.

»Bärbe, Bärbe, schnell, drehe dich um! es ist jemand drin!« rief die Kleine plötzlich und zeigte mit dem ausgestreckten Finger direkt nach einem der Fenster in Frau Dorotheens ehemaliger Wochenstube, wobei sie von der Bank sprang.

Unwillkürlich, als werde sie von einer fremden Macht herumgerissen, wandte Bärbe den Kopf nach der bezeichneten Stelle und ließ vor Schrecken den mächtig angeschwollenen Waschleinenknäuel aus den Händen fallen. »Weiß Gott, der Vorhang wackelt!« murmelte sie.

»Unsinn. Bärbe! Wenn er bloß wackelte, so wäre das weiter gar nichts; das könnte auch vom Zugwind sein!« sagte Margarete überlegen. »Nein, er war dort in der Mitte« – sie zeigte abermals nach dem Fenster – »dort war er auseinander und es hat jemand herausgesehen; und das ist doch närrisch – es wohnt kein Mensch drin –«

Umtausend Gotteswillen, Kind, wer wird denn immer mit dem Finger hinzeigen!« raunte Bärbe und griff nach der kleinen Hand, um sie niederzubiegen. Sie war dicht vor die Kinder getreten, als wolle sie die Kleinen mit ihrer breiten massiven Figur decken, und kehrte dem bezeichneten Fenster den Rücken – um keinen Preis hätte sie noch einmal die Augen zurückgewendet. »Siehst du, Gretchen, das hast du nun von deinem ewigen Hingucken! Ich wollte dir's vorhin schon sagen, aber du bist ja immer gleich obenhinaus, und da war ich still ... Für so 'was, wie die Fenster da oben, muß der Mensch gar keine Augen haben.«

»Abergläubische alte Bärbe – das sollte nur Tante Sophie hören!« schalt das kleine Mädchen ärgerlich und suchte die vierschrötige Alte aus dem Wege zu schieben. »Erst recht muß man Hinsehen! Ich will wissen, wer das gewesen ist! Es ging vorhin zu schnell – husch, war's wieder weg! – Ich glaube aber, es war Großmamas Stubenmädchen, die hat so eine weiße Stirn –«

»Bärbe sagt, die Frau, die im roten Salon hängt, hätte herausgesehen – die läuft im Hause herum, Tante, und will alle Menschen erschrecken,« klagte Reinhold in weinerlich ängstlichem Ton.

»Ach so!« sagte Tante Sophie. Sie legte das Messer hin und sah über die Schulter nach der alten Köchin, die aus Leibeskräften an ihrem riesigen Knäuel wickelte. »Bist ja ein lieber Schatz, Bärbe – die richtige Jammerbase und Todtenunke!... Was hat dir denn das arme Weibchen im roten Salon gethan, daß du sie zum Popanz für die Urenkelchen machst?«

»Ach, mit dem Popanz hat's keine Not, Fräulein Sophie!« entgegnete Bärbe trotzig und ohne von ihrer Beschäftigung wegzusehen. »Gretchen glaubt's so wie so nicht... Das ist ja eben das Unglück heutzutage! Die Kinder kommen schon so superklug zur Welt, daß sie an gar nichts mehr glauben wollen, was sie nicht mit Händen greifen können.« – Sie wickelte mit so grimmigem Eifer weiter, als gelte es, all den kleinen Ungläubigen die Hälse zuzuschnüren. – »Glaubt der Mensch aber nicht mehr an die Geister- und Hexengeschichten, da kömmt auch unser Herrgott zu kurz, ja – und das ist eben die Gottlosigkeit heutzutage, und darauf leb' und sterb' ich!«

»Das magst du halten, wie du willst; aber unsere Kinder lässest du mir künftig aus dem Spiel, ein für allemal!« gebot Tante Sophie streng. Sie schenkte den Kindern Kaffee ein und legte ihnen Kuchen vor; dann ging sie, um ein Rosenbäumchen von der Waschleine zu befreien, die sich durch Bärbes Ungestüm in seinen Aesten verwickelt hatte.

»Die Sonne war's aber nicht – das steht bombenfest! – Ich will's schon herauskriegen, wer immer durch den Gang huscht und in die Stube schleicht!« murmelte die kleine Skeptikerin am Kaffeetisch vor sich hin und brockte sich die Obertasse voll Kuchen.