Reisen erweitert den Horizont. Der Mensch war immer schon unterwegs, sicherlich heute so bequem wie selten zuvor, wenn er nicht gerade vor irgendeinem verrückten Religionsanhänger oder andersdenkenden Diktator fliehen muss. Denkt man alleine an die Distanzen, die der junge Wolfgang Amadeus Mozart oder auch Wolferl, wie ihn seine Freunde und Vermarkter gerne nannten, noch in wackeligen Kutschen zurücklegen musste. Wobei man davon ausgehen kann, dass das damals nicht die schlechtesten Schlitten am Markt waren, transportierte man doch ein Genie. Dem Menschen von heute ist es möglich, auch ohne geniehaftes Talent bequem und vor allem schnell von A nach B zu gelangen.
Nachdem mir ein Fluglotsenstreik am Flughafen Berlin die Ehre zuteilwerden ließ, bei einer Nettofahrzeit von 10 h 30 min die Strecke Berlin–Wien aus dem bis auf den letzten Platz ausreservierten Bus zu betrachten, habe ich beschlossen, den nächsten Städtetrip Bregenz–Verona–Venedig mit dem Auto zu bewältigen. Als bekennender Menschenfreund verstehe ich natürlich alle Menschen, die so eine Busreise für ausgedehnte Privatunterhaltungen in diversen Fremdsprachen nutzen. Es gibt dabei keine Barrieren und auch keine Sitzreihen mit Nicht-Familienangehörigen dazwischen. Es stört mich auch nicht der Verzehr von bestens gewürzten mitgebrachten Speisen, auch nicht der Spargedanke beim Achselroller oder die zurückgeklappte Sitzlehne des Braunbären vor mir. Jeder einzelne Punkt findet in meiner Wahrnehmung seine Akzeptanz. Treffen sich jedoch all diese Punkte in einem Bus, dann wird es zu viel. Selten habe ich Wien Erdberg so herbeigesehnt. Die Bustüren gehen auf, und die frische Wienluft durchströmt meinen Körper. Was für ein Fest!
Nicht zuletzt der Gepäcksgedanke. Ich reise mit einer großen und einer kleinen Dame. Wenn meine Frau packt, dann packt sie. Andrea packt oft länger, als wir bleiben. Andrea hat gepackt für heiß, für kalt, für nicht so heiß, für nicht so kalt, für warm, kühl, ganz kühl und saukalt. Wir decken alle Klimazonen ab. Medizinisch haben wir eine Erstversorgung mit, damit eröffnet man ein Feldspital in Tansania. Ich muss das direkt einmal überprüfen, ich glaube, wir haben im Urlaub mehr Gegenstände mit, als wir zu Hause besitzen. Meine Frau leiht sich womöglich was aus, wenn wir verreisen, und räumt es in unsere Riesenkoffer. Das sind die in dieser Größe letzten noch legal zu erwerbenden Koffer. Alles andere sind schon Schränke, die als Tiertransport angemeldet werden müssen. Wenn wir fliegen und beim Förderband warten, muss ich gar nicht schauen, ob unser Gepäck kommt. Ich brauche nur zu warten, bis es schattig wird.
Diesmal fliegen wir aber nicht. Nein, wir haben uns entschieden, die eigene Kutsche zu nehmen, da streikt zumindest kein Fluglotse. Ich muss mich vor dem Einsteigen nicht gänzlich entkleiden und durchleuchten lassen. Ich kann nicht abstürzen, da ich bei der Fahrt keinen Alkohol zu mir nehme, und ich muss auch nicht schon zwei Stunden, bevor ich den Wagen starte, die Reise antreten. Es ist alles ganz einfach. Wir gehen zum Auto, packen die Koffer ein, steigen ein und fahren los. Wie einst Mozart.
Die gut gebuchte Städtereise hat einen Bereich, der Neuland für uns alle bedeutet. Airbnb – in Verona.
Airbnb bedeutete für uns, dass man in einer fremden Stadt, in der es kein Zimmer mehr gibt, weil eine internationale Weinmesse stattfindet, um vermeintlich weniger Geld in eine Privatwohnung zieht, die entweder zum Zwecke einer Vermietung besteht oder deren Vermieter selber gerade auf Städtetour in der Welt unterwegs ist und vermeiden möchte, dass seine Wohnung leer steht und ihm dadurch eine Stange Geld entgeht. Zwischenhändler des Deals ist das AirbnbGeschäftsmodell.
Die im Internet bestens beschriebene Behausung wird zu 100 % im Voraus bezahlt. Ein Umstand, den man normalerweise nur mit seinem besten Freund machen würde, oder wenn man Pilze im Restaurant bestellt. Man reist an. Es kommt zur Besichtigung und zur Schlüsselübergabe. So auch bei uns. Von der Uhrzeit zu spät, um bei einer spürbar anderen Wahrnehmung der Immobilie, als im Internet beschrieben, noch eine brauchbare Alternative zu finden, zudem man ein Kleinkind im Schlepptau hat.
Es kommt, wie ausgemacht, ein gewisser Herr Oskar. Groß, schlank, unrasiert. Sicherlich kein Alkoholiker, könnte jedoch einer werden, was sich bei einer internationalen Weinmesse in seiner Stadt anböte. Was er mitbringt ist ein kaum verständliches Englisch sowie einen Bund Hausschlüssel, die er zuvor maximal einmal selber auf ihre Tauglichkeit beim entsprechenden Schloss getestet hat. Nach längerem Suchen des richtigen Gartentors in der komplett zugeparkten Gasse ging tatsächlich ein Stahltor auf, sodass wir zumindest unser Auto in eine verkehrsberuhigte Zone bringen konnten.
Mit der Hoffnung, noch alle Reifen am Wagen zu haben, wenn wir uns länger als zwei Stunden von selbigem entfernen, schnappten wir unser Gepäck und folgten dem Hageren zur Haustüre.
Es ist dem Land und der Jahreszeit zu verdanken, dass wir uns in der Zeit, in welcher der freundliche Anderssprechende den Schlüssel zum Haustorschloss des Gemeindebaupalastes gesucht hat, keine Verkühlung holten. Doch nicht nur ein blindes Huhn gehört zu den Lebewesen, die einmal etwas finden. Nein, auch unser Vermieter kann sich am »Walk Of Find« eines Sternes sicher sein. Die Haustorhürde war geschafft. Jetzt nur noch, welcher Stock und welche Türe. Eine Rechnung mit zwei Unbekannten.
Da sich unser Gepäck in einem Ausmaß befand, bei dem ich ohne Übertreibung sagen kann: »Wir haben mehr mit, als wir zu Hause gelassen haben«, war der liftlose Marsch in den 3. Stock eine durchaus sportliche Leistung. Nun war uns eine Wiederholung des Prozederes wie vor der Haustüre in einem etwas kürzeren Ausmaß vergönnt, da schon zwei Schlüssel auf dem großen Schlüsselbund ihren Schlössern zugeordnet waren. Lediglich merken hätte man es sich müssen. Dass es auch anders geht, wurde uns bewiesen.
Es vergeht Zeit – was sonst –, und die Eingangstüre zu dem beschriebenen Schmuckkasterl öffnet sich. Wir stehen in einer fixfertig eingerichteten Wohnung. Ich weiß ad hoc nicht, ob wir uns das genau so vorgestellt haben. Von den vielen Büchern im Regal erinnern mich ganz wenige an unsere Bücherwand, nicht zuletzt auch aufgrund der anderen Sprache. Sämtliche Bilder von Verwandten und Bekannten, Onkeln und Erbtanten, Kindern und Kindeskindern an der Wand erwecken keine Erinnerung in mir. Das Klavier hätte ich nicht vor die Türe gestellt, den Teppich nie gekauft, und generell die Einrichtung …
Ich denke, einem Alzheimerpatienten muss es so ergehen. Man steht plötzlich mitten in einem fremden Leben. Aufgrund der Verhaltensweise unseres verwirrten Schlüsselboten drängt sich mir die Frage auf, ob jene Person, die hier hauptgemeldet ist, überhaupt von unserer Ankunft weiß. Möglicherweise hat jene Person in gutem Glauben ihrem Neffen den Schlüssel zum Blumengießen und Postversorgen überlassen und denkt nicht im Traum daran, dass wildfremde Leute hier für kurze Zeit ihre Zelte aufschlagen. Vielleicht ist es aber auch so ausgemacht, und alles hat seine Richtigkeit.
Viele Gedanken schießen mir durch den Kopf. Beim Durchschreiten der Räumlichkeiten mit Oskars Erklärungen ob deren Funktion (aha, das ist ein Schlafzimmer … aha, das ist ein Bad), die sich 700 km von Zuhause 1:1 mit unserer deckt, sehe ich häufig Bilder einer ungefähr 60-jährigen Dame mit einem Enkelkind am Arm. Dass es ihr Enkelkind ist, wünsche ich ihr. Es könnte sich selbstverständlich auch um eine sehr, sehr späte Mutterschaft handeln. Was weiß man schon.
Beim Durchwandern kommt mir plötzlich der Gedanke, dass es natürlich auch die Option gibt, dass die hier so fröhlich Abgelichtete das Zeitliche gesegnet haben könnte und deshalb das Bett für uns frei geworden ist. Womöglich hat sie auch hier ihren Weg ins grelle Licht angetreten, und das vor gar nicht langer Zeit, steht doch im Kühlschrank noch ein Einsiedeglas mit der händischen Aufschrift »Albicocche (=Marillen) 2016«. All die Pflanzen hat sie vielleicht vor zwei Wochen selbst gegossen, die Handtücher noch selber gewaschen. Nein, korrigiere, die Handtücher hat schon länger niemand gewaschen. Blöd auch, dass die Handtücher das Einzige sind von unseren eigenen Habseligkeiten, die wir zu Hause gelassen haben. Leider auf meinen Einwand hin, da ich der Meinung war, um den Preis müssten eigentlich FRISCHE Handtücher im Badezimmer liegen. Oft fällt mir meine Blauäugigkeit in den Rücken.
Ich nehme mir ein Herz und frage unseren »Türöffner« nach dem Verbleib der alten Dame, und wie er denn zu ihr stehe. In der Zeit, in der er mir das zu erklären versucht, hat meine Frau unsere Tochter zu Bett gebracht, und selbige ist bereits tief ins Traumland eingesunken. Mit dem Schlusssatz »Alles gut!«, der leider nicht einmal ein Satz ist und wenn, ein falscher, wie »Alles Walzer«.
Nun habe auch ich den Gedanken des Ablebens der Hauptmieterin verworfen und rede mir fix ein, dass die Dame selbstverständlich von der Fremdnutzung ihrer Behausung weiß und tatsächlich mit dem Mountainbike in den Bergen unterwegs ist. Auch wenn es komisch klingt, will ich jetzt gerade nichts anderes glauben.
Wir verabschieden uns von unserem Menschenbruder und versuchen nach einer kurzen Dusche … WARUM richtet jemand so sein Badezimmer ein??? Ich bin kein Freund von den neuen, so oft beschriebenen riesengroßen Oasebädern, doch das hier ist das blanke Gegenteil. Das ist keine Duschtasse, das ist ein Lavoir mit Kanalanschluss. Der Duschvorhang gibt einem kaum Raum zum Atmen, zumal er an der Haut klebt und man ihn bedeutend gründlicher reinigt, als sich selbst. Verlässt man das Duschlavoir in die falsche Richtung, steigt man direkt ins Klo, bei dessen »Besitzen« man sich wunderbar die Zähne über dem Waschbecken putzen kann. Das ist KEIN Bad. Das ist ein Nassraum – unbestritten –, ein Badezimmer im 21. Jahrhundert sieht anders aus. Das hat schon im alten Rom anders ausgesehen, doch man will ja nicht unbescheiden sein.
Wo ist der Platz in dieser Wohnung geblieben? Im Schlafzimmer nicht, geht doch die Türe nicht mehr zu, wenn das Zusatzkinderbett drinnen steht. In der Küche auch nicht. Ein Geruchsinferno nach dem Öffnen der Kühlschranktüre verbietet es mir, mich näher mit der Quadratur des Raumes auseinanderzusetzen. Ich schließe die Küchentüre hörbar, auch wenn ich das nicht wollte, doch den Scharnieren fehlt seit sicherlich fünf Jahren ein Tropfen Öl. Das verursacht Schmerzen im Herzen eines Technikers.
Am liebsten hätte ich meinen Werkzeugkoffer aus dem Auto geholt und alle Türen geschmiert, das Eingangsschloss gewartet und den Oberkopftürschließer beim Hauseingang gerichtet, da er zur Zeit so eingestellt ist, dass er es dir fast nicht möglich macht, die Türe zu öffnen, sie aber danach mit brachialer Wucht ins Schloss zurückfetzt. Ich hätte den Rollladen im Wohnzimmer repariert, der offensichtlich, wie an den Schleifspuren an der ehemals verputzten Laibung zu erkennen, schon vor Jahren aus der Führungsschiene gesprungen ist. Basics gehören hier gemacht! Ich spreche noch nicht von der lose fixierten Vorhangstange oder der Bodenschiene zwischen Fliesenboden und Laminat, deren nicht gänzlich versenkter Schlitzschrauben dir bei falschem Tritt die Fußsohle vom großen Zeh bis zum Fersenbein öffnet. Ich hätte gerne mein Werkzeug geholt, doch meine Frau hat mich daran gehindert, und ich bin ihr dankbar dafür.
Weiters bin ich dankbar, einmal etwas ganz anderes kennengelernt zu haben. Die Idee, mit einem Campingwagen durchs Land zu reisen, hat ein Argument mehr bekommen, mit welchem ich meine Frau irgendwann einmal überzeugen werde.