Andy Briggs

INVENTORY

Der Katastrophen-Code

Aus dem Englischen
von Simone Wiemken

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Für Mum – das bestgehütete Geheimnis der Welt!

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
The Inventory. Black Knight bei Scholastic Children’s Books Ltd., London.

1. Auflage 2018
Text © Andy Briggs, 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Simone Wiemken
Umschlaggestaltung: Juliane Hergt, unter Verwendung des Originalcovers
© by permission of Scholastic Ltd.
ISBN 978-3-401-80784-3

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IST ES ZAUBEREI?

Stephan Ebert konnte sich an dieser Stadt gar nicht sattsehen. Er war gerade erst am Bahnhof Waterloo angekommen und in die Kutsche gestiegen und blickte nun staunend auf die vorbeiziehenden Straßen Londons: Diese Stadt hatte etwas Großartiges, geradezu Draufgängerisches an sich, alles wirkte … so neu. 1897 würde ein aufregendes Jahr werden und mit der langsam näher rückenden Jahrhundertwende verbreitete sich im britischen Empire eine stetig wachsende, fast mit den Händen greifbare freudige Aufregung – ganz anders als bei ihm zu Hause in Preußen, wo davon nichts zu spüren war.

Er zog den Brief aus der Brusttasche und entfaltete das teure Büttenpapier mit dem merkwürdigen fett gedruckten Logo auf dem Briefkopf:

HANDELSKOMPANIE DER ABENTEURERGILDE

Zum gefühlt hundertsten Mal las er das mysteriöse Schreiben, das ihm wie ein Versprechen erschien, bald in äußerst bedeutsame Geheimnisse eingeweiht zu werden.

Abenteurergilde.

Diesen Namen kannte man nur in bestimmten Kreisen. Zu Zeiten Königin Viktorias hatten Handelskompanien großen Einfluss und sogar britische Kolonien im Ausland verwaltet, doch die Abenteurergilde hatte sich stets im Hintergrund gehalten. Die Kutsche rollte durch ein Gewirr aus Gassen und er war froh darüber, sich auf den Kutscher verlassen zu können: Auf sich allein gestellt, hätte er sich in der großen Stadt sicher verlaufen. Doch als sie das Stadthaus erreichten und vor einer schlichten dunkelblauen Haustür hielten, fragte er sich, ob der Fahrer womöglich einen Fehler gemacht hatte. Weder durch ein Schild noch durch ein Wappen wurde darauf hingewiesen, dass dies der Sitz einer so bedeutenden Institution war. Verunsichert ging er auf die schwere Haustür zu und hob die Hand, um anzuklopfen. Doch da wurde auch schon die Tür geöffnet und seine geballte Faust hätte fast den Butler getroffen, der ihn auf der anderen Seite erwartete.

»Herr Ebert«, sagte der Butler, und obwohl er nur knapp einem Faustschlag ins Gesicht entgangen war, verzog er keine Miene. Er deutete ins Innere des Hauses. »Darf ich bitten?«

Stephan trat über die Schwelle und landete in einer eleganten Eingangshalle. Eine Wendeltreppe aus Marmor führte nach oben, und obwohl durch die großen Fenster an der Straßenseite genügend Tageslicht einfiel, wurden die Stufen von vergoldeten Gaslampen beleuchtet. An den Wänden hingen Ölgemälde, die prächtige Segelschiffe, ferne Länder und sogar die Oberfläche des Mondes zeigten.

Stephan hatte jedoch keine Zeit, sich alles anzusehen, denn der Butler steuerte eine Doppeltür an, über der ein Wappen prangte.

»Hier entlang, Sir.«

Durch die Türen gelangten sie in eine eindrucksvolle Bibliothek mit Trittleitern aus Mahagoni und Regalen, die Stephan um das Doppelte überragten. Ein älterer Herr mit einem langen grauen Bart stand, auf einen Stock gestützt, vor dem Kaminsims und betrachtete die wertvolle Uhr darauf.

»Das ist eine sehr schöne Uhr, Sir.«

Der Mann fuhr herum, und als er Stephan entdeckte, leuchteten seine Augen auf.

»Stephan!«, rief er aus, als wären sie alte Freunde. »Vielen Dank, dass Sie sich auf den Weg hierher begeben haben!«

Etwas verwundert ließ Stephan es sich gefallen, dass der Mann ihn umarmte und fest drückte.

»Sir William?« Mit diesem Namen war der Brief unterzeichnet gewesen, durch den er herbestellt worden war, und damit war dieser Sir William bisher seine einzige Kontaktperson zur Firma.

»Jaja.« Der alte Herr tippte mit den Fingerspitzen auf die Kaminuhr. »Aber das hier ist keine Uhr. Es ist vielmehr eine überaus seltene und faszinierende Antiquität aus Griechenland.« Er musterte Stephan von oben bis unten und schien jedes Detail zu registrieren – von den wohlgeformten Wangenknochen bis zu den Geheimratsecken auf Stephans Stirn. Trotz seines Alters hatte der Mann ein jugendliches Funkeln in den Augen. »Sie wissen nicht mehr, wer ich bin, oder? Ich war ein Freund Ihres Vaters. Ich erinnere mich noch gut an Sie. Ich bin Ihnen viele Dutzend Mal begegnet, wenn ich in Königsberg war, aber da waren Sie natürlich noch viel jünger. Ungefähr so groß«, fügte er hinzu und zeigte mit seinem Stock auf Stephans Bauch. »Aber jetzt sind Sie das Ebenbild Ihres hochgeschätzten Vaters.« Stephan nahm das Kompliment mit einem dankbaren Nicken an. »Wie ich höre, sind Sie Experte auf dem Gebiet der Solar-Astronomie?«

»Oh, ich betrachte mich eher als Amateur, Sir, aber gemeinsam mit einigen Kollegen habe ich erstaunliche Dinge über Sonnenflecken herausgefunden und dass sie ein Phänomen auslösen, das als Elektromagnetismus bekannt ist.«

»Elektromagnetismus. Ein faszinierendes, vor gut siebzig Jahren von Oersted entdecktes Phänomen.«

Stephan nickte anerkennend. Sir William verfügte offensichtlich über ein breites Wissen.

Der alte Mann pochte mit seinem Stock auf den Boden. »Ich mag ja alt sein, Herr Ebert, aber ich verfüge immer noch über einen wachen Verstand. Sagen Sie, ist Ihnen Alexander Graham Bells Erfindung bekannt, die er vor rund sechzehn Jahren gemacht hat? Er nannte sie Metalldetektor. Sein Gerät nutzt Elektromagnetismus, um verborgene Gegenstände aus Metall aufzuspüren. Unsere Firma« – Sir William schwenkte seinen Stock durch den Raum – »hat einen besonderen Plan. Einen, den wir unbedingt in die Tat umsetzen wollen.«

Stephan folgte Sir William zu einer knapp anderthalb Meter hohen Pyramide aus Metall, die auf dem Boden stand. »Stellen Sie sich vor, mit einem solchen Gerät nach Metallen zu suchen, aber in einem großen Bereich. Einer Grafschaft oder vielleicht einem ganzen Land.«

»Um was zu finden?«

Sir William grinste. »Vergrabene Schätze.«

»Vergrabene Schätze?«, fragte Stephan verwirrt. »Könnten Sie das näher ausführen? Ihr Brief ging nicht sehr ins Detail, Sir.«

»Das liegt daran, dass ich nicht in Worte fassen kann, was Sie gleich sehen werden.« Sir William klopfte mit seinem Stock gegen die Pyramide. Es klang, als wäre sie hohl. »Dieses Unternehmen bekam seine königlichen Privilegien von Heinrich IV., und zwar im Jahr 1407, ob Sie es glauben oder nicht. Aber es ist noch viel älter. Wir begannen mit der Kontrolle des Handels, doch dann erweiterten sich unsere Interessengebiete. Und unsere finanziellen Mittel. Aber das Ziel blieb immer dasselbe: nach neuen Geschäften Ausschau halten, neue Wege finden, das Steuersäckel des Empire zu füllen und dafür zu sorgen, dass Britannien weiterhin eine bedeutende Nation bleibt.«

»Entschuldigen Sie, Sir, aber Preußen ist kein Teil Ihres Empire. Und wir legen auch keinen Wert darauf.«

Sir William lachte. »Natürlich nicht. Aber Preußen hat Sie. Und Sie sind der führende Experte auf Ihrem Gebiet.«

Stephan war so viel Lob nicht gewöhnt und seine Wangen glühten vor Verlegenheit. »Ich bin nur Astronom. Und ich habe keine Ahnung, wieso ich hier bin.«

Sir William musterte ihn. »Alle wissenschaftlichen Disziplinen sind miteinander verknüpft. Wir brauchen Experten aus allen Fachgebieten. Deswegen sind Sie hier.«

Er klopfte noch einmal gegen die Pyramide, doch diesmal waren es zwei präzise Klopfer. Sofort öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Raums und zwei Männer traten ein. Der ältere der beiden trug einen Anzug und hatte einen Spaniel bei sich, den er an der Leine hereinführte. Der andere, jüngere Mann steckte in einem Arbeitsanzug aus dickem Gummi und sah aus, als würde er sich im Führerstand einer Dampflok deutlich wohler fühlen. Er hatte eine Metallflasche mit einer Sprühvorrichtung bei sich und Stephan fiel auf, wie langsam und vorsichtig er sich bewegte – als würde der Inhalt der Flasche beim leisesten Ruck explodieren.

»Darf ich Ihnen Mister Eins und Mister Zwei vorstellen?« Beide Männer nickten zur Begrüßung.

Stephan hob eine Braue. »Sehr ungewöhnliche Namen.«

»Geheimhaltung ist in diesem Unternehmen unabdingbar. Bitte schreiten Sie zur Tat, Mister Eins.«

Mister Eins öffnete eine Luke an der Seite der Pyramide und schob den Hund hinein.

»Geh schön rein, Pippin. Braver Hund.«

Der Spaniel wedelte mit dem Schwanz, legte sich gehorsam hin, das Kinn auf den Pfoten, die großen braunen Augen auf sein Herrchen gerichtet. Mister Eins streichelte dem Hund über den Kopf und verschloss die Luke.

Sir William bemerkte natürlich, wie beunruhigt Stephan dreinschaute. »Keine Sorge, das Tier hat dieses Experiment schon viele Male mitgemacht. Mister Zwei, bitte eine Demonstration.«

Mister Zwei richtete die Flasche auf die Pyramide und drückte den Sprühhebel. Es passierte nichts. Er versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Mit einem Seufzer begann er, auf den Hebel zu klopfen.

»Tut mir leid«, sagte er mit dem Akzent der Londoner Arbeiterklasse. »Das olle Ding klemmt. Aber das haben wir gleich.«

Sir William lächelte Stephan verlegen an. »Neue Technologie. Irgendwas geht dabei immer schief.«

Stephan umrundete die Pyramide aus sicherer Entfernung und betrachtete sie, so gut es ging. »Woraus besteht sie?«

»Nur aus Eisen. Aber das ist nicht das Besondere an ihr.« Sir William deutete mit einem Kopfrucken auf seine beiden Mitarbeiter, die immer noch mit dem Sprühkopf beschäftigt waren. »Schauen Sie einfach zu.«

»Vorsichtig«, warnte Mister Eins, als sein Kollege gereizt den Hebel drehte.

»Ist ja gut, ich weiß, was ich m…«

Plötzlich brach der Sprühkopf in Mister Zweis Hand ab.

»NUR EIN BISSCHEN!«, schrie Mister Eins, aber es war zu spät. Eine rote Flüssigkeit schoss in einem breiten Schwall aus der Flasche und ergoss sich über eine Seite der Pyramide. Einen Moment lang schien gar nichts zu passieren. Doch als sich die Flüssigkeit schwarz verfärbte, kippte die Pyramide plötzlich um und drehte sich mit der getroffenen Seite zur Decke. Sie konnten hören, wie der Hund losbellte, als die Pyramide jetzt auch noch einen Meter über dem Boden schwebte.

»Unglaublich«, staunte Stephan. »Man könnte meinen, Sie beherrschen die Kunst der Magie!«

Sir William schüttelte den Kopf. »Magie ist die Wissenschaft des kleinen Mannes.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als sich auch der Rest der versprühten Flüssigkeit schwarz färbte und die Pyramide nach oben schoss wie eine Gewehrkugel. Sie durchbrach die Zimmerdecke und Holzsplitter und Gipsstaub rieselten herab.

»PIPPIN!«, schrie Mister Eins verzweifelt, als sie, alle dicht gedrängt, unter dem Loch standen und nach oben starrten.

Pippins Heulen verstummte, als die Pyramide fünf Stockwerke des Hauses durchbrach und auch das Dach durchschlug. Sie konnten nur hilflos zusehen, wie sie himmelwärts sauste und schließlich in den tief hängenden Wolken verschwand.

Stephan bekam vor lauter Verblüffung den Mund nicht zu.

»Wohin fliegt sie?«

Als niemand antwortete, sah er Sir William an und wiederholte seine Frage. Sir William lächelte nur und deutete mit seinem Gehstock direkt nach oben.

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WIEDERENTDECKT

Der alte Flugzeughangar war einer der kleinsten an diesem abgelegenen Flughafen und bot gerade genug Platz für zwei Privatjets und die dafür nötigen Techniker. Doch heute standen hier keine Flugzeuge, sondern nur unterschiedlich große Kisten, die sich an allen Wänden stapelten.

In der Mitte des Raums waren vier Männer und Frauen damit beschäftigt, neue Kisten zusammenzubauen, deren Größe genau auf die Gegenstände zugeschnitten war, die darin verstaut werden sollten.

Mit einem Rumpeln wurde die Tür des Hangars ein Stück weit aufgeschoben und ein Mann in einem schwarzen Rollkragenpulli, Jeans und einem weißen Jackett kam herein. Über seiner Schulter hing ein kleiner Rucksack und aus seinen drahtlosen Kopfhörern drang Elektropop aus den Achtzigern – gerade laut genug, um das Hämmern und den Lärm der Stichsägen zu übertönen.

Der Mann war als Lee bekannt. Natürlich war das nicht sein richtiger Name, sondern nur der Spitzname, den ihm die internationale Verbrecherorganisation gegeben hatte, für die er arbeitete. Er war ziemlich stolz auf seinen Ruf als Meisterdieb.

Als er sich den Arbeitern näherte, bemerkte ihn eine der Frauen. Sie legte sofort ihr Werkzeug hin und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, um ihn zu begrüßen.

»Sie sind früher gekommen als erwartet«, sagte sie mit unverkennbar australischem Akzent, während sie seine Hand schüttelte.

»Nun, wenn Sie es tatsächlich gefunden haben, wie Sie behaupten, könnte mich nichts mehr fernhalten.« Lee nahm seine verspiegelte Pilotenbrille ab und sah sich schnell um. »Ist es wirklich hier?«

Die Augen der Frau leuchteten auf und sie nickte freudig. »Allerdings. Und es funktioniert. Kommen Sie.«

Lee holte tief Luft. Endlich, dachte er. Nachdem er den gewagtesten Raubzug der Geschichte durchgezogen hatte, würde er gleich den Hauptgewinn in den Händen halten.

Die Frau führte ihn zu einer großen Werkbank, auf der unzählige technische Gegenstände lagen. Lee schob seinen Rucksack unter den Tisch und betrachtete den Mann, der am Computer saß und sorgfältig jedes Teil katalogisierte. »Gustav, zeig es ihm.«

Der Mann schaute zu Lee auf und es war eindeutig, dass er ihn verehrte wie einen Helden.

»Hey! Sind Sie es wirklich? Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit!« Er streckte ihm eine Hand entgegen, voller Fett von einem halb aufgegessenen Burger, der neben dem Computer lag, wie Lee feststellen musste. Er machte keine Anstalten, dem Mann die Hand zu schütteln, aber das dämpfte Gustavs Begeisterung kein bisschen. »Waren Sie echt da unten? Im Inventory?«

»Ja.«

»Und wie war’s?«

Lee überlegte einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. »Tödlich.«

Diese Antwort schien Gustav zufriedenzustellen und er fing wieder an, auf seine fettverschmierte Tastatur einzuhämmern.

»Wir werden ewig dafür brauchen, alles zu katalogisieren, was Sie von dort mitgehen ließen. Das hier ist nur ein Bruchteil von dem, was wir zusammengetragen haben. Bei den meisten Dingen haben wir keine Ahnung, wozu sie dienen, das erschwert die Arbeit.«

»Das tut mir aber leid«, bemerkte Lee und seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Wir hatten nur wenige Minuten, um mitzunehmen, was wir konnten, und deshalb war die Etikettierung und Katalogisierung der Beute nicht unsere erste Priorität.«

»Hier ist es!«, sagte Gustav und rief in seiner Inventarliste einen Gegenstand auf. »Posten vier … sechs … zwanzig.« Er drehte seinen Bürostuhl zu Lee um und sah neugierig zu ihm auf. »Wie haben Sie es gemacht? Wie konnten Sie in nur wenigen Minuten zigtausend Sachen stehlen? Das ist der absolute Wahnsinn!«

Lee zögerte. Gerüchte gab es überall, auch innerhalb einer so geheimen Organisation wie der Shadow Helix. Was der Collector, Lee und die anderen erreicht hatten, wurde nur im Flüsterton diskutiert, allerdings immer voller Bewunderung.

»Wir haben tragbare Löcher benutzt«, sagte Lee schließlich. »Aber nicht diese kleinen Dinger, die man an die Wand klatschen kann, um die Hand durchzustecken. Unsere waren Quanten-Wurmlöcher.« Als er Gustavs verständnisloses Stirnrunzeln bemerkte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Extra angefertigt. Sie haben sich so weit ausgedehnt, dass wir eine ganze Zone in einem Loch verschwinden lassen konnten – quasi wie am Ende eines Gangs, den ein Wurm gegraben hat. Und wir haben das Zeug dann durch diesen Tunnel transportiert, so lästige Dinge wie Gestein, Zeit und Raum ignoriert und den ganzen Kram am anderen Ende einfach fallen lassen.«

Gustav nickte. »Ich glaube, jetzt verstehe ich es.«

»Das Problem ist nur, dass es nicht so zuverlässig geklappt hat, wie wir erwartet haben. Einige Dinge, ziemlich viele sogar, haben sich wahllos über den ganzen Erdball verteilt. Und die, bei denen alles nach Plan gelaufen ist, sind einfach irgendwie zusammengeworfen worden …« Mit einer Armbewegung deutete er auf das Chaos im Hangar, als wollte er erklären, wieso das Team so hart arbeiten musste, um alles zu sortieren. »Also, wo ist es?«

»Ach ja. Hier.« Gustav rollte mit seinem Bürostuhl zu einem Kistenstapel und hob eine Box herunter, die etwa die Größe eines Weinkartons hatte. Mit einem Laser war die Nummer 426 eingebrannt worden.

Er reichte Lee die kleine Kiste. Lee holte tief Luft und schob schließlich den Deckel auf. Auf einem dicken Schaumstoffpolster lag ein viereckiges Ding aus schwarzem Bakelit mit drei großen Drehschaltern in der Mitte.

»Der Teslator. Er existiert also wirklich.«

Lee hob das Gerät vorsichtig aus der Verpackung und strich beinahe liebevoll mit einem Finger über den Rand. Es war ein Einzelstück, ein unbezahlbares Werkzeug für die Aufgabe, die vor ihm lag.

Er drehte den ersten Schalter im Uhrzeigersinn und spürte ein Klicken. Ein kleines weißes Lämpchen erwachte flackernd zum Leben. Dann drehte Lee auch den zweiten Schalter und bemerkte erst da die kaum noch leserlichen Funkfrequenzen, die jemand auf das Gerät geschrieben hatte. Als Lee eine bestimmte Frequenz eingestellt hatte, begann ein regelmäßiger Ton aus dem eingebauten Lautsprecher zu pulsieren. Er war nicht besonders laut und auch sonst nicht außergewöhnlich – aber von großer Bedeutung. Lee war derart fasziniert, dass er die angehaltene Luft heftig ausstieß. Es hörte sich an wie ein langer Seufzer.

Gustav lächelte und tippte auf das Gerät. »Ganz genau. Ich habe die Position und die Phasensynchronisierung getestet. Sie sind nicht verändert worden. Dieses Signal hat seit mindestens sechzig Jahren niemand mehr gehört.«

»Das ist es«, murmelte Lee vor sich hin. »Genau danach habe ich gesucht.«

Er schaltete das Gerät ab und legte es wieder in die Kiste.

»Soll ich das Hauptquartier informieren?«, fragte die Frau hinter ihm. Sie hatte sich so still verhalten, dass er sie ganz vergessen hatte.

Lee schüttelte den Kopf. »Nein. Shadow Helix will nicht, dass über diesen Fund auf einem offenen Kanal gesprochen wird. Darum kümmere ich mich selbst.«

Er schloss den Deckel der Kiste, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und schob sie auf der Nase hoch.

»Vielen Dank. Ihr seid super. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie alle eine großartige Belohnung erhalten.«

»Ein neues Auto?« Gustav rieb sich hoffnungsvoll die Hände.

»Oh, es wird viel besser sein als ein Auto! Glauben Sie mir, Sie werden vor Freude in die Luft gehen!« Lee nickte Gustav und der Frau höflich zu und verließ zügig den Hangar.

Er klemmte sich die Kiste fest unter den Arm und steuerte den Privatjet an, der auf dem Rollfeld auf ihn wartete.

Als er den ersten Fuß auf die Stufen setzte, explodierte drinnen im Gebäude die Bombe in seinem Rucksack. Er sah zu, wie die gewaltige orangefarbene Flammenwand das halbrunde Dach des Hangars zum Einsturz brachte, was der Verwüstung den letzten Schliff gab.

Lee lächelte die Crew an, die von der Kabinentür aus entgeistert auf den Unglücksort starrte.

»Informieren Sie Shadow Helix – unser Verwaltungszentrum ist zerstört worden und wir haben alle Mitarbeiter verloren. Sagen Sie ihnen, dass es ein schrecklicher Unfall war.«

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EIN KLEINES MISSGESCHICK

Dev sah den Gang ganz genau vor sich: Er wirkte genauso nüchtern wie alle anderen im Inventory, dieser allerdings bildete eine Art Sechseck. Er wusste, dass er durch eine Tür auf der linken Seite gehen und dass sich diese schon beim Näherkommen mit einem Zischen öffnen würde, und er wusste auch, was ihn auf der anderen Seite erwartete, er musste es einfach wissen – und doch war dieser Versuch, sich zu erinnern, so frustrierend wie der vergebliche Versuch, sich einen Traum wieder ganz genau ins Gedächtnis zu rufen, aus dem man unsanft geweckt wurde. Die Erinnerung an diesen eigenartigen Korridor verpuffte schlagartig, als ihn ein Ball so hart an einer Kopfseite traf, dass er in den Matsch fiel und einige Sekunden lang auf einem Ohr taub war. Er befand sich mitten im Sportunterricht und trotz des ekligen Wetters mussten sie draußen Fußball spielen.

Dev rappelte sich auf, und während er sich noch das Ohr rieb, das ziemlich wehtat, sah er, wie Mason dem Jungen, der den Ball geschossen hatte, einen Highfive gab.

»Gut gehalten, Dev«, sagte Mr Cracker, der Sportlehrer, der sich seinen Namen sicher nicht ausgesucht hatte. Er war ein umgänglicher Typ, zumindest solange es niemand wagte, Witze über seinen Namen zu machen: Dev hatte schon hart gesottene Oberstufenschüler heulen sehen, nachdem sie sich Scherze in dieser Richtung geleistet hatten und von Cracker in die Mangel genommen worden waren. »Aber stell beim nächsten Mal lieber nicht deinen Kopf als Torpfosten zur Verfügung.«

»Mir ist schlecht, Sir. Darf ich mich hinsetzen?« Dev massierte wieder etwas Gefühl in sein Ohrläppchen.

Cracker musterte ihn prüfend. Es war kein Geheimnis, dass Dev den Sportunterricht hasste und im Laufe der Jahre Unmengen von mehr oder weniger glaubwürdigen Entschuldigungen vorgebracht hatte. Doch schließlich nickte der Lehrer und Dev verzog sich auf die Schultoilette, um dort den Rest der Stunde zu verbringen.

In der Mittagspause saß Dev wie üblich allein an einem Tisch. Gedankenverloren ließ er einen Ball auf dem Tisch herumrollen und starrte aus dem Fenster, als Mason auf ihn zukam. Mason vergewisserte sich kurz, dass keine Klassenkameraden in Hörweite waren. Erst dann stützte er sich auf Devs Tisch und sprach im Flüsterton auf ihn ein.

»Die Sache mit dem Fußball tut mir leid.«

»Vergiss es«, murmelte Dev, ohne aufzusehen.

»Du weißt schon, das war nur, um den Schein zu wahren.« Mason und Dev waren nie Freunde gewesen und hätten auch jetzt nichts miteinander zu tun, wenn Mason nicht zufällig das Inventory entdeckt hätte. Doch nun waren sie so etwas wie Kampfgefährten, die einander bei ihren geheimen Missionen für das Welt-Konsortium schon öfter das Leben gerettet hatten. Eigentlich sind wir auch jetzt noch keine richtigen Kumpel, dachte Dev. Also nicht so richtig jedenfalls.

Mason fing an zu grinsen. »Außerdem hast du so verträumt dagestanden, als würdest du förmlich um einen Volltreffer betteln.« Dev hatte den anderen nicht erzählt, was der kleine Gegenstand, den er von ihrem Abenteuer in Hongkong mitgebracht hatte, mit ihm machte. Es war ein TelePath, den man sich hinters Ohr klemmte, und dann konnte man sich per Gedankenübertragung mit anderen verständigen. Das einzige Problem war nur, dass das Ding auch Erinnerungen an sein Gehirn sendete: nicht seine eigenen Erinnerungen, sondern die des exzentrischen chinesischen Wissenschaftlers Professor Liu, dem Schöpfer des Inventorys, den Dev kurz vor der versehentlichen Zerstörung Hongkongs kennengelernt hatte. Manchmal kam es Dev vor, als würden seine eigenen Gedanken gekidnappt, denn die von Professor Liu überfluteten sein Gehirn mit einer solchen Klarheit, dass Dev oft nicht zwischen seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen und denen des mittlerweile verstorbenen Professors unterscheiden konnte.

Das Schlimmste war aber nicht, dass diese Erinnerungen zu den unpassendsten Zeiten auftauchten, sondern dass es jetzt auch geschah, wenn er den TelePath nicht trug. Es kam ihm vor, als hätte das Ding bestimmte Erinnerungen direkt in sein Gehirn hochgeladen.

Mason schnippte mit den Fingern. »Dev? Du hast dich schon wieder weggebeamt, Alter.«

Dev merkte natürlich, wie besorgt Mason ihn ansah, und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Mir geht’s gut. Ich hab nur in letzter Zeit zu wenig Schlaf gekriegt.«

Zumindest das stimmte. Seit ihrer letzten Begegnung mit dem Collector und Double Helix waren mehrere Monate vergangen. Dev, Mason und Lot waren seitdem auf der ganzen Welt herumgereist und hatten Hunderte der vielen Tausend gestohlenen Gegenstände ins Inventory zurückgebracht. Zum Glück hatte es sich dabei meistens um irgendwelchen Kleinkram oder unbedeutende Geräte gehandelt, die von ganz normalen Leuten gefunden worden waren. Da diese Leute nicht ahnten, worum es sich handelte, waren sie nur zu gern bereit, ihre Fundstücke gegen kleine Belohnungen abzugeben. Doch das Welt-Konsortium fand innerhalb kurzer Zeit immer mehr gestohlene Dinge und die drei Freunde wussten allmählich nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand.

»Was hast du da?«, fragte Mason. Er griff nach Devs Hand und schnappte sich den Ball, bevor Dev reagieren konnte.

»Gib ihn wieder her!«, fuhr Dev ihn an, was Mason umso mehr dazu anstachelte, den Ball noch weiter aus seiner Reichweite zu halten.

»Das ist ja nur ein Flummi«, stellte Mason enttäuscht fest, denn er hatte etwas Spannenderes erwartet.

»Den habe ich auf unserem letzten Einsatz gefunden. Erinnerst du dich an diese Typen, die einen ganzen Vorrat Gefrierbomben entdeckt hatten?«

Bei der Erinnerung daran, wie sie beinahe zu Tode gefroren worden waren, schauderte Mason.

»Einer von ihnen hatte ihn bei sich«, erklärte Dev. »Ich dachte anfangs auch, dass es nur ein Flummi ist. Meine Synästhesie konnte keine elektronischen Bauteile ausmachen, aber der Gummiball scheint eine chemisch ausgelöste Massensteigerungskomponente zu besitzen …«

Dev verstummte, denn er hatte Lot durch eines der Fenster gesehen. Sie sprach mit Nathan Fielder, dem Jungen, dessen Haare anscheinend ein Eigenleben führten und grundsätzlich total cool aussahen. Immer wenn er vorbeikam, fingen die Mädchen an zu tuscheln und warfen ihm Dackelblicke zu. Aber nicht Lot redete mit ihm – er redete mit ihr und Dev konnte nicht fassen, dass sie den Kerl unablässig anlächelte, während sie mit ihren Schulbüchern vor ihm stand.

Bei ihren gemeinsamen Abenteuern waren Lot und Dev gute Freunde geworden. Sie war witzig, ziemlich leichtsinnig (das hatte sie garantiert von ihrem Vater, der Testpilot bei der Air Force war) und sie hatte ein total ansteckendes Lächeln, sodass sich alle um sie herum automatisch super fühlten. Und jetzt sah es aus, als würde sich Nathan Fielder super fühlen, denn er legte Lot gerade den Arm um die Schultern. Dev war so damit beschäftigt zu beobachten, was auf dem Schulhof geschah, dass er nicht reagierte, als Mason den Ball einmal auf der Tischplatte hüpfen ließ und dann zurückwarf.

Der Gummiball prallte so unerwartet heftig auf, dass die Kunststoffbeschichtung des Tischs einen Riss bekam. Dev duckte sich, der Ball sauste an seinem geschwollenen Ohr vorbei und knallte an die Wand, wo ein faustgroßes Stück Putz abplatzte.

»Was geht denn hier ab?!«, fragte Mason verblüfft, als der Ball eine Trockenbauwand durchschlug. Eine Schülergruppe kreischte erschrocken auf. Der Ball traf einen Stahlträger an der Decke und verbog ihn. Von dort sauste er wieder nach unten und hinterließ im Boden einen gut fünfzig Zentimeter großen Krater. Dann prallte er wieder ab und durchschlug die Decke der Cafeteria.

Der Lärm von brechendem Metall erfüllte den Raum. Dev war der Erste, der reagierte. Er zerrte Mason am Arm hinter sich her und rannte zur Tür.

»Alle raus!«

Anfangs rieselten nur etwas Gips und Staub von der Decke, doch noch während die Schüler aus der Cafeteria rannten, wurde daraus eine wahre Flut.

Gerade noch rechtzeitig konnten alle nach draußen flüchten: Kaum war auch die letzte der Küchenhilfen mit wirren Haaren und zerrissenem Haarnetz nach draußen gerannt, brach das einstöckige Gebäude auch schon zusammen.

Das Letzte, was Dev sah, war Fielder, der schützend den Arm um Lot gelegt hatte – und dann breitete sich eine Staubwolke über den Schulhof aus und er brauchte den grässlichen Anblick nicht länger zu ertragen.

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EXPANSION

»Und ihr wisst wirklich nicht, welcher Schüler mit dem Ball gespielt hat?«, fragte Charles Parker und sah Dev, Mason und Lot strafend an, die mit ihm in der Küche des Farmhauses saßen, in dem Dev aufgewachsen war.

Lot hob die Hand. »Noch mal fürs Protokoll, ich war überhaupt nicht in der Cafeteria.«

»Nein, du warst auf dem Schulhof und damit beschäftigt, Nathan Fielder anzuschmachten«, murmelte Dev.

Lot runzelte die Stirn. »Was?«

Dev ignorierte sie und sah seinem Onkel direkt in die Augen. Wenn er Charles’ Blicken auswich, wurde der nur noch misstrauischer, das wusste Dev aus Erfahrung.

»Wie schon gesagt, wir wissen es nicht. Wir haben den Ball nur in der Cafeteria herumspringen sehen und gleich gemerkt, dass es kein normaler Flummi war.«

Dev hatte Mason angefleht, nicht zu verraten, dass er den Ball in die Schule mitgenommen hatte, statt ihn abzuliefern, wie sie es mit allen Fundstücken machen sollten. Anfangs hatte Mason sich gesträubt – er wusste, dass ihn diese Lüge in echte Schwierigkeiten bringen konnte –, aber dann hatte Dev ihn daran erinnert, dass er es gewesen war, der den Ball geworfen und damit die Schulkantine zerstört hatte.

Charles seufzte und hob die Brauen. »Ist das nicht merkwürdig, dass etwas von dem verlorenen Kleinkram quasi vor unserer eigenen Haustür landet? Es war übrigens ein Abrissball, erfunden von denselben klugen Leuten, die auch den Hyperball entworfen haben.«

»Die standen wohl auf Bälle«, bemerkte Mason grinsend, doch das Grinsen verging ihm unter Charles’ strafendem Blick.

»Er kam mir gleich bekannt vor«, sagte Dev. Er hatte einen Hyperball benutzt, als die Diebe damals ins Inventory eingebrochen waren.

»Nur dass sich in diesem Fall die Masse bei jedem Aufprall vergrößerte …«

»… bis das Ding die Schule demoliert hat«, beendete Lot den Satz.

»Nur die Cafeteria«, verteidigte sich Mason ein wenig zu hastig.

Dev, der natürlich mitbekam, wie sein Onkel schon wieder die Stirn runzelte, fügte eilig hinzu: »Zumindest hat uns das eine Woche schulfrei eingebracht, weil jetzt die anderen Gebäude auf Schwachstellen überprüft werden.«

Sah Lot tatsächlich enttäuscht aus oder bildete er sich das nur ein? Ihr fehlte doch bestimmt nicht die Schule, oder? Aber vielleicht fehlte ihr … jemand.

»Nun, immerhin ist das Timing nicht schlecht«, bemerkte Charles und ging zum Herd, wo der Wasserkessel kochte.

»Wieso? Gehen wir auf eine neue Mission?«, fragte Lot und ihre Augen funkelten unternehmungslustig.

»Gewissermaßen.« Er machte eine Kunstpause und bereitete sich eine Tasse Tee, während sich seine jungen Agenten fragend ansahen. Erst als er einen Schuss Milch hinzugefügt hatte, sprach er weiter. »Wie ihr wisst, haben wir in letzter Zeit immer mehr Artefakte aufgespürt und schaffen es kaum noch, sie alle einzusammeln. Deswegen hat das Welt-Konsortium entschieden, dass wir expandieren. Wir werden neue Rekruten einstellen.«

Charles tippte mit dem Löffel an den Rand seiner Tasse und sah die jungen Agenten abwartend an. Dev kam es fast so vor, als hätte Charles mit dieser kleinen Geste einen Boxkampf eingeläutet. »Rekruten?«, fragte er prompt. »Wofür?«

»Um die gestohlenen Artefakte zurückzuholen.«

Lot schnaubte empört. Das gefiel ihr gar nicht. »Aber das ist unsere Aufgabe.«

Parker nickte. »Stimmt. Ihr habt ja auch sehr gute Arbeit geleistet … meistens. Aber seit ihr Double Helix vorläufig außer Gefecht gesetzt habt, sind immer mehr Fundstücke aufgetaucht, wie der heutige Vorfall beweist. Und ihr könnt nicht überall gleichzeitig sein.«

»Das ist doch blöd«, maulte Dev. »Für mich klingt das nach einer Schnapsidee.«

Charles schnaufte gereizt, ein deutliches Zeichen, dass er sich gleich mal wieder gewaltig aufblasen würde. »Ich habe nicht gefragt, was du davon hältst, Dev. Ich habe euch nur mitgeteilt, womit ihr zu rechnen habt. Das Welt-Konsortium leitet diese Anlage und seine Mitglieder treffen die Entscheidungen.«

Mason stand auf und begann, in der Küche herumzutigern. Diese Neuigkeit passte ihm gar nicht. »Wieso sehen wir diese Welt-Konsortiumstypen eigentlich nie? Wie kommen die dazu, Entscheidungen zu treffen, ohne uns zu fragen? Wir sollten da mal hingehen und uns beschweren … Wo auch immer das sein mag.«

»Beruhig dich mal, Mason«, sagte Charles gelassen. »Offensichtlich hat das Welt-Konsortium so viel Vertrauen, dass es euch die Ausbildung der neuen Rekruten überträgt, und dafür solltet ihr ihnen dankbar sein.«

»Wir sind begeistert«, knurrte Dev sarkastisch.

Lot schüttelte den Kopf, denn ihr war klar, dass dieses bockige Verhalten nichts brachte. »Okay, es wird also geschehen, egal, was wir darüber denken. Mich interessiert jetzt vor allem: Wann geht es los … und wer sind diese neuen Rekruten?«

Charles nickte wohlwollend. »Vernünftig wie immer, Lottie.« Er bemerkte nicht, wie sie das Gesicht verzog, weil er ihren vollen Namen benutzt hatte. »Wir beginnen jetzt sofort. Um wen es sich dabei handelt, weiß ich auch nicht. Sergeant Wade hat die neuen Rekruten ausgesucht.«

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WAN-SOO

Das Gebrüll der Menge störte.

Natürlich hätte sich Wan-Soo geschmeichelt fühlen müssen, aber er blendete das Gejohle und Getrampel aus, denn die Aufgabe, die vor ihm lag, war zu wichtig. Er atmete tief durch die Nase ein, vertrieb alle störenden Gedanken aus seinem Kopf und griff nach seiner Ausrüstung.

Das letzte Ziel war in Sicht. Er musste jetzt nur noch die Zielperson aus dem Versteck treiben, sie anvisieren und den Abzug drücken. Er warf eine Rauchgranate, die von der Wand abprallte, bevor sie explodierte. Es hatte geklappt: Sein Opfer rannte ihm direkt in die Schusslinie.

Wan-Soos Finger zuckte. Er hörte den Knall des Schusses, sah das blutige Loch im Kopf seiner Gegnerin und dann ging sie zu Boden.

Er schloss die Augen und merkte erst jetzt, dass die Menge viel lauter geworden war. Wan-Soo, dem wieder einfiel, was sich gehörte, stand auf und drehte sich zu seinen Fans um. Von seinem Platz auf der Bühne aus konnte er die rund tausend Zuschauer nur sehen, wenn er die Augen halb zukniff, weil die starken Strahler so blendeten. Er sah zu seiner Gegnerin hinüber, die über ihrem Computer hockte und sich die Hände vors Gesicht hielt. Die Niederlage hatte sie hart getroffen. Wan-Soo verbeugte sich vor ihr – und dann wandte er sich wieder den Zuschauern zu und riss die Arme hoch, was eine neue Jubelwelle auslöste.

Die aufgeregte Stimme eines unsichtbaren Moderators hallte durch die Arena und bestätigte Wan-Soos Sieg im Halbfinale des Gaming-Contests.

Danach ging alles ganz schnell. Wan-Soo wurde von seinem Manager, einem kräftigen Koreaner mit silbernen Haaren, von der Bühne geleitet. Insgeheim verglich Wan-Soo ihn immer mit einem aggressiven Pitbull, denn er ging keinem Kampf aus dem Weg. Doch trotz seines etwas zweifelhaften Rufs grinste der Mann voller Stolz, als er den Jungen zum Hinterausgang des Fernsehstudios führte.

»Gut gemacht! Noch ein Match und du bist Weltmeister! Eine tolle Leistung!«

Beide dachten an das Preisgeld in Höhe von einer Million Dollar, als sie das Studio verließen und in die bereitstehende Limousine einstiegen, die sie durch die neonbunten Straßen von Seoul fuhr.

Wan-Soo konnte immer noch nicht fassen, wie sich sein Leben verändert hatte, seit er ein professioneller Gamer geworden war. Er war als Waisenkind aufgewachsen und bis vor Kurzem kannte ihn kein Mensch. Praktisch am Tag seines achtzehnten Geburtstags hatte er sich jedoch zum Superstar gemausert.

E-Sport war in Südkorea unglaublich beliebt und lockte immer Unmengen von Zuschauern an, die nicht nur mitfieberten, wie sich das Spiel entwickelte, sondern auch die Spieler verehrten. Bedeutende Firmen sponserten die Teilnehmer mit großen Geldsummen und es gab sogar zwei Fernsehsender, die die Spiele live übertrugen. Hier war Gaming ein Riesengeschäft.