Erich Mühsam

Tagebücher in Einzelheften

 

Heft 10

27. Juni – 17. Oktober 1912

 

Herausgegeben von Chris Hirte
und Conrad Piens

Signet

Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.

 

Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.

 

 

München, Donnerstag, d. 27. Juni 1912.

Heut habe ich wieder zwei Stunden im Stefanie vergebens auf Jenny gewartet. Da sie nicht kam, scheint mir der ganze Tag verloren und ich bin übler Laune. Die muß ich benutzen, um endlich die Texte unter die Zeichnungen zu machen, die mir Geheeb mitgegeben hat. Bei guter Stimmung fallen mir bestellte Witze nie ein. Die müssen herausgequält werden. – Es stehen üble Zeiten bevor. Die Rechnung am 1. Juli wird in der Pension ziemlich hoch sein, und, wenn nicht wenigstens der »Simplizissimus« gleich wieder etwas zahlt, kann ich schon mit einem Defizit vom ersten Tage an rechnen. Auf Gotthelf setze ich nicht viel Hoffnungen und mit dem Dreimasken-Verlag wird es wohl endgiltig aus sein. Auf der Kegelbahn sprach ich gestern mit Rehse, er will bei Georg Müller antippen, ob der vielleicht das Essaybuch herausgeben will. Ich habe sehr wenig Zutrauen. Auch das »Tagebuch a. d. Gefängnis« werde ich weiterhin zu plazieren versuchen. Aber ich rechne auch da im voraus mit meinem gewohnten Pech. Wie ich die Dinge immer drehe und ansehe, es bleibt immer wieder ausschließlich der eine Ausweg, den ich nicht beschleunigen kann und auf den ich geduldig warten muß: die Katastrophe in Lübeck.

 

München, Freitag d. 28. Juni 1912.

Bewegte Stunden. Ich bin von Jenny so erfüllt, wie seit langem von keiner Frau mehr. Es ist eine andre Liebe als etwa die zu Ella Barth. Ich bin viel mehr von innen her ergriffen. Ich möchte mich bei dieser Frau ausweinen – das ist es. Bei allen andern stehen sehr andre Wünsche im Vordergrund. Heut kam sie ins Café, total »molsch«, wie sie sich ausdrückte. Sie hatte gestern für ihren 15jährigen Bruder, den sie wohl sehr lieb hat, 100 Mk beschaffen sollen und es war nicht geglückt. Der Junge ist in Königsberg, hat da offenbar Schulden gemacht und hat nun Angst vor den Eltern. Jenny ist nun gestern wie besessen herumgelaufen, sogar zu Wucherern und hatte schließlich am späten Abend von 10 – ½ 3 Uhr im Stefanie gesessen und auf mich gewartet. Nun hatte sie wenig geschlafen und kam heut mittag. Ich freute mich über die Unbefangenheit, mit der sie im öffentlichen Lokal meine Hand nahm und streichelte. Und dann kam sie mit zum Mittagessen. Ich sagte ihr viel Liebes, und wie sie heute meine Hände und Haare streichelte, wie sie ihr Köpfchen mir an die Schulter legte, und sich die Stirn und die Haare küssen ließ, das zeigt mir deutlich, was die Glocke geschlagen hat. Zwar durfte ich ihren Mund nicht küssen, zwar war immer ein Abwehren in ihren Gesten und Blicken, aber darunter spürte ich zu gut die tiefe Zärtlichkeit und Zugetanheit. Sie muß auch wohl deutlich empfunden haben, wie stark und echt ich sie liebe. Mir wurden die Augen einmal so heiß, daß ich sie an ihrer Brust verbergen mußte. Da küßte sie mir lange und sanft die Stirn. – Ich begleitete sie dann. Auf der Straße gingen wir Hand in Hand. Ich sagte zu ihr: »Ich möchte Sie immer bei mir haben.« Da erwiderte sie zuckend: »Bitte sagen Sie das nie wieder.« – Was bedeutet das? Tat ich ihr weh? Hat sie Angst vor mir? Ich weiß es nicht. Aber eins weiß ich jetzt ganz gewiß: Ich liebe Jenny und was ich jetzt an mir arbeiten will, das soll alles für sie geschehn. Ich glaube, mein Leben hat wieder ein Ziel. Ich habe wieder Hoffnung, glücklich zu werden.

Referat: Ich sprach gestern nachmittag mit Mariechen, die mich zu einem Spaziergang aufforderte. Unterwegs sagte ich ihr deutlich meine Meinung, ohne ihr natürlich irgendwelche Vorwürfe zu machen. Ich sagte ihr, sie werde im Leben nicht von ihrem Mann loskommen, weil sie seine Prügel so nötig brauche wie seine Küsse. Vor allem riet ich ihr, fortan geschickter zu lügen, als sie es bei mir getan habe. Ich sei ein Mensch, den solches Verhalten kurze Zeit immerhin mal interessiere, bei andern werde sie bei dem konstanten Schwindeln schlechte Erfahrungen machen. Sie widersprach kaum. Ihr Interesse war von dem Wunsch absorbiert, irgendwoher 3 – 5 Mk zu bekommen. Auch erklärte sie, sie möchte nur reich sein: »Dann würde ich der Welt ins Angesicht scheißen.« Sie fühlt sich wohl, wenn sie derartige Ausdrücke sagt. Aber mich stört der Ton. Erotisch hat die Frau – wohl durch Jennys Auftreten – jeglichen Reiz für mich verloren. – Abends hätte ich ins Residenztheater gehn wollen, wo Helene (Ilona) Ritscher als Hilde Wangel in Baumeister Solneß gastierte. Leider konnte ich Basil, dessen Billet ich erbitten wollte, telefonisch nicht erreichen, und ging erst vor Schluß hin, da mir Jacobi gesagt hatte, nachher werde die ganze Gesellschaft – mit Heinrich Mann etc – in der Odeonbar sein. Ich traf zuerst Fred, der jetzt mit der Ritscher zusammenlebt. Wir gingen vor den Bühnenausgang und erwarteten Steinrück und die Ritscher. Fred und die Ritscher, mit der ich mich sehr herzlich begrüßte, hatten in den Vier Jahreszeiten eine Verabredung. Steinrück war zu nervös, um mitzukommen. Wir gingen aber ein Stück zusammen und er war begeistert von der Leistung der Ritscher, die wahrscheinlich engagiert werden wird. In der Odeonbar traf ich das Ehepaar v. Jacobi, Heinrich Mann und Dr. Goldschmidt. Nach einer Weile rief Waldau an, wir möchten in die Kette kommen, ein Weinlokal in der I[c]kstattstrasse, wo ich vor Jahren mal eine Kneiperei mit der Gräfin zusammen mitmachte, die ein zur Lyrik übergetretener Staatsanwalt veranstaltete. Wir fuhren (ohne Goldschmidt) per Auto hin und trafen dort Gustel Waldau, Ludwig Thoma, Dr. Geheeb und eine Dame bei einer Erdbeerbowle. Es wurde dann bei viel Bowle sehr nett und ich kam zum ersten Mal dem Dr. Geheeb persönlich näher. Wir fuhren – ich war schon ziemlich angetrunken – in später Nacht per Auto zusammen heim, und er forderte mich auf, heute früh mit den Witzen zur Redaktion zu kommen. Dort war ich, traf dort Thoma und Dr. Beich[Blaich] (Ratatöskr-Owlglas) an und erhielt von Geheeb 30 Mk und vom Verlag ein neues Buch der Gräfin »Von Paul zu Pedro«. Ich ging nachher im Englischen Garten spazieren und las schon einige Kapitel. Es ist entzückend ... Im Munde spürte ich an der kranken Stelle seit kurzem das Entstehn eines Geschwürs und da ich nicht ohne Schmerzen war, ging ich heute nach Tisch zu Hauschildt. Der fand eine Haut, die so aussehe wie Diphtherie. Er nahm sie mit der Pinzette heraus. Ein großes dickes Membran, das scheußlich stank und wahrscheinlich auch den sauren Geruch des Nasenschleims bewirkt hatte. Ich bin froh, daß es heraus ist und spüle schon wieder mit Kamillen. Nach Hauschildts Meinung scheint es jetzt, als ob mir beim Zahnziehn der Oberkieferfortsatz gebrochen wäre. Vielleicht stammen diese Erscheinungen aber noch von jener Zahnextraktion vor 3 Jahren in Berlin, wo mir ein Zahnarzt ohne Narkose den letzten Backzahn herausriß und mir dabei den Backenknochen splitterte. Ich möchte aber jetzt wirklich endlich von der widerlichen Störung befreit sein. Kranksein ist denn doch noch ekelhafter als jede andre Schweinerei.

 

München, Sonnabend, d. 29. Juni 1912.

Ich sah Jenny gestern noch einmal. Während ich mit Nonnenbruch am Schachbrett saß, kam sie ins Café. Ihr Bruder hat noch einmal telegrafiert, und das geän[g]stete arme Mädel war wieder stundenlang herumgelaufen, um Geld für ihn aufzutreiben. Sie depeschierte ihm dann eine Vertröstung und versprach, als ich sie heimbegleitete, mich heute vormittag zu einem Spaziergange abzuholen. Jetzt ist’s ½ 12 Uhr und ich warte.

Nach dem Abendbrot kam gestern Frieda Gutwillig zu mir und erzählte unter vielen Küssen, daß sie ein Engagement in ein Gastspiel-Ensemble nach Lübeck angenommen habe. Ich werde ihr eine Empfehlung an Grethe mitgeben. – Ich forderte sie auf, da sie heute schon reisen will, sie solle nachts zu mir kommen. Sie war unschlüssig. Natürlich kam sie nicht. Sie läßt sich wohl ausziehn und überall anfassen, aber sie will doch »brav« bleiben. Dieser Virginitätswahn ist schon etwas unglaublich Abgeschmacktes. – Übrigens bin ich ganz froh, daß sie nicht da war. Ich glaube, meine Unbefangenheit vor Jenny wäre wohl etwas herabgemindert worden. Und jetzt, wo ich so von Jenny benommen bin, täte ich einem andern jungen Mädchen gewiß unrecht, wenn ich sie etwas so Großes wie die erste Liebesnacht erleben ließe.

Im Gambrinus war zuerst garnichts los und es gab einfach eine Unterhaltung, die dadurch ganz nett war, daß ein Berliner Genosse da war. Nachher kam noch Sirch mit einigen Syndikalisten, darunter einem aus Genf, und schließlich füllte sich das Lokal so weit, daß ich gegen ½ 10 Uhr noch vor etwa 20 Personen einen Vortrag halten konnte. Ich schloß an den 200ten Geburtstag Rousseaus an und sprach etwa ¾ Stunden eindringlich und besser als in der letzten Zeit sonst. Schließlich Torggelstube, wo ich Herrn Singer, dem Ehemann von Rosa Valetti noch einen anarchistischen Vortrag hielt. Dr. Rosenthal war dort, Professor Schmutzler, die Schwester von Frau Roland, eine reizende rothaarige junge Person, mit einem Herrn, die Valetti, Muhr, Strauß, Charlé und Steinrück. Ich kam verhältnismäßig früh nach Hause und las das Buch der Reventlow zu Ende. Das moralfreieste Selbstbekenntnis, das ich je in der Hand hatte. Ein verblüffend ehrliches und menschlich anständiges Buch. Ich sehe die Gräfin vor mir.

 

München, Sonntag, d. 30. Juni 1912.

Gestern war der ganze Tag mit Warten auf Jenny ausgefüllt. Sie hatte vormittags kommen wollen, um mich zu einem Spaziergang in den Englischen Garten abzuholen, kam aber nicht. Ich saß nervös zuhause und wartete, wartete so nervös, daß ich nicht einmal arbeiten konnte, so drängend doch nachgrade die Aufgabe wäre, mit der neuen Kain-Nummer anzufangen. Ich ging dann ins Café Stefanie, in der Hoffnung, sie könne mich dort suchen. Sie kam nicht. Wieder heim – Mittagessen allein – Hofgarten: keine Jenny – Café Stefanie. Von dort schickte ich ihr gegen 4 Uhr einen roten Radler mit der Nachricht, daß ich bis 7 Uhr dort auf sie warten werde, dann ins Theater gehe und nachher in der Torggelstube Abendbrot essen und wieder warten werde. Um 6 Uhr kam sie ins Café. Ich war glücklich. Sie begleitete mich dann zum Residenztheater. Doch zog unterwegs ein Gewitter herauf, und schon in der Ludwigstrasse krochen wir in ein Auto, um nicht völlig zu durchnässen. Ich holte vom Hoftheater-Portier Steinrücks Billet und Jenny fuhr vom Residenztheater-Eingang mit dem Auto weiter, während der Gewitterregen klatschend einsetzte. Leider versäumten wir, für heute eine klare Verabredung zu treffen. Sie versprach nur, nachmittags zu mir zu kommen, sodaß mir nichts übrig bleiben wird, als auf den Hofgarten zu verzichten und nach Tisch zuhause zu bleiben. Wenigstens will ich dann mit der Kain-Arbeit beginnen. – Als Jenny fort war, stand ich noch lange in den Arkaden des Theaters und sah dem Wetter zu. Es war ein wunderschönes, sehr schweres und intensives Gewitter. Schlag auf Schlag Blitze und prasselnde Donnerschläge und die Straßen flimmerten vom peitschenden Regen. Im Theater gabs Shaws »Caesar und Cleopatra« mit Helene Ritscher. Das ist eine prächtige Schauspielerin, und ich bin stolz darauf, vor etwa 6 Jahren schon als einer der allerersten auf sie aufmerksam gemacht zu haben. Sie wird wahrscheinlich anstelle der unmöglichen Michalek engagiert werden, obgleich die gesamte Presse ohne geringste Ahnung von Urteil die Ritscher ablehnt. Natürlich fehlts ihr noch sehr am Technischen, sogar die deutsche Sprache macht ihr, der Ungarin, noch Schwierigkeiten. Aber die Intensität, die Wärme, die Innerlichkeit, das Temperament, die Kraft und das herrliche Organ, – es gehört schier die ganze Borniertheit beruflicher Tageskritiker dazu, an dem allen vorbei blos die paar völlig gleichgültigen technischen kleinen Mängel zu sehn. Gelingt es den Kritikern, das Engagement der Ritscher zu hintertreiben, so lege ich im Kain fürchterlich los, besonders gegen »V.«, die Mauke-Vees in der »Münchner Post«, die über die Ritscher als Hilde Wangel urteilt, als ob ein Hund gegen die Wand gepißt hätte. Ich traf im Theater zu meiner Freude Liesel Steinrück, die verhältnismäßig gut aussah, aber nur noch ganz leise sprechen kann. Ich habe die schöne arme kranke Frau so sehr gern. Sie lud mich herzlich ein, sie mal in Tutzing zu besuchen. Ich will mal mit Jenny hinaus. – Ferner sprach ich Strich. Die Mutter des Pumas ist gestorben. Lotte wird nun also bald wieder hier sein. – Im Torggelhaus war kein Mensch. Ein paar minderwertige Leute des Künstlertheaters setzten sich zu mir an den Tisch. Ich ging aber bald, spielte im Stefanie noch Billard und kam zeitig heim.

Heut kam von Johannes ein sehr schöner lieber Brief. Ich war grade bei der Lektüre des »Godwi«. Es ist seltsam, wie ähnlich der Freund jenen Romantikern empfindet. Dieselbe Perspektive zur Welt, dieselbe Art der Freundschaft und Liebe, sogar derselbe Humor, der – meinem sehr unähnlich – nie mit Worten, sondern immer mit Metaphern und Symbolen spielt. Sein Baader-Buch wird in einigen Wochen fertig. Er will es mir widmen. Ich freue mich sehr darauf.

 

München, Montag, d. 1. Juli 1912

Gestern wartete ich wieder viele Stunden vergeblich auf Jenny. Erst um 6 Uhr wagte ich das Zimmer zu verlassen und suchte sie – wieder vergebens – im Hofgarten. Als ich um 7 Uhr ins Café kam, fand ich einen Brief vor, in dem sie sich entschuldigt. Der Brief war schon mittags abgegeben worden, und als ich ihn hatte, wich meine Nervosität und Trauer sogleich der ruhigsten Heiterkeit. Wie innig und gut ich das Mädchen liebe! Wüßte ich nur, ob ich hoffen darf. – Ich ging gestern abend noch ins Torggelhaus, wo ich eine große Gesellschaft antraf, von der schließlich die Herrn v. Jacobi und Muhr und die Damen Rosar nebst Frl. Fein und Mueller übrig blieben. Frl. Fein ist Schauspielerin und hat hier im Hoftheater als Clärchen und als Thekla gastiert, da sie als Ersatz für die unmögliche Neuhof in Betracht kommt. Ein feines, hübsches, interessantes Mädchen. Die Rosar erzählte Zoten. – Nachher kam zu aller Überraschung Wedekind, und es wurde nett, als nur noch er, Jacobi und ich übrig waren. Wedekind erzählte von seinem Berliner Erfolg. Dann sprachen wir über mich, und er versprach, mit Georg Müller zu sprechen, um ihn zum Verlag meiner Essays zu bestimmen. Ich zweifle stark, ob Müller es tun wird. Der steht auch auf der Liste der Leute, die nicht schön gegen mich gehandelt haben. – Wir gingen – Wedekind, Jacobi und ich – gegen 2 Uhr zusammen fort. Ich begleitete die Herren noch bis zur Ecke der Prinzregentenstrasse. Nachher traf ich im Stefanie Emmy mit den Herren Jentzsch und Ghutmann. Um 3 Uhr im strömenden Regen heim. – Heute sah ich nun Jenny wieder. Sie holte mich aus dem Stefanie ab. Schon im Café nahm sie gleich meine Hand und streichelte sie sehr lieb und sanft. Dann gingen wir zur Glückstrasse, wo sie im Vegetarischen Restaurant ihren Schirm stehn gelassen hatte und jetzt war sie bei mir, um sich das Buch der Reventlow auszuleihen. Ich möchte sie so rasend gern mal ganz gehörig abküssen. Aber ihren Mund gibt sie vorläufig nicht dazu her. Aber wenn sie mich mit ihren warmen braunen Augen anschaut und mir dabei ganz weich und zart mit der Hand durchs Haar fährt, bin ich wahrhaft glücklich. Ich habe sehr stark das Gefühl, daß wir beide zusammen gehören, und ich hoffe wirklich im Ernst, daß diese Freundschaft in naher Zeit zu engerem Bündnis führen wird.

Heut erhielt ich nun die Pensionsrechnung: etwa 148 Mk. Kommt hinzu 4 Mk fürs Mädchen = 152 Mk + 42 Mk für Johannes = 194 Mk. – Ich erhalte: 175 Mk von Onkel Leopold und Jenny besteht darauf, mir 8 Mk 50 für genossene Mahlzeiten zu ersetzen. 20 Mk besitze ich noch, von denen, bis das übrige Geld kommt, höchstens noch 10 dasein werden. Ich rechne heraus: 193 Mk 50, also 194 Mk. Das bedeutet, daß ich den Monat nach Zahlung der Rechnung mit 0,00 Mk beginne. Ob ich vom Simplizissimus viel zu erwarten habe? Ob mir Gotthelf etwas verschaffen wird? Ich weiß es nicht. Jedenfalls will ich auch den Versuch machen, Nonnenbruch anzupumpen. Ich sehe auch für diesen Monat wieder häßliche Nöte bevorstehn. Es ist wirklich entsetzlich, daß immer noch so garkeine Festigkeit, so garkein Halt in meinem äußeren Leben ist. Ich leide mehr als ich ertragen kann.

 

München, Dienstag, d. 2. Juli 1912.

Gestern nachmittag sollten die Herren Wenter und v. Maaßen zu mir kommen, um mit mir die Flasche Grand Marnier auszutrinken, die mir Wenter als Erfüllung jener Wette vom Gerner Krokodils-Fest geschickt hatte. Er telegrafierte aus Garmisch ab, da er den Zug versäumt habe. Maaßen kam, und wir unterhielten uns recht gut. Ich gab ihm die »Wüste« mit, eines der letzten noch vorhandenen Exemplare, und er brachte mir später ins Café eine weitere von den Bibliophilen als Privatdruck herausgegebene Schrift: »Über den Lyrismus bei Max Halbe in seinen Beziehungen zur Anakreontik der Spätromantiker. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde an der Universität Omaha (Neb. U. S. A.). Eingereicht von Gussie McBill. Henheloe (N. C.) Print. D. Halfbeer. 1911.« Eine niederträchtig boshafte aber äußerst amüsante Mystifikation, in der Max Halbe unglaublich verulkt wird. – Nachher gingen wir zusammen zum Krokodil, wo Streit, Kutscher, v. Jacobi, Wilm und Schmitz sich schon eingefunden hatten. Nachher kam noch Wedekind. Halbe saß in einer andern Ecke des Ratskellers mit Malyot, dem Komponisten Marschall (Gerhart Hauptmanns Schwager) und noch einigen Herren. Wedekind erzählte viel von Hellerau bei Dresden, wo er sich die Gartenstadt-Veranstaltungen des Jacques Dalcroze angesehn hat: Rhytmische Tanzübungen in Nacktkultur, sehr ähnlich seinen in Mine-Haha niedergelegten Erziehungstendenzen. Ich hätte große Lust, mal hinzufahren und mir die Sache anzusehn. Ferner berichtete Wedekind, daß er mit Müller schon über mich gesprochen habe und daß der geneigt sei, ein Buch von mir zu edieren. Ich werde nun also schnellstens zu ihm gehn. Später gingen wir in die Torggelstube, wo sich noch Halbe und Willy Lang zu uns fanden. An andern Tischen saß eine große Gesellschaft und pokerte. Frl. Fein war dabei und sah entzückend aus. – Halbe erzählte, daß ein Novellenband von ihm, der vor vielen Jahren bei Langen erschien, jetzt plötzlich für die Ullstein-Bibliothek angekauft sei, wofür er aus heiler Haut 8000 Mark erhalten habe. Er (Halbe) brachte mich und Maaßen im Auto heim.

Heut kam ein Brief des Rechtanwalts Geiss, der mich um 50 Mk mahnt, die ich ihm seit einer Verhaftung von Johannes vor Jahren schulde. Er will mich, wenn ich nicht binnen 3 Tagen zahle, verklagen. Dabei erklärte er mir damals, er werde mich nie um die Summe mahnen. Ich schreibe ihm. – Mit meinen Geldverhältnissen steht es so, daß ich dem Wirt wohl 20 Mk werde schuldig bleiben müssen. Vielleicht rückt Müller bald heraus. Morgen muß ich versuchen, den Simpl. mal wieder zu kränken. Es ist schon ein Elend. – Auf Jenny wartete ich heute wieder erfolglos im Café. Ich bin traurig, ihre Hand heute nicht in meiner gefühlt zu haben. Morgen will sie mich zu Tisch besuchen.

Ich muß zunächst mal den »Kain« herrichten. Die Arbeit ist noch völlig zurück.

 

München, Mittwoch, d. 3. Juli 1912.

Gestern nachmittag wurde ich bei der Arbeit durch Herrn Hanns Fuchs gestört, der mir verlautete, ich müsse über das Zensurverbot seines mit Felix Dörmann verfaßten Stückes »Die heilige Sache« im Kain eine Notiz bringen. Ich forderte ihn auf, mir einen Brief zur Veröffentlichung zu schreiben (der inzwischen eingetroffen ist) und schmiß ihn raus. Die Störung hatte mich aus dem Konzept gebracht, und ich ging ins Café. Dort wurde mir mitgeteilt, eine Lübecker ältere Dame habe mich in Begleitung eines jungen Herrn gesucht und lasse mir sagen, sie erwarte mich um 7 Uhr im Hofgarten. Jetzt lohnte es mir nicht mehr, wieder nach Hause zu gehn, und ich war von ½ 6 bis nach 7 Uhr im Hofgarten. Die Dame kam nicht. Ich habe keine Ahnung wer es war. Während ich dort spazierte, hoffte ich fortwährend, Jenny werde plötzlich auftauchen und das Gefühl, sie müsse kommen, war so stark, daß ich, als es enttäuscht war, recht mißgestimmt ins Café zurückkam. Dort traf ich Maxi. Ich lud sie einer momentanen Laune folgend zu mir zum Abendbrot und betrog somit Jenny zum ersten Male. Jedenfalls hatte ich deutlich das Gefühl, sie zu hintergehn, obwohl ich doch leider keineswegs so nahe zu ihr stehe, daß der Koitus mit einer andern Betrug gegen sie sein könnte, und ich tröstete mich damit, daß ich Maxi wirklich nur aus Liebe zu Jenny, eben weil sie meine Sehnsucht enttäuscht hatte und mir den ganzen Tag nicht begegnet war, ins Bett nahm. Es war übrigens sehr nett mit dem Mädel und ich fühlte mich nachher sehr guter Laune. Ich ging in die Torggelstube, wo ich mit Muhr allein saß, bis zu meinem Schrecken Fuchs erschien. Er quatschte viel und prätentiös und begleitete mich dann bis vor die Haustür. Unterwegs eröffnete er mir folgendes: Er habe einen Freund, namens Aloys ten Brink, der in Salzburg lebe. Der habe Geld, interessiere sich für mich und möchte gern sich mit einigen tausend Mark an einer wertvollen Sache beteiligen. Natürlich kam raus, beratende Stimme beim Kain. Das wies ich sofort zurück und setzte Fuchs auseinander: Wenn der Mann sich für mein Schaffen interessiere, so könne er sich nicht besser daran beteiligen, als indem er mich finanziere. Er solle mir ein Jahr lang einen Monatswechsel von 300 Mk (leihweise) geben. Dann könne ich arbeiten was ich wolle und ihm dankbar sein. Fuchs meinte, er werde den Herrn dazu leicht bewegen können. Eine schöne Hoffnung. Aber ich habe mir abgewöhnt, Hoffnungen als Realitäten zu werten, und Hanns Fuchs ist ein Schwafler.

Vorgestern hatte ich im Torggelhaus Gotthelf gesprochen und ihn gebeten, doch mal bei Rössler anzutippen, ob der nicht doch mal 100 Mk für mich herausrücken möchte. Gotthelf versprach es, und heute, als ich mittags vom Café mit Jenny zum Mittagessen kam, fand ich aus Starnberg ein Telegramm vor dieses Inhalts: »Einverständnis erwirkt. Erwarte Sie Donnerstag, 3 Uhr Torggelstube. Gruß – Gotthelf.« – Ob ich diese Hoffnung als Realität nehmen darf? Nötig wärs. Denn ich könnte jetzt schon nicht mehr die Pensionsrechnung zahlen. – Jenny war reizend und lieb wie immer. Meine Gefühle zu ihr werden täglich inniger. Die hat mir der Himmel selbst geschickt.

 

München, Freitag, d. 5. Juli 1912.

Aus Lübeck ist die Mitteilung gekommen, daß Charlotte meinen fünften Neffen geboren hat. Papa, der sich, wie mir Grethe schrieb, in Mölln gut erholt hat, ist wieder dort. Ich muß nun Familienbriefe en masse schreiben, was mir grade jetzt, wo der »Kain« meine ganze Arbeit fordert, sehr störend ist. – Gestern mittag war Jenny wieder bei mir. Wir waren zärtlicher miteinander als je. Sie küßte mir mehrmals weich und fest die Stirn, versagt mir aber zum Kuß immer noch den Mund. Ich glaube bestimmt, daß sie die Frau ist, die mir zu dauernder oder doch lange währender Gemeinsamkeit bestimmt ist. Ich sprach ihr ohne Rückhalt vom Heiraten. Sie ging auch darauf ein. Nur werden wohl mit der Familie Schwierigkeiten sein, die natürlich Rabbiner und all den übeln Kuppel-Klimbim verlangen wird, der die bürgerlichen Ehen so häßlich einleitet. Vielleicht würde ich mich auch dazu überwinden. Denn was ich damit erkaufen könnte, wäre großes Glück.

In der Torggelstube traf ich große Gesellschaft – darunter Gotthelf und Rössler beim Pokern. Ich mußte stundenlang untätig dabei sitzen. Endlich – nach 5 Uhr – sollte sich die Geldangelegenheit entscheiden. Gotthelf zog sich mit Rössler zurück und kam dann mit dem Bescheid wieder, Rössler hätte wieder zurückziehn wollen. Er habe sich die Sache anders überlegt. Ich hätte mich in einer Angelegenheit schäbig gegen ihn benommen und er wolle jetzt nicht die Wurzen sein. Auf Gotthelfs dringende Ermahnung habe er dann mit ihm folgendes ausgemacht: Gotthelf leihe mir aus eignem 50 Mark, während Rössler mich ermächtige, mir auf sein Konto bei seinem Schneider einen Anzug machen zu lassen. Die 50 Mk von Gotthelf nahm ich natürlich gern, zumal ein Vormittags-Besuch bei Geheeb erfolglos verlaufen war. Den Anzug will ich mir vorläufig nicht bestellen. Diese schiefe Stellung zu Rössler muß erst einmal grade gerichtet werden. Ich will ihm schreiben und ihn auffordern, die Aussprache, um die ich ihn schon einmal gebeten habe, endlich herbeizuführen. Ich bin mir einer wirklichen Unanständigkeit gegen ihn nicht bewußt. Daß ich dem Consul Anträge gemacht habe, war selbstverständlich. Er hatte mich selbst angestachelt, das Mädel zu »korrumpieren« und der Consul war mir darin recht weit entgegengekommen. Daß Rössler sich plötzlich in sie verliebte und dadurch moralisch wurde, geht mich wenig an. Aber ich verstehe ihn psychologisch vollkommen. Er ist durch die Krankheit des Mädels sehr nervös. Außerdem ist dadurch eine sentimentale Note in seine Liebe zu ihr gekommen. Er will sie heiraten und es stört ihn jetzt, daß ich Zeuge einer Zeit war, wo seine Gefühle für sie noch weniger respektvoll waren. Diese störende Empfindung setzt sich bei ihm in einen Vorwurf gegen mich, in Antipathie und Ungerechtigkeit um. Ich will aber doch versuchen, die anständige Beziehung, die 10 Jahre lang zwischen uns beiden bestanden hat, und ausgerechnet in dem Moment aufhörte, wo Rössler Millionär wurde, wieder herzustellen. Vorher danke ich für seine Wohltätigkeit, so nötig ich den Anzug auch brauchte.

Abends war Sitzung des Neuen Vereins. Darüber morgen.

 

München, Sonnabend, d. 6. Juli 1912.

Zu jener Sitzung war ich nicht nur durch die offizielle Mitteilung an alle Mitglieder eingeladen, sondern noch speziell durch einen Brief des Vorsitzenden Dr. Rosenthal. Im Nebensaal des Künstlerhauses waren gegen 30 Personen versammelt und es wurde über die Wirksamkeit des Neuen Vereins beraten. Eine Debatte gab es zunächst, als der Direktor Fuchs vom Künstlertheater eine Art Fusion, mindestens aber ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen dem Neuen Verein und dem Verein Volksfestspiele anregte. Ich hatte bei dieser Debatte den Eindruck, als ob alle aneinander vorbeiredeten und keiner, auch Herr Fuchs nicht, recht wußte, worum es sich handelte. Nachher sprach ich über Maßnahmen, die gegen die Übergriffe der Polizeizensur zu ergreifen seien, und die Diskussion darüber gestaltete sich sehr lebhaft. Ich schlug vor, in öffentlichen Versammlungen, die vom Neuen Verein zu berufen seien, gegen die ganze Institution der Zensur zu protestieren. Aber die Leisetreter behielten Recht. Man war allgemein nicht gegen die Einrichtung der Zensur überhaupt, sondern wollte ihr nur, wie in Preußen, ein Oberverwaltungsgericht überordnen, worüber vor einigen Tagen Müller-Meiningen im Landtag geredet habe. Es wurde – von Dr. Hagen, dem Redakteur des »Janus« – empfohlen, Müller-Meiningen solle im Rahmen der Vereinsveranstaltungen einen Vortrag über die Zensur halten. Die Versammlung legte sich lächerlicherweise auf den Beschluß fest, daß unter keinen Umständen eine öffentliche Versammlung stattfinden dürfe, und schließlich wurde einstimmig ein Antrag von mir akzeptiert, nach dem der Vorstand ersucht wird, sich mit Müller-Meiningen wegen eines Vortrages über den Gegenstand in Verbindung zu setzen. Es war im ganzen eine wertvolle und angeregte Aussprache, und mir wurde später von vielen bestätigt, daß mein Auftreten dort und der kämpferische Ton, den ich in den völlig friedlichen Vereinskreis bringe, sehr wohltätig empfunden werde. – Ein starker Rest der Versammlung fand sich nachher in der Torggelstube zusammen, darunter Rosenthal, Wedekind, Schaumberg, HenckellJadassohn