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Inhaltsverzeichnis
Kopfstand
Aus dem Leben verbannt
Der Gefangene seiner Maßstäbe
Frau mit Wollknäuel
Ein Frühstück in Kaş
Der Spiegel
Zwei Erinnerungen an die Toskana

Editorische Notiz
Impressum

 Aras Ören

Kopfstand

Übersetzt von Cornelius Bischoff

Mit Illustrationen von
Wolfgang Neumann

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Kopfstand

I
Gewöhnst du dir an, die Dinge aus der Sicht eines anderen zu betrachten, erblindest du – Über die Weisheit des Bruno Neuhaus

Die stets gleichbleibende Reaktion des Bruno Neuhaus angesichts weltbewegender Ereignisse waren die Worte: Da läuft wieder etwas falsch. Diese Worte waren Schlussfolgerung, Frage oder auch nur einfache Mitteilung. Seine Art zu sprechen spiegelte zwar seine Befürchtungen wider, aber keine Hoffnungslosigkeit. Seit ich ihn kenne – wo und wie wir uns zum ersten Mal begegneten und kennenlernten, dessen erinnere ich mich nicht, es ist bestimmt schon Jahre her –, habe ich diese Worte schon so oft gehört, dass eigentlich alles, was auf dieser Welt geschah, falsch sein musste. Als bestimmte falsches Geschehen unser ganzes Leben, beruhte alles, was unseren Alltag ausfüllte, allein auf uns von Schlagzeilen vorgespiegelten falschen Tatsachen. Allein dass wir uns nur gelegentlich trafen, rettete mich davor, in diesen Fakten zu ertrinken.

Doch wie viel Zeit zwischendurch auch vergangen sein mochte, wir vertieften uns jedes Mal gleich wieder in die Themen unserer schier endlosen Gespräche, und als hätten wir sie nur kurz unterbrochen, eröffnete er mir abermals sofort, dass wieder einmal etwas falsch gelaufen sei.

Seinen Namen erfuhr ich erst Jahre später durch einen Zufall. Wir hatten uns lange Zeit nicht mehr getroffen, woraufhin ich einen gemeinsamen Bekannten fragte: »Mann, wo steckt er eigentlich, ich sehe ihn gar nicht mehr?« Verwundert sah mich der gemeinsame Bekannte an: »Von wem redest du, und wer ist es, den du ER nennst?« Was konnte ich darauf schon antworten? Ich murmelte nur »Mh, mh«, und schwieg. Zum Glück fiel mir sein berühmter Satz: Da läuft wieder etwas falsch ein und rettete mich vor weiteren Mh, Mhs. Denn dieser Satz war die perfekte Charakterisierung seines Wesens. Und da erst erfuhr ich, dass er Bruno Neuhaus hieß.

Irgendwo musste Bruno Neuhaus fest angestellt sein, denn tagsüber ließ er sich selten blicken. Aber welcher Art seine Arbeit war, wusste wahrscheinlich niemand. Meines Erachtens war er im Medienbereich tätig. Ob in der Kneipe oder im Café, wo auch immer ich ihn sah, las er ein Buch oder schrieb, sofern er keinen Gesprächspartner hatte. Sein Hintergrundwissen zu aktuellen Begebenheiten war unglaublich. Mag sogar sein, dass das meiste davon auf seinen eigenen Interpretationen beruhte. Wie auch immer, mein Eindruck war, er habe etwas mit Medien zu tun. Aber weder von ihm, noch von denen, die ihn kannten, habe ich jemals etwas gehört, das meine Annahme bestätigte. Doch wie seine Art zu sprechen, so passte auch seine Art, sich zu kleiden, ja, sein ganzes Verhalten zu dieser Vermutung, und in all den Jahren konnte ich an ihm nichts entdecken, was sie widerlegt hätte. Ich war auch nicht erpicht darauf, ihn danach zu fragen. Für mich war er mit seinem zweifelnden Spott über aktuelle Geschehnisse, seinen kritischen Hypothesen und Schlussfolgerungen, seinen mitunter ungewöhnlich radikalen Reden immer nur der Bruno Neuhaus. Gerüchte über seine geheimen Machenschaften, die mir von Zeit zu Zeit zu Ohren kamen, führte ich mehr auf seine intellektuelle Persönlichkeit und die ihm charakteristische Weltsicht zurück, als auf diese ihm unterstellten, verschwörerischen Absichten. Manchmal ging ich sogar so weit, ihm eine dieser geheimnisumwitterten Tätigkeiten, wie die eines Dichters oder Schriftstellers, zuzuschreiben. Dass er jemand war, der ein Leben lang seine Identität verheimlichte, passte sehr gut zu seinem sonstigen Verhalten. Vielleicht war es diese Seite, die einen besonderen Zauber auf mich ausübte.

»Hallo, hörst du mich noch?«

»Aber ja, natürlich, ich höre Ihnen zu«, antwortete ich hastig, ich hatte meine Verwirrung noch immer nicht überwunden. Und sein Bild so deutlich vor Augen, als stünde er mir gegenüber, setzten wir unsere Unterhaltung fort.

»Schau, ich sage dir jetzt etwas, was du noch nicht weißt: Die Illusion ist in Wirklichkeit eine andere Möglichkeit des Krieges, der Krieg also in Wirklichkeit eine Illusion. Bist du verblüfft? Du scheinst noch naiver zu sein als ich vermutet hatte. Was ist daran so verwunderlich?«

Eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte mich, eine starke Druckwelle erfasste mich und schleuderte mich in eine Ecke des Zimmers. Mobiliar, Glasscherben und Porzellanfiguren flogen herum, Wandbilder sprangen aus den Rahmen, mit lautem Krachen kippte der Bücherschrank um, die Bücher verteilten sich auf dem Fußboden. Eine ganze Weile begriff ich nicht, was geschehen war, verstand es auch hinterher nicht. Die Explosion hatte all die über Jahre gesammelten Wörter in meinem Kopf durcheinander gewirbelt und zertrümmert. Was konnte ich von nun an wie und mit welchen Wörtern begreifen?

Mein Blick fiel auf das Fernsehgerät. Es war eingeschaltet.

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»Reichst du mir die Butter bitte?«

»Frische Luft regt den Appetit an.«

»Ganz gewiss …«

»Die Tomaten haben den echten Tomatengeschmack.«

»Als wollten die Tomaten hier beweisen, dass sie Tomaten sind.«

»Da gibt es keinen Zweifel.«

»Schau, woran mich das erinnert!«

Das sind die Worte, die während der gemeinsam am Tisch verbrachten Zeit zu hören sind.

»Woran erinnert?«

E-R-I-N-N-E-R-T.

Aus unerfindlichem Grund wurde dieses Wort plötzlich ge­wichtig.

Jeder starrte gedankenverloren ins Leere.

Die Pelargonien blühten wie wild, treiben rötlich-lila Blüten. (Treiben und treiben.)

Ein riesiger Tonkrug als Blumentopf.

Am Rande des Krugs stellenweise abgebröckelte, verwaschene gelbe Glasur.

So einer diente früher in den Haushalten als Wasserkrug.

»Sezer, wo hast du diesen Krug entdeckt? Wie gut er doch hierher passt; ein erlesenes Stück.«

»Ich habe ihn aus Istanbul mitgebracht. Fand ihn bei einem Trödler. Und der sucht sie sich in alten Ölmühlen zusammen.«

Jeder versuchte, sich in den Tiefen seines Innern an irgendetwas zu erinnern.

Aber wer an was? Das Schweigen wurde wieder bleiern. Es war sowieso ein untauglicher Versuch. Und die Hoffnung, die er geweckt hatte, schwand schnell dahin.

Kurz darauf: Sophie vertiefte sich wieder in ihr Buch, das sie während des Frühstücks beiseitegelegt hatte. Sie war in die Welt jenes Buches und dessen Zeitläufte entschwunden, in ihren dortigen Schutzraum. Orhan hatte sich wieder über ein leeres Blatt gebeugt, machte sich daran, die besagten Motive in einer ganz anderen Struktur zu zeichnen: Diesmal waren es über der nach oben offenen, sonnengeschützten Terrasse fliegende Fische, ähnlich den lila und grünlich gefärbten Käfern mit den durchsichtigen Flügeln, und noch andere, von diesen Fischen, verschiedene, eigenartige Geschöpfe. Manche gingen auf die rötlich- und rosablühenden Pelargonien nieder, andere schwirrten sirrend über unseren Köpfen.

Aber das, was du siehst, hinterlässt keine einzige Spur, nicht den kleinsten Strich, Flecken oder Schemen in der Leere deines Gedächtnisses.

Plötzlich schnellte Seker, die Hauskatze, lautlos in diese Leere. Die Gastgeber hatten auch sie aus Istanbul in die Sommerferien mitgebracht. Im Maul trug sie eine ziemlich große Eidechse. Zögernd, als überlegte sie, wen sie zuerst mit ihrer Beute beehren sollte, blieb sie mitten auf der Terrasse stehen, musterte aufmerksam jeden der Anwesenden. Sezer hatte sich aus dem Küchenfenster gelehnt und beobachtete sie. Die Katze bekam sofort mit, dass sie Frauchens Aufmerksamkeit erregt hatte; selbstsicher marschierte sie geradewegs zu ihr, legte die Beute unterm Fenster nieder, hob, welch ein Schlingel und Heuchler, den Kopf und starrte Sezer mit einem nach Lob heischenden Ausdruck an.

Inzwischen versuchte die regungslos dahockende Eidechse, die Gelegenheit zu nutzen, und flitzte aus dem Stand mit großer Geschwindigkeit und schlängelnden Bewegungen davon. Doch die Katze ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Als habe sie so eine Aktion der Eidechse erwartet, buckelte sie so gemächlich, als scherte sie sich nicht darum, und sprang. Im nächsten Augenblick hatte sie mit der rechten Vorderpfote die vor Schreck erstarrende Eidechse geschnappt, in die Luft geschleudert, aufmerksam ihren Fall beobachtet und kurz vor ihrem Aufprall, diesmal mit der linken Pfote, noch einmal zugeschlagen. Die arme Eidechse, die nicht wusste, wie ihr geschah, war ganz benommen, schien es jedenfalls zu sein. Sollte sie vor Schreck nicht der Schlag getroffen haben, hatte sie keine andere Wahl, als sich zu fügen. Und so blieb sie ergeben liegen.

Sezer: »Ach mein Herzblatt, welch gestandener Jäger doch aus dir geworden ist!«

Ihre Stimme klang zärtlich, war anspornend und voller Lob, hatte aber auch einen Anflug von Bewunderung. Eine Weile schauten sich die beiden an. Dann glitten Sezers Blicke ins Leere.

»Wie eigenartig«, seufzte sie, als sei ihr diese veränderte Situation erst jetzt aufgefallen. »Als wir herkamen, ging die der Stadt so angepasste, zivilisierte Seker davon, und an ihrer Stelle kam ein anderes Geschöpf hierher …«