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Vorwort des Herausgebers

»Es gibt keinen anderen lebenden deutschen Schriftsteller, dessen Nachruhm mir so gewiß ist.«

Thomas Mann, am 1. Juni 1939

Die Literatur braucht, um sich selbst zu feiern, Gestalten, die über allem stehen. Autoren, die nicht richtig verstanden, die vielleicht nicht einmal gelesen werden, denen aber dennoch die höchste Wertschätzung gilt – auf Grund ihrer enormen Lebensleistung. Autoren wie etwa Marcel Proust oder James Joyce.

Robert Musil, der dies reflektiert hatte – wie er alles, was man über Literatur reflektieren kann, reflektiert hatte, wusste schon in jungen Jahren, dass er einer jener Großschriftsteller sein würde. Und der Preis, den er dafür zahlte, war in seinen Augen angemessen: Einsamkeit, Unverstandenwerden, temporäres Vergessen-Sein, Armut, literarisches Exilantentum. Ihm war sogar klar, dass, sollte sein Roman zu seinen Lebzeiten ein Erfolg werden, er gegen seine eigenen Postulate verstoßen – und paradoxerweise eben deswegen gerade kein Erfolg sein würde. Umso bewusster war ihm, aus heutiger Sicht geradezu gespenstisch hellsichtig, dass ihm der Nachruhm sicher sein würde. Und genauso kam es.

1942 starb Robert Musil, 61jährig, in seinem Schweizer Exil an einem Gehirnschlag. Er wähnte sich bei guter Gesundheit und meinte, wohl noch zwanzig weitere Jahre an seinem Großroman arbeiten zu können. An eine baldige Fertigstellung dachte er nicht im Traum, im Gegenteil wuchs das Werk nicht nur beständig in die Länge, sondern auch in die »Tiefe«, mit zusätzlichen Entwürfen, Konzepten, Varianten und Korrekturschriften. An Musils Todestag lag auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer ein unvollendetes Kapitel seines Romans mit der Kapitelüberschrift »Atemzüge eines Sommertags«. Es war von ihm durchaus nicht als Schlusskapitel geplant, viele Dutzende weitere sollten folgen und waren fragmentarisch in Vorbereitung – aber es war das letzte, an das er tatsächlich selbst in seiner akribisch wortfeilerischen Art Hand anlegte.

Noch am 28. Oktober 1949, sieben Jahre später, schrieb »The Times Literary Supplement«, die Literaturbeilage der »Times«: »Robert Musil, der bedeutendste deutsch schreibende Romancier dieser Jahrhunderthälfte, ist einer der unbekanntesten Schriftsteller unseres Zeitalters ...«

Das Blatt begann sich rund fünf Jahre später zu wenden, mit der Neuausgabe des Musil-Werkes durch Adolf Frisé als von Rowohlt beauftragtem Herausgeber. Frisé war schon als Student der Germanistik in Heidelberg begeisterter Musil-Leser gewesen, und schrieb 1931, nachdem er den gerade herausgekommenen ersten Teil des Werkes gelesen hatte, einen Brief an den Autor nach Wien. Später promovierte er und wurde zum wohl besten Musil-Kenner – die Idealbesetzung also für einen Herausgeber. Dennoch blieb später auch die Kritik an Frisés Bearbeitung nicht aus.

Worum aber, dreht sich nun »Der Mann ohne Eigenschaften«, dieses sagenumwobene Mammutwerk? Es ist ein monumentales Zeugnis literarischer Selbstreflexion die sich jedoch nicht im Privaten und Weinerlichen verliert, sondern durch die präzise Positionierung des Protagonisten Ulrich ein Schlaglicht auf die Verhältnisse seiner Zeit wirft. Der Untergang der alten Zeit, des 19. Jahrhunderts, das Schicksal der sterbenden Österreichisch-Ungarischen k. und k. -Monarchie (Musils ›Kakanien‹) beim Übergang vom Friedensjahr 1913 zum ersten Kriegsjahr 1914, sogar das Heraufziehen eines neuen düsteren Zeitalters, des späteren Nationalsozialismus, spiegelt sich in ihm wie in einem Kaleidoskop.

Bei diesem Unterfangen, das Spürbare sichtbar zu machen, den »Sinn« aus der Melange von Gefühl und Intellekt herauszufiltern, wie Musil sagen würde, sind Ulrichs Mitstreiter in dem Buch behilflich – Gestalten so schillernd, vielfältig und skurril, dass sie auch Bob Dylans Desolation Row hätten entspringen können. Namenlos, ungewiss, unsicher zwischen all dem Verwirrenden um ihn herum, bleibt die Hauptfigur Ulrich: Der »Mann ohne Eigenschaften«, wie er abschätzig von einer anderen Figur tituliert wird. Im Ungewissen pendelnd, wie übrigens schon der junge Törleß in Musils Erstlingswerk.

»Das Paradoxon eines Romanhelden« nannte ein Werbetext zum Buch diesen Ulrich später, »so unpersönlich, dass sein Familienname nirgends erwähnt wird, ein anonymer Repräsentant seiner Zeit.«

Und die Romanhandlung ist nicht viel mehr als ein dünner roter Faden – unterbrochen allerdings von zahllosen Reflexionen über sich selbst, über die Zeit und die Verhältnisse, in denen die Hauptfigur lebt. »Der Inhalt ...«, schrieb Musil begleitend, »... der Inhalt ist relativ unwichtig. Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht ... Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.«

Mitte der 50er Jahre hob man Musil schließlich in den Olymp, in den er schon immer wusste, hinzugehören. Und man konnte über das Buch Pressestimmen lesen wie diese: » ... Eine der größten dichterischen Aussagen nicht nur über unsere Zeit, sondern über Welt und Mensch schlechthin« (Süddeutsche Zeitung); » ... Eines der bedeutendsten Ereignisse der deutschen und nicht nur der deutschen Literatur ... die epische Enzyklopädie unseres Jahrhunderts ... Man darf prophezeien, dass ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ ein Werk von Dauer sein wird« (Frankfurter Allgemeine). Oder: » ... Die auf deutschem Sprachgebiet wohl bedeutendste künstlerische Analyse unserer Zwischenzeit«. (Die Gegenwart)

Doch umstritten bleibt Musil immer – vielleicht ist das auch ein Hinweis auf seine Bedeutung. Marcel Reich Ranicki etwa, der deutsche Großkritiker, schreibt über ihn (in: Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts; Deutsche Verlagsanstalt, 2002): »Musils Unfähigkeit, die Möglichkeiten und die Grenzen seines Talents zu erkennen und daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, die Unfähigkeit also, das, was er gewollt und geplant hat, auch zu verwirklichen, ist Schuld daran, dass dieser völlig zu Unrecht in Ansehen stehende Schriftsteller ein ganz und gar gescheiterter Mann war.«

Diese Meinung kann man als solche stehenlassen, doch in einem hat Ranicki ganz sicher unrecht: Gescheitert ist Musil mitnichten, und sein Name wird noch genannt werden, wenn man den Namen des 2013 gestorbenen großen Literaturkritikers bereits vergessen haben wird.

 

Über Robert Musil

Robert Musil wurde am 6. November 1880 in Klagenfurt geboren. Sein Vater sah für ihn die Militärlaufbahn vor und schickte ihn auf verschiedene Militärakademien. Er brach jedoch die Offizierslaufbahn ab und studierte – nach einem Intermezzo im Maschinenbaustudium – ab 1903 in Berlin Philosophie und Psychologie, und bekam dort ersten Zugang zu Künstlerkreisen. 1910 geht Musil zurück nach Wien, arbeitet als Bibliothekar, freier Schriftsteller und Journalist, 1911 heiratet er Martha Marcovaldi. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er teilnahm, festigt er seinen Ruf als Schriftsteller, und wird mit diversen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis für das Schauspiel »Die Schwärmer«. 1920 lernt er in Berlin seinen künftigen Verleger, Ernst Rowohlt kennen, der ihn in den nächsten 20 Jahren, während Musil am »Mann ohne Eigenschaften« arbeitet, mit Vorschüssen finanziell unterstützen wird. Musil publiziert nun fast nichts anderes mehr, setzt all seine Kraft in sein Monumentalwerk.

Mit dem »Anschluss« Österreichs an den Nationalsozialismus im Jahr 1938 werden Musils Bücher nach Deutschland nun auch in Österreich verboten. Er emigriert mit seiner Frau in die Schweiz, zunächst wohnen sie in Zürich, später bei Genf. Die Arbeit am »Mann ohne Eigenschaften« geht weiter, doch das Romanprojekt wächst immer weiter, statt fertig zu werden. Der Roman bleibt unvollendet: Am 15. April 1942 stirbt Robert Musil an einem Gehirnschlag, am Chemin des Clochettes in Genf. Er hatte seit mehreren Wochen nur noch an einem einzigen Kapitel (Atemzüge eines Sommertags) gearbeitet, das man nach seinem Tod geöffnet auf dem Schreibtisch fand. Robert Musils Asche wurde in einem Wald bei Genf verstreut.

 

Über dieses eBook

Unser eBook folgt von der Struktur her der sorgfältig aufbereiteten Ausgabe (von 1975) des damaligen DDR-Verlages »Volk und Welt« – es enthält jedoch im Gegensatz zu dieser nicht die von Adolf Frisé frei ergänzten und interpolierten Kapitel. Zum einen aus Gründen der Werktreue, zum anderen aus Urheberrechtsgründen.

Bereits der Schriftsteller Rolf Schneider, Herausgeber der Volk und Welt-Ausgabe, gab in seinen »textkritischen Anmerkungen« die Anregung: »Wir hätten die Möglichkeit gehabt, unsere Ausgabe mit dem Kapitel ›Atemzüge eines Sommertags‹ abzuschließen. Es ist der letzte von Musil als endgültig verabschiedete Text, und bis hierher, unter Eliminierung der von Frisé interpolierten beiden Kapitel um Stumm von Bordwehr (49 und 50 unserer Ausgabe), dürfte nach dem augenblicklichen Forschungsstand eine gewissenhafte Neuedition vorerst nur gehen.« – Dennoch hat sich Volk und Welt letztlich für den vollen Text entschieden.

Wir folgen nun Schneiders Anregung, und lassen unseren »Mann ohne Eigenschaften« mit den »Atemzügen eines Sommertags« enden. Es ist das letzte von Musil selbst bearbeitete Kapitel – man fand es an seinem Todestag auf seinem Schreibtisch.

Darüber hinaus enthält dieses eBook im Anhang zahlreiche weitere original Musil-Texte, mit denen er seine eigene Schreibarbeit kommentierte, begleitete, und ergänzte, und damit einen einzigartigen Einblick in die Schreibwerkstatt eines Schriftstellers gibt.

Redaktion eClassica


Der Mann ohne Eigenschaften

 

~ Übersicht ~

 

Erster Teil – Eine Art Einleitung

Zweiter Teil – Seinesgleichen geschieht

Dritter Teil – Ins Tausendjährige Reich [Die Verbrecher]

Anhang – Nachgelassene Fragmente

Impressum

 

Das detaillierte Inhaltsverzeichnis erreichen Sie über die eBook-Steuerung.