EPILOG

Wenn Sie mich fragen: Bleiben Sie neugierig, realisieren Sie Ihre guten Ideen und füllen Sie Ihre Tage mit Leben und nicht Ihr Leben mit Tagen.

RICHARD DAVID PRECHT
aus: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

In der Küche riecht es nach Spülmittel und Wein. Mit ihren Gläsern in der Hand sind sie auf die Terrasse hinausgetreten. Jetzt stehen sie am Gartenteich, in dem sich der Sternenhimmel spiegelt. Es ist spät geworden. So spät waren sie nur selten zusammen draußen. Aber es gab so viel zu bereden, und die Luft ist noch immer mild. Sie tragen nicht einmal Jacken. Mit der einen Hand führt er sein Weinglas zum Mund, mit der anderen berührt er ihren bloßen Arm. Ihr Herz wird ganz weit dabei. Solche Augenblicke hat es in den letzten Monaten oft gegeben.

In der letzten Woche ist in Immowelt ihr Inserat erschienen: Attraktives Einfamilienhaus mit Garten zu verkaufen. Heute hat es der erste Interessent besichtigt. Sie fangen an, Abschied zu nehmen. Etwas Neues liegt vor ihnen. Gemeinsam machen sie sich wieder auf den Weg.

Für Doris und für alle,
die mit uns auf dem Weg sind.

EVA PRAWITT

»Und was, wenn ich

mitkomme?«

Zu zweit unterwegs auf dem Jakobsweg

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. TEIL
Freude und Frust, Schönheit und Schmerz: Irun bis Santiago de Compostela

2. TEIL
Am Ende ein Anfang: Finisterre, Muxia, La Coruña, Ferrol

3. TEIL
Ankommen: Ferrol bis Santiago und nach Hause

Epilog

PROLOG

Er bewunderte die sonderbare Verblendung der Menschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert, aber ihren Freunden ein für allemal das Bild, das sie sich von ihnen gemacht haben, aufzwingen wollen. Ihn selbst beurteilte man nach dem, was er gewesen war.

ALBERT CAMUS
aus: Der glückliche Tod

Sie ist unglücklich, aber sie weiß, dass es nicht an der Nasennebenhöhlenvereiterung liegt, mit der sie sich seit Wochen herumschlägt. Sie hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Das Ringen um Luft hat sie ermüdet, wie nach langer, harter Arbeit. Doch sie kommt nicht zur Ruhe. Jeden Abend grübelt sie sich mühsam in den Schlaf.

Mitternacht ist längst vorüber. Durchs Schlafzimmerfenster flirren Sternenfunken wie zersprungenes Glas, gedämpft durch das Licht einer entfernten Straßenlaterne. Die Nachbarhäuser liegen schweigend und dunkel da, genauso wie ihr Mann im Bett neben ihr. Er hat einen Arm von sich gestreckt, als wolle er nach etwas greifen, aber sein Gesicht ist wunschlos entspannt. Falten blättern sich um seine geschlossenen Augen, seine Stirn ist wulstig wie bei einem Säugling, an den Wangen faltet sich seine Haut, als sei sie eine Nummer zu groß für ihn. Sie weiß, dass sich beim Aufwachen seine Gesichtszüge straffen werden. Aber jetzt schläft er. Und das würde sie auch gerne tun. Sie will schlafen und so bald nicht mehr aufwachen.

Sie kann sich nicht erinnern, wann sie nicht dieses Bedürfnis verspürt hätte. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal morgens mit Freude und Energie aus dem Bett und in den Tag gesprungen wäre.

Mein Gott, was ist bloß los mit ihr?

Ihr Mann neben ihr atmet leise und gleichmäßig.

»Ich hab die Nase voll«, flüstert sie in seine Richtung, aber er regt sich nicht. »Und zwar gestrichen«, fügt sie etwas lauter hinzu, was zur Folge hat, dass er sein Gesicht von ihr wegdreht, ohne zu erwachen.

Sie setzt sich im Bett auf und starrt aus dem Fenster. »Schon mal was von Psychosomatik gehört?«, fragt sie sich selbst und nickt. Sie hat die Nase voll, und zwar nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie ist voll von zurückgehaltenen Gedanken. Sie hat Vitamine in sich hineingestopft und Antibiotika, hat ihre Nebenhöhlen mit Salzwasser gespült und hing alle naselang bei Ärzten herum, ohne dass ihre Kraft zurückgekehrt wäre und ohne dass sich das Geringste geändert hätte.

Etwas zu ändern ist schwer.

Dabei ist doch in den letzten Jahren alles so anders geworden: Die Kinder sind aus dem Haus, sie selbst hat ein paar Fortbildungen hinter sich gebracht, das Haus ist leer und öde und viel zu groß. Sie hat das Gefühl, bloß noch zu putzen, dabei war sie niemals gerne Hausfrau. »Aber du kochst gut«, hat ihre Schwiegermutter sie gelobt. Aber gut und gerne sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Bis jetzt hat sie das noch niemandem begreiflich machen können. Auch nicht, dass sie nicht gerne Klamotten einkauft oder sich zum Kaffeetrinken trifft. Sie hat keine Lust auf Gymnastikgruppen und Jogging. Sie ist es leid, ein ewig offenes Ohr für die Wehwehchen ihrer Familie und anderer Nahestehender zu haben, und sie findet es eine Zumutung, ständig zur Verfügung stehen zu sollen. Sie mag es nicht, überrascht oder beobachtet zu werden. Intimität und Privatsphäre sind ihre Höhlen, in die niemand unaufgefordert eindringen darf. Sie meidet Menschenansammlungen und hasst Feste, auf denen nicht getanzt und gesungen wird, auf denen es nur ums Essen und Trinken und den Smalltalk geht. Sie möchte nicht verbessert werden wie ein Schulmädchen oder gemaßregelt, wenn sie mal aus dem Rahmen fällt. Sie möchte aus dem Rahmen fallen und impulsiv sein. Sie sieht nicht ein, warum sie Sachen wissen soll, die sie nicht betreffen und die sie auch nichts angehen, und warum sie – selbst bei vertrauten Menschen – nicht ins Unreine reden darf, warum sie festgelegt wird auf Aussagen, die schon Jahre zurückliegen, und auf Verhalten, das sie, unbemerkt von allen anderen, schon längst abgelegt und gegen ein anderes ausgetauscht hat. Sie kann nicht verstehen, dass niemand diese Veränderungen bemerkt, geschweige denn danach fragt.

Sie kann nicht mitreden über Fernsehsendungen, und es interessiert sie auch nicht. Fußball ist ihr zuwider, selbst während der Weltmeisterschaften. Sie will nicht einsehen, warum sie Emotionen investieren soll in etwas, wovon sie keine Ahnung hat und auch keine Ahnung haben will. Sie würde niemals in einen Verein eintreten. Sie mag kein Fleisch und deswegen auch keine Grillpartys. Sie weiß nicht, warum sie auf Schokolade verzichten soll eines Schönheitsideals wegen, das Werbung, Mode und Zeitgeist ihr vorschreiben wollen. Als ihre Großmutter noch eine junge Frau war, galt es als schick, mollig zu sein. Manchmal denkt sie, in der falschen Zeit zu leben. Aber sie orientiert sich ungern an der Vergangenheit und möchte lieber eigene Erfahrungen sammeln. Sie liebt es, neue Gedanken zu denken, und bemerkt gleichzeitig den Schrecken der anderen, wenn sie sie ausspricht. Sie verabscheut die Worte »man« und »muss« und versteht nicht, warum sie eigene Gedanken und die der anderen nicht infrage stellen darf. Sie hasst Selbstverständlichkeiten und fremdauferlegte Verpflichtungen. Sie findet es schrecklich, Erwartungen entsprechen zu müssen, die sie nicht selbst an sich hat. Sie hält große Stücke auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Sie spürt Abwehr und schweigt, weil sie Ablehnung ahnt.

Aber darin täuscht sie sich vielleicht. Sie traut sich nicht, es auszuprobieren. Beziehungen findet sie anstrengend.

»Midlife-Krise«, murmelt sie, ohne dass es ihren Mann zu stören scheint. Er bewegt sich nicht einmal. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Es könnte genauso gut eine Schaufensterpuppe neben ihm im Bett liegen. Oder abends neben ihm auf dem Sofa sitzen, mit einem Buch auf den Knien, während er im Internet surft, seine Fotos sortiert, Musik hört oder sich eine DVD ansieht. Immer öfter verstreichen die Abende, ohne dass einer vom anderen etwas erfahren hat. Sie sind lange verheiratet. Trotzdem ist er ihr oft fremd. Und sie hat keine Ahnung, was er noch über sie weiß.

»Quatsch«, denkt sie. Sie will es nicht hinnehmen, alles mit einer Midlife-Krise zu erklären. Abnutzung wäre vielleicht der bessere Begriff und Erneuerung das Ziel.

Sie weiß, dass es ihrer Genesung nicht dienen wird. Hinter ihrer Stirn trommeln winzige Hämmerchen. Trotzdem schlägt sie die Bettdecke zurück und stellt die Beine auf den Boden. Sie liebt es, den weichen Kork unter ihren bloßen Füßen zu spüren, das Holz der Treppenstufen, die kühlen Steinfliesen im Flur. In der Küche riecht es nach Abwasch und Abendbrot. Die Möbel im Wohnzimmer sind vertraute Schatten. Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus auf den nachtfeuchten Rasen. Ihr Nachthemd bauscht sich wie Federn. Sie würde gerne fliegen – oder zumindest irgendwie abheben, ein bisschen die Bodenhaftung aufgeben und etwas völlig Neues erleben. Sie ist nicht mehr jung, aber sie fühlt sich auch noch nicht alt.

Vom Garten aus blickt sie zu dem dunklen Schlafzimmerfenster hinauf. Dort oben träumt ihr Mann. Bei dem Gedanken an ihn weitet sich ihr Herz. Aber gleichzeitig zieht es sich auch zusammen. Wann sind sie sich das letzte Mal begegnet, ohne eine Rolle zu spielen? Wann haben sie sich ihre Seele gezeigt und nicht nur das Bild, das sie voneinander schon seit Jahren kennen?

Sie sind schon lange zusammen: Vor zwei Jahren haben sie ihre silberne Hochzeit gefeiert …

Am Himmel zerschmelzen die Sterne, und über dem Kirschbaum zeigt sich ein erster Lichtstreifen. Im Gartenteich spiegeln sich hellgeränderte Wolken. So hat sie dieses Stück Erde noch nie gesehen. Warum eigentlich nicht?

»Weil ich um diese Uhrzeit noch niemals draußen war«, erklärt sie sich selbst. Was also muss sich ändern? Die Zeit, um den Raum neu zu erleben? Dann vielleicht aber auch der Raum, um die Zeit neu zu fühlen? Oder der Rahmen – was vielleicht bedeutet, etwas auszuprobieren, das sie vorher noch nie gemacht hat, wie zum Beispiel, den Morgen im Garten zu begrüßen.

Sie dreht sich einmal um sich selbst, legt den Kopf in den Nacken und atmet tief die frische Morgenluft ein. Sie taucht ihre Zehen in den Gartenteich und schüttelt die eisigen Tropfen auf die Wiese. Vorsichtig, als wäre dies eine völlig neue Erfahrung, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Unter ihren Sohlen knicken die Grashalme. Und plötzlich, während sie sich zum Haus zurücktastet, weiß sie, was sie tun wird.

*

»Hast du dir schon mal überlegt, dass neue Bilder selten in alte Rahmen passen?«, fragt sie.

Zwei Wochen sind vergangen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und die Nasennebenhöhlen sind einigermaßen frei, aber sie fühlt sich immer noch verschnupft. Trotzdem ist sie heute Morgen relativ gut aus dem Bett gekommen. Jetzt sitzt sie mit ihrem Mann beim Frühstück. Über ihre Kaffeetassen hinweg schauen sie sich ins Gesicht.

»Nun?«, hakt sie nach. Doch er weiß nicht, was er antworten soll.

Sie stellt ihre Tasse ab und nimmt den Faden wieder auf: »Ich habe lange nachgedacht und gründlich recherchiert. Für ein freiwilliges soziales Jahr bin ich zu alt. Ich finde es auch unfair, einen Platz zu besetzen, der eigentlich jungen Leuten zusteht. Außerdem ist ein Jahr für mich sowieso zu lang … ich würde zu viel aufgeben müssen, was ich mir in den letzten Jahren mühsam aufgebaut habe … meine Arbeit … ich würde mich bloß selber bestrafen …«

»Was willst du eigentlich?«, fährt er dazwischen.

Wie kann sie es ihm bloß verständlich machen? Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Vielleicht genügt es, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, egal, was er daraus macht.

»Ich will leben, was ich bin«, sagt sie.

»Tust du das nicht?«

»Ich glaube nicht.«

Er dreht seine Kaffeetasse in den Händen ohne zu trinken. Der Kaffee wird kalt werden. Heute ist es egal. Sie forscht in seinen Augen, die sie ernst anblicken. Irgendwie wirkt er verunsichert.

»Was bist du denn?«, fragt er schließlich.

Endlich ist sie raus, diese Frage, auf die sie so lange gewartet hat. Sie könnte ihm jetzt Romane erzählen, endlich ihre Gedanken vor ihm ausbreiten. Aber sie haben keine Zeit dafür, er muss zur Arbeit. Und außerdem: Zeigt sich die Wahrheit nicht viel mehr im Handeln als im Reden? Sie hat so oft geredet, erklärt, erläutert und beleuchtet, ohne dass sich deswegen irgendetwas geändert hätte. Sie ist müde darüber geworden, und das will sie jetzt nicht mehr.

»Wir werden sehen«, sagt sie.

»Und deshalb musst du unbedingt weg?«

»Ja, ich will den Rahmen wechseln. Ich kann nicht ein neues Bild von mir zeigen im alten Umfeld. Das habe ich versucht, aber es hat mir keiner geglaubt. Am schlimmsten ist, dass ich mir mittlerweile selber nicht mehr vertraue. Ich habe den Eindruck, in meinem eigenen Leben nicht mehr vorzukommen. Das will ich ändern.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Ich will mich wieder spüren und Zutrauen zu mir finden. Ich will wissen, wo meine Möglichkeiten und wo meine Grenzen sind und was ich wirklich zum Leben brauche. Und ich will unerreichbar sein …«

»Und wie willst du das alles unter einen Hut bringen?«

»Indem ich wandern gehe«, sagt sie.

»Wie stellst du dir das vor? Wo willst du schlafen, und was soll das kosten?«, sprudelt er seine Vorbehalte heraus.

»Keine Sorge, ich werde unsere Haushaltskasse nicht mehr belasten als sonst auch«, entgegnet sie.

»Und wie soll das funktionieren?«

»Spanien«, sagt sie, »Jakobsweg.«

Auf diese Möglichkeit ist sie im Internet gestoßen. Vorher hat sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas gibt, Wege, die sich spinnennetzartig durch Europa ziehen und nur ein Ziel haben: Santiago de Compostela in Spanien, das Grab des Apostels Jakobus. Doch sie wird nicht wegen dieses Heiligen unterwegs sein. Ihr Ziel ist es, ihr eigenes Leben einzuholen oder es hinter sich herkommen zu lassen. Sie will die Gelegenheit haben, alles, was sie bewegt, in Ruhe und ohne Ablenkung zu Ende zu denken, und – anders als die meisten Jakobspilger – Gott nicht suchen, denn den hat sie längst gefunden, sondern in neuen Herausforderungen erleben, was es mit seinen Versprechungen auf sich hat.

Er ist skeptisch. Womöglich will er aber auch nur ihren Entschluss ins Wanken bringen. »Ist das nicht gefährlich?«

»Ich glaube nicht. Vielleicht ist es ein Abenteuer«, gibt sie zu, »aber kein echtes Wagnis. Die Wege sind mit gelben Pfeilen ausgeschildert oder mit blauen Kacheln mit Jakobsmuschel drauf. Ich habe gelesen, dass die Bevölkerung aufmerksam und hilfsbereit ist. Es gibt Herbergen in Abständen, die sich bewältigen lassen, wo man für bloß ein paar Euro übernachten kann. Und in jedem Ort kann man Wasser und Vorräte kaufen. Außerdem ist Spanien nicht die Wüste und schon gar nicht ein ferner, fremder Planet. Tausende gehen jedes Jahr diesen Weg, die meisten den sogenannten Camino Francés.«

Sie merkt, wie sie anfängt zu dozieren. Es kann sein, dass er ungeduldig werden wird. Aber sie kann es nicht lassen und redet sich in Rage: »Der Camino Francés führt von Saint-Jean-Pied-de-Port dicht hinter der französischen Grenze über die Pyrenäen nach Roncesvalles und weiter über Pamplona, Logrono, Burgos und Leon bis nach Santiago. Es gibt aber noch eine Menge anderer Jakobsrouten, über die ich nur wenig Informationen gefunden habe, den Camino Primitivo zum Beispiel, der über Oviedo verläuft, oder den Küstenweg über Ribadeo. Ich habe auch was über den Camino Ingles entdeckt, der von Ferrol bis Santiago führt. Der englische Weg verdankt seinen Namen den Pilgern, die von England über die Biskaya nach Ferrol schipperten und sich von dort weiter nach Santiago aufmachten. Aber der ist für mich zu kurz, nur etwa 120 km, die man schon in sechs Tagen schaffen kann.«

»Wie lange willst du denn wegbleiben?«, schnaubt er.

»Zwei Monate.«

Er fährt zusammen und starrt sie aus großen Augen an.

»So lange?«

Beruflich war er oft ohne sie unterwegs gewesen, zugegebenermaßen niemals zwei Monate an einem Stück, aber manchmal wochenlang. Sie hat es hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl sie es niemals so gewollt hat. Sie hat ihn immer vermisst.

»Ja, so lange«, bestätigt sie.

Behutsam stellt er seine Tasse auf den Tisch, steht auf und wendet sich der Tür zu. Es ist spät und er muss zur Arbeit. Doch anstatt zu gehen, dreht er sich plötzlich, einem spontanen Einfall folgend, zu ihr um.

»Was hältst du davon, wenn ich mitkomme?«

So hat sie sich das nicht vorgestellt. Sie wollte dieses Erleben für sich allein haben. Aber jetzt fühlt sie sich überrumpelt.

»Ich kann dir nicht verbieten, durch Spanien zu laufen wann und wie lange du willst«, presst sie hervor. Doch klein beigeben will sie auch nicht. »Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass du so lange Urlaub bekommst.«

»Wir werden sehen«, sagt jetzt er und geht.

*

Noch am selben Abend steht es fest: Sie werden zusammen weg sein. Er hat sofort mit seinem Chef gesprochen und die Zustimmung erhalten, den diesjährigen Urlaub aufzusparen, um dafür nächstes Frühjahr zwei Monate frei zu bekommen. Ob sie so lange auf ihn warten wird? Warum nicht. Sie hat ein Leben lang geübt, Abstriche zu machen. Jetzt kann sie nicht plötzlich damit aufhören.

Es stehen ihnen Monate ohne Erholungsphasen bevor. Die wenige freie Zeit ist vollgestopft mit Planen und Organisieren. Sie kaufen sich Ruck- und Schlafsäcke, Wanderstöcke, Sonnenhüte und knallrote Regencapes. Sie lassen sich von der Fränkischen St.-Jakobus-Gesellschaft in Würzburg Pilgerausweise ausstellen, die sie dazu berechtigen, in allen Pilgerherbergen kostengünstig zu übernachten. Sie unternehmen lange Samstags-Wanderungen und laufen sich Fersen und Schuhe weich. Sie reiben sich abends die Füße mit Hirschtalg ein.

Jeder von ihnen legt sich drei Unterhosen, drei Paar Socken, zwei leichte Wanderhosen, Fleecejacke und Anorak zurecht, dazu ein paar T-Shirts, eine winzige Reiseapotheke, Ohropax,Waschzeug, das in eine Zipperplastiktüte aus dem Drogeriemarkt passt, zwei zu Handtüchern umfunktionierte Microfaser-Bodenwischtücher und Sonnencreme, was zusammen knapp neun Kilo ergibt. Sie probieren aus, wie sich das Gewicht auf dem Rücken anfühlt. Sie beschaffen sich Literatur über den Jakobsweg, über das Wandern im Allgemeinen und über Spanien im Besonderen. Sie forschen im Internet nach Pilgerberichten und erfahren, wie überlaufen der Camino Francés ist. Sie sind sich einig, dass sie keine Lust auf Gänsemärsche haben und auch nicht auf überfüllte Herbergen. Sie blättern in Landkarten und Atlanten und probieren in ihrer Fantasie unterschiedliche Routen bei Google Earth aus.

Die Landschaft Nordspaniens stellt sich auf den Computerbildern herb und schön und verlockend dar, eine Vision aus Bergen und Meer, Geschichte und Natur, aus Kraft und Traum. Sie entscheiden sich für den Küstenweg, der von Irun und San Sebastian über Bilbao, Santander und Gijon bis nach Ribadeo führt und von dort weiter über den Nordweg nach Mondonedo bis Santiago. Sie erschrecken über die Länge der Strecke: 840 Kilometer. Sie fürchtet sich vor den Höhenunterschieden, die auch direkt am Meer auf schweißtreibende Rackerei schließen lassen. Er wird seinen Fotoapparat vermissen. Aber sie haben beschlossen, auf jedwede Technik zu verzichten.

Auch das Handy wird zu Hause bleiben, obwohl dieser Entschluss Ängste in der Familie auslöst. Was ist, wenn jemand krank wird oder sonst irgendwie ihre Hilfe benötigt?

»Dafür gibt es Ärzte oder andere Fachleute«, hält sie ihren Lieben entgegen, die daraufhin schwerere Geschütze auffahren: »Und was, wenn einer von uns stirbt?«

Ihre Antwort könnte als herzlos aufgenommen werden. Sie sagt es trotzdem: »Lasst uns alles, was gesagt und bereinigt werden soll, jetzt sagen und bereinigen, sodass wir in Frieden Abschied voneinander nehmen können.«

Das ganze Unternehmen hat auch den Sinn, sich von Erwartungen zu lösen. Das wird sie jetzt durchziehen – mit allen Konsequenzen. Und er wird es mit ihr teilen – oder auch nicht. Sie behalten sich vor, sich jederzeit auf dem Weg zu trennen. Wie oft hatte sie sich das in der Vergangenheit ausgemalt, einfach zu gehen, um zu spüren, wie es ist, ohne ihn zu leben. Aber dann hat sie es doch niemals umgesetzt. Diesmal will sie sich diese Option offenhalten, und sie werden es beide aushalten müssen. Sie sind fest entschlossen.

Jeder von ihnen kauft sich ein Outdoor-Handbuch, in dem sie Streckenbeschreibungen und allerhand Tipps für ihren Weg finden, und ein kleines schwarzes Tagebuch. Sie buchen Flüge zu Spottpreisen. Allmählich stellt sich Vorfreude ein.

Es ist lange her, dass sie aktiv am selben Strang gezogen haben. Doch die Anspannung macht sie unvorsichtig.

Silvester sind sie bei guten Freunden eingeladen, bei Doris und ihrem Mann. Natürlich kommt an diesem Abend auch ihr Vorhaben, den spanischen Küstenweg zu erwandern, zur Sprache. »Da hätte ich auch Lust drauf«, schwärmt Doris. Und in einer spontanen freundschaftlichen Anwandlung bietet sie an, dass Doris mitkommen könne. Doris ist nicht der Mensch, der sich lange bitten lässt. Schon einen Tag später hat sie herausgefunden, dass im Flieger noch Platz ist. Kurzerhand verlegt sie zweieinhalb Wochen Urlaub in die geplante Reisezeit, bucht ihren Flug und kreuzt abenteuerlustig und bereit zu allem mit ihrem Gepäck einen Abend vor Reisebeginn bei ihren Freunden auf. Nun gut, gehen sie eben zu dritt. Und warum auch nicht? Hauptsache, es geht endlich los. Es ist wie eine Flucht, aber auch wie ein Angriff. Vielleicht ist es gut, nicht nur zu zweit zu sein.

Am Abend vor ihrer Reise ertränkt sie ihre inneren Widersprüche, ihre Vorbehalte und ihre Aufregung zusammen mit ihrer Freundin in Grand Marnier. Ihr Mann hat Whiskey gewählt, was sein gutes Recht ist. Alle drei sind sehr aufgekratzt. Gegen elf Uhr erhebt sie sich.

»Es wird Zeit«, sagt sie, »gute Nacht, Doris.«

»Gute Nacht, Eva, gute Nacht, Pit«, antwortet ihre Freundin.

17. TAG CÓBRECES – SAN VICENTE DE LA BARQUERA

Es ist sieben Uhr abends. Pit und ich sitzen frisch geduscht auf der Wiese vor unserer Herberge. Unsere gewaschene Wäsche trocknet auf dem Ständer. Ich genieße den herrlichen Blick über die Stadt und auf das Meer und freue mich auf das Abendessen, das ich nicht selber zubereiten muss. Ein echter Luxus auf dem Camino: Ich brauche wochenlang nicht zu kochen. Heute erledigt das unsere hospitaliera. Aber es ist noch Zeit. Also schlage ich mein Tagebuch auf und schreibe.

Aus Evas Tagebuch:

In der Nacht hat es geregnet, aber heute Morgen ist der Himmel wieder blau und die Luft klar. Mit Doris haben wir noch im Ort gefrühstückt und sie dann zur Bushaltestelle begleitet. Um zehn nach zehn soll der Bus kommen. Und wenn nicht? Sie muss in Santillana ihren Anschlusszug nach Bilbao erwischen, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Doch mit den Bussen ist das hier so eine Sache. Außer an den Busbahnhöfen sind die Abfahrts- und Ankunftszeiten nicht sicher. Aber heute klappt alles prima. Wir winken Doris hinterher, bis der Bus nicht mehr zu sehen ist. Komisch, jetzt ohne sie weiterzugehen. Unterwegs sage ich noch oft, wie gut es Doris hier gefallen hätte.

Der Weg ist sehr malerisch, es gibt viele »echte« Wanderwege, weichen Wald- und Wiesenboden und kaum Asphalt – eine Wohltat für Füße und Knie. Die Ausblicke sind sehr kontrastreich: Erst Nordhessen mit Meerblick, und nur 20 Minuten später könnte man meinen, im Voralpgebirge zu sein, mit schneebedeckten Zweitausendern. Einzigartig und abwechslungsreich.

Wir kommen durch reinliche, ruhige Dörfer. Die Häuser aus Natursteinen sind von der Straße durch Feldsteinmauern abgegrenzt. Irgendwie toskanisch. Merkwürdig, wie wir versuchen, das Neue, das wir hier sehen und erleben, mit dem uns Bekannten zu vergleichen. Offensichtlich tut es gut, an Vertrautes anzuknüpfen. Dabei möchte ich eigentlich Neues entdecken und lernen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Gar nicht so einfach!

Im historischen Zentrum von Comillas machen wir eine kurze »Eispause«, verlaufen uns am Ortsausgang an der Universidad Pontificia, finden zurück zu den gelben Jakobspfeilen und treffen schließlich wieder auf das Meer. Oberhalb der Küste marschieren wir bis nach Travia, wo ein alter Spanier uns einige Hundert Meter begleitet und uns begeistert von seiner Zeit in Deutschland erzählt. Wir sind gerührt und lassen ihn nur ungern zurück.

Bergab geht es zum Meer ins Naturschutzgebiet von Oyambre. Und wen sehen wir da lässig am Strand in der Sonne liegen? Es ist Christian, der sofort seinen Rucksack schultert und mit uns um die Bucht zum Strand von La Rabia läuft. Das Meer funkelt einladend blau und türkisgrün, und Pit und ich wollen die Gelegenheit nutzen und schlüpfen in Badeanzug und -hose. Aber das Wasser ist eisig, und die Wellen sind viel zu heftig und unberechenbar. Also toben wir bloß am Strand herum. Zumindest die Beine werden nass, und der Rest bekommt eine herrliche Erfrischung. Anschließend teilen wir mit Christian unseren Proviant. Das ist heute ein toller Tag. Es stimmt einfach alles.

Pit und ich reden viel. Wir sind in Hochstimmung und haben eine Menge Energie und Freude …

Eigentlich wollten wir in Gerra übernachten. Aber spontan entschließen wir uns, dort bloß einen Kaffee zu trinken und dann mit Christian weiterzulaufen. Das Meer belebt uns ungemein!

Gegen sechs erreichen wir unsere albergue . Sie liegt oben auf dem Berg in San Vicente in der Nähe der Kirche und sieht aus wie eine riesige Garage. Jedenfalls steht so etwas wie ein Garagentor offen wie ein Raubtiermaul. Und um ins Haus zu gelangen, muss man auch durch einen garagenähnlichen Raum, der vollgestopft ist mit Wäscheständern und Gartenstühlen und irgendwelchem Plunder. Dahinter gibt es ein Zimmer mit einem langen Tisch, in der Ecke ein Computerplatz und ein niedriges Sofa, auf dem sich Decken türmen. Schuhe bleiben draußen. Drinnen bekommen wir von den Herbergseltern Luis und Sophie Kaffee und einen Stempel in unseren Pilgerausweis, der schon richtig bunt aussieht. Es gibt Toiletten und Duschen für Männer und Frauen getrennt und einen Schlafsaal für alle. Wir werden also wieder mit einer Menge Leute zusammen übernachten. Schade … Ich hatte mich auf ein bisschen Zweisamkeit gefreut. Aber habe ich mir nicht vorgenommen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind? Ich muss wohl noch viel lernen.

Das Geschwisterpaar von gestern Abend trifft ein. Er heißt Vincent. Ihren Namen erfahren wir nicht, nur, dass sie Rechtsanwältin ist. Beide blitzgescheite und gutgelaunte Kanadier. Auch Lieselotte ist wieder da. Ob gelaufen oder gefahren, ist nicht herauszubringen. Sie würdigt uns keines Blickes. Aber ihre Wäsche flattert neben unserer im Wind. Trautes Beisammensein von Unterhosen und Socken …

Es wird kalt, und ich habe Hunger. Pit klappt gerade sein Tagebuch zu. Ich bin gespannt, was er geschrieben hat.

Aus Pits Tagebuch:

Doris hat uns nach dem desayuno verlassen. Die erste Etappe, die Eva und ich allein laufen, liegt vor uns. Wir reden viel – das erste Mal seit unserem Start in Irun. Es ist schön, so frei zu sprechen. Doris hat überhaupt nicht gestört. Ganz im Gegenteil. Wir hatten viel Spaß und haben viel Anteil aneinander genommen. Aber jetzt ist es doch anders. Eva und ich fallen sofort in den gleichen Laufrhythmus, und es geht flott voran.

Nach zwei Tagen erreichen wir heute wieder das Meer. Im Süden ist immer noch das Picos-Europa-Gebirge zu sehen. Der Weg ist ein Traum: Wenig Landstraße, so kann es bleiben.

Mittags kommen wir in Oyambre an, einem faszinierenden Naturpark. Ein schmaler Damm führt über eine vom Meerwasser überflutete Fläche, aus der kahle und dürre Baumstämme ragen. Eine Landschaft wie aus einem Science-Fiction-Film. Auf der anderen Seite des Dammes treffen wir auf Christian. Zusammen laufen wir zum Strand von La Rabia. Christian passt auf unsere Rucksäcke auf, und Eva und ich springen in die Fluten. O.k., nur bis zum Hintern, denn das Wasser ist sehr kalt und die Brandung voller gefährlicher Unterströmungen. Einen Versuch war es aber wert.

Nach einem kleinen Imbiss machen wir uns auf nach San Vicente. Bis zur Herberge ist es nicht mehr weit. Es gibt 40 Betten in einem Zimmer und sehr liebe Herbergseltern, Sophie und Luis. Heute Abend werden wir hier essen. Vielleicht schreibe ich ja, wie es geschmeckt hat.

Fortsetzung folgt …

18. TAG SAN VICENTE – COLOMBRES

Das Essen gestern Abend war fantastisch. Luis servierte als kleine Vorspeise Ziegenkäse auf Salzkräckern, die wir gleich im Stehen wegmümmelten. Danach gab es Nudeln und Tomatensoße und Salat und Brot und Obst und Joghurt und natürlich wieder reichlich vino tinto… Und zum krönenden Abschluss ein kleines Konzert von Sophie. Pilger sind offensichtlich ein sicheres Publikum, denn wer einmal am Tisch sitzt, der entfleucht nicht so schnell. Sophie nutzte das gründlich aus. Zuerst wollte sie uns noch zum Mitsingen animieren. Keiner hatte wirklich Lust dazu, was Sophie aber überhaupt nicht störte. So sang sie eben allein klassische Lieder von Schubert und anderen. Der Einzige, der mit einstimmte, war Vincent, dessen Stimme sich als überraschend kräftig und sicher erwies und der die Lieder fröhlich von Notenblättern, die Sophie verteilt hatte, mitträllerte, als hätte er extra dafür geprobt. Beim Abendlied fiel noch unsere Hamburgerin mit ein und hatte so endlich auch mal ihren großen Auftritt. Uns war das alles ziemlich peinlich.

Als Sophie endlich die Tafel aufhob, blieben Pit, Christian, Vincent und ein französischer Pilger noch am Tisch sitzen. Vincent zauberte Spielkarten hervor und erklärte die Spielregeln in drei Sprachen. Dann wurde gepokert und herumgealbert. Zum Schluss strichen Christian und Vincent den Gewinn ein, steckten aber alles in das kleine Porzellanschwein, das Luis als Spendentopf auf dem Tisch deponiert hatte. Denn bezahlt werden mussten bloß 3 Euro pro Person für die Übernachtung, während jeder für das Essen geben konnte, was er wollte und für angemessen hielt.

Mittlerweile zeigte die Uhr halb elf. Für einen Pilger ist das ganz schön spät. Aber im Schlafsaal ging es noch fröhlich weiter. Vincent hielt es für ausgesprochen witzig, uns andere in den Schlaf zu furzen. Kindskopf aber auch … Es wurde noch lange im Dunkeln gekichert. Nur unsere Lieselotte lag unter einer dicken Schicht von Jacken und Decken und rührte sich nicht. Gar nicht so unvernünftig. Schließlich zwirbelten auch wir unser Ohropax in die Ohren und dann: Ruhe im Bau …

Heute Morgen sind wir bei herrlichstem Wanderwetter gegen halb neun aufgebrochen. Dreieinhalb Stunden lang geht es durch eine ländliche Gegend. Auf den Weiden bimmeln Kühe mit ihren Glocken. Hofhunde reißen bis kurz vor der Strangulierung an ihren Ketten und kläffen uns mit mordgierig gefletschten Zähnen an. Mittlerweile sind wir sie gewöhnt. In jedem Haushalt scheint es hier mindestens ein oder zwei – manchmal sogar mehr – Hunde zu geben, und alle machen einen ungezähmten und neurotischen Eindruck. Auf freiem Feld möchte ich denen nicht begegnen. Zum Glück ist das bis jetzt auch nicht passiert. Und wenn, dann habe ich immer noch meine Wanderstöcke, die hoffentlich etwas gegen die Bestien ausrichten können …

Die Wiesen stehen voller Blumen, und am Wegrand, hinter Zäunen und vor Mauern, blüht es üppig. Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll, und fühle mich reich dafür entschädigt, dass ich in diesen Wochen meinen eigenen »Frühlingsgarten« nicht erleben kann.

Christian läuft wieder mit uns. Dabei wäre ich jetzt gerne ein bisschen mit Pit allein. Und auch Pit gibt mir durch verstohlene Blicke zu verstehen, dass er unsere Zweisamkeit vermisst. Aber keiner von uns beiden sagt etwas. Christian ist ein lieber Kerl. Wir mögen ihn und möchten ihn nicht vor den Kopf stoßen. Andererseits möchten wir aber auch für uns sorgen und das tun, was wir wirklich wollen und was uns wichtig ist. Warum ist das so schwer?

Das Problem löst sich von allein. Christian legt ordentlich Tempo vor, und bergauf hängt er uns einfach ab. Hat er etwas gespürt, oder hatte er auch bloß Lust, ein Stück allein zu wandern, seinen Gedanken nachzuhängen, seine eigene Geschwindigkeit zu laufen? Keine Ahnung. Und eigentlich auch schade, dass wir nicht darüber gesprochen haben. Das, worüber man nicht spricht, kann zu Verunsicherungen führen. Pit und ich haben jetzt Zeit, ausführlich über dieses Thema zu reden, anders als zu Hause, wo ein Gespräch oft unterbrochen und vertagt werden muss. Hier können wir entspannt einen einmal aufgenommenen Gedankenfaden zu Ende spinnen und zu einem Ergebnis kommen, was in diesem Fall bedeutet, dass zumindest wir uns in Zukunft offen sagen wollen, was wir denken und was wir uns wünschen, auch wenn wir damit das Risiko eingehen, einander zu verletzen. Aber so können wenigstens keine Missverständnisse aufkommen; jeder weiß, woran er ist, und hat eine echte Chance, den anderen zu verstehen. Ich glaube, so lassen sich selbst Verletzungen am ehesten aus der Welt schaffen, besser jedenfalls, als wenn sie unausgesprochen im Inneren gären und am Schluss die Beziehung verderben.

Christian treffen wir erst in Serdio wieder, wo er am Dorfbrunnen picknickt. Pit und ich wandern aber weiter und – verlaufen uns. Unser Umweg ist eine Wucht: überraschender Meerblick, duftender Eukalyptuswald und ein Abstieg durch steiniges Gebiet, das mir wie ein riesiger Felsengarten voller exotischer Blumen vorkommt. Wunderschön! Wir klettern über zwei Feldsteinmauern, staksen durch kniehohes Weidegras und landen schließlich in einer Sackgasse. Es hilft alles nichts, wir müssen einen weiten Bogen bis zur nächsten Straße schlagen und kommen kurz hinter Serdio wieder heraus. Die ganze Pracht hat uns mindestens vier Kilometer gekostet. Aber es geht uns gut. Wir reden über Gelassenheit, und wir haben sie auch.

Christian muss lange gerastet haben, denn wir holen ihn nach nur einer Stunde in Pesués wieder ein. Gemeinsam geht es weiter. Aber ab jetzt wird es unschön – eine monotone Landschaft, nur Asphalt und Beton. Nichts sticht hervor, das im Gedächtnis haften bleiben würde, höchstens die letzten Kilometer vor unserem Etappenziel Unquera, die über schmale, steinige Pfade durch das Unterholz eines verwunschenen Mischwaldes führen. Aus dem Wald heraus geht es sehr steil und rutschig bergab, und ich fürchte um mein Knie. Sehr langsam und vorsichtig setze ich Schritt vor Schritt. Pit geht gemächlich voraus, bereit, mich sofort zu stützen. Christian aber ist schon längst unten. Weil es so lange dauert, hat er seinen Rucksack abgesetzt und sich auf einer Betonröhre, von denen hier eine Menge wie auf einer Baustelle herumliegen, niedergelassen. Er kaut an einem Apfel und wartet. Meinem Knie hat die Vorsicht gutgetan. Es macht – Gott sei Dank – nicht einen einzigen Mucks.

Unquera gefällt uns überhaupt nicht. Wir durchqueren es auf einer langen, viel befahrenen Straße. Rechts und links gibt es Läden, die alle schmuddelig wirken. Nirgendwo Blumen oder Bäume. In einem mercado stocken wir unseren Proviant auf und wandern nach einer ordentlichen Jause hinter der Brücke, die 100 Meter über den Meeresarm Ria de Tina Mayor führt, weiter. Dieser Meeresarm bildet die Grenze zwischen zwei spanischen Provinzen. Wir verlassen Kantabrien und betreten asturischen Boden. Der erste Ort in Asturien, direkt hinter der Brücke, ist winzig und heißt Bustio. Knapp zwei Kilometer weiter steil bergauf liegt Colombres. Unser Wanderführer verspricht, dass es gleich am Ortseingang eine Touristen-Information gibt. Die ist aber geschlossen und wird in den nächsten vier Wochen auch nicht öffnen. Also ziehen wir erst mal weiter zum Marktplatz. Wir drei mit unseren Rucksäcken sind auffällige Erscheinungen, und die Leute drehen sich nach uns um. »Donde esta albergue de peregrino?« (Wo ist die Pilgerherberge?), fragen wir mutig in die Runde. Freundlich wird uns der Weg zur Jugendherberge gewiesen.

20 Kilometer sind heute wohl wieder zusammengekommen. Pit und ich fühlen uns fit. Wir hätten noch gut weiterlaufen können. Aber bis zur nächsten Herberge ist es eine ganze Tagesetappe, und trotz unserer Sehnsucht, einmal ganz für uns zu sein, entscheiden wir uns gegen eine Übernachtung in einem hostal, von denen der Wanderführer einige in den nächsten Ortschaften ausweist. Ein Doppelzimmer kostet zwischen 30 und 40 Euro für uns beide. Wir versuchen aber, mit ca. 20 Euro pro Person und Tag auszukommen, was uns bis jetzt auch gut gelungen ist, ohne dass wir auf unseren geliebten cafe con leche verzichtet oder zwanghaft jeden Cent herumgedreht hätten. Die Übernachtung in der Jugendherberge in Colombres kostet dann doch 12 Euro für jeden. Christian ist darüber sehr verärgert, denn sein Finanzrahmen ist weit enger gesteckt als unserer. Mir ist es aber egal. Die Betten sind gut, es ist ruhig und wir haben ein Zimmer für uns drei allein. Dachten wir jedenfalls …

Pit hat Wein zum Abendbrot gekauft, wir sitzen gerade auf der Veranda der Jugendherberge an einem Holztisch und teilen unsere Vorräte, da taucht plötzlich Lieselotte auf. Ausgerechnet sie wird in unserem Zimmer einquartiert. Und dann spaziert auch noch Vincent daher. Zu viert spielen wir 10000, unser Idiotenwürfelspiel. Ob Vincent auch bei uns übernachten wird, ist nicht sicher. Er sucht seine Schwester, die sich unterwegs von ihm getrennt hat, wer weiß aus was für Gründen. Vincent ist ziemlich zappelig deswegen, und schließlich macht er sich auf die Suche nach ihr. Aber sie hat sich wohl in ein teures Hotel eingemietet. Mit ihrem Rechtsanwaltsgehalt kein Problem, anders als für den armen Studenten Vincent. Sein Plan ist, sich in der Nacht heimlich in unser Zimmer zu schleichen. Freie Betten gibt es genug. Aber jemand vom Herbergspersonal fängt ihn während seiner Nacht- und Nebelaktion ab und so muss er schließlich genauso wie wir 12 Euro berappen. Bis er sich endlich eingerichtet hat, geht es noch mal ziemlich unruhig zu. Aber

davon bekommt außer mir keiner etwas mit. Vincent krabbelt nämlich in das Bett über mir, wahrscheinlich, weil es dem Eingang am nächsten steht. Hier oben hatte ich meine Wäsche und meine Handtücher deponiert, und jetzt muss ich erst noch umräumen. Und das im Dunkeln. Hoffentlich finde ich morgen alles wieder!

19. TAG COLOMBRES – LLANES

Um Viertel vor acht stehlen Pit und ich uns bepackt und wanderbereit aus dem Zimmer. Alle anderen schlafen noch. Die Morgenluft ist herrlich frisch und der Ort ganz verschlafen. Wir kommen an prächtigen, bunt gestrichenen Villen in symmetrisch angelegten Gärten vorbei, und Pit zeigt mir begeistert Straßen und Häuser, die er gestern auf seinem Wein-Einkaufsbummel entdeckt hat.

Die Landschaft hinter Colombres ist herb, überall Felsen und riesige Felder gelb blühenden Ginsters. Über eine gut restaurierte Brücke geht es in einen Märchenwald, der einsam, meditativ still und von Efeu und Farnen überwuchert ist, in denen helle Sonnenflecken tanzen. Im Gehen essen wir Kekse – Frühstücksersatz. In der Hoffnung auf Kaffee machen wir einen kleinen Schlenker durch Buelna. Das Dorf ist ein richtiges Kleinod mit seinen alten, gepflegten Häusern, vor denen üppig Geranien und Rosen wuchern. Aber eine geöffnete Bar finden wir hier nicht. Erst in Pendueles entdecken wir nach langem Suchen einen Tante-Emma-Laden, in dem wir Brot, Käse, Joghurt, Obst und Wasser einkaufen. Wir haben elf Kilometer hinter uns und immer noch kein Frühstück. Doch nach drei weiteren Kilometern erreichen wir hinter einem verlassenen Naturcampingplatz den Playa de Bretones, lagern auf ein paar flachen Felsen, plündern unseren Proviant und beobachten einen Mann, der seine zwei Hunde über Berge von Steinen auf den Sand gelockt hat und jetzt mit ihnen in der flachen Brandung tobt. Was für eine Harmonie zwischen Mensch,Tier und Natur …

Es ist elf Uhr vormittags. Wir haben ungefähr die Hälfte der heutigen Etappe hinter, den Tag aber noch vor uns. Wir können uns also alle Zeit der Welt lassen. Laut Jakobsweg-Richtungspfeilen soll es die nächsten knapp neun Kilometer auf oder neben der N 634 weitergehen. Unser Wanderführer schlägt jedoch vor, den mit E 9 ausgeschilderten längeren, aber landschaftlich unvergleichlich schöneren Weg an der Küste entlang einzuschlagen. Wir entscheiden uns für diese Alternative. Die Gegend hier wirkt schweizerisch, Felsen und Blumenwiesen, außerdem Eukalyptus- und Nadelbäume. Pit meint: ein Meisterwerk aus Gottes Händen. Ich kann ihm nur zustimmen. Merkwürdig ist bloß, dass wir auf der rechten Seite hinter den Hügeln das Meer wissen. Im Süden begleitet uns immer noch das Picos Europa-Gebirge. Das haben wir bereits vor einer Woche vor uns in der Ferne gesehen, und jetzt laufen wir parallel dazu. Der Blickwinkel hat sich zwar verändert, aber das Gebirge ist uns inzwischen sehr vertraut geworden und hat sich unserem Gedächtnis eingeprägt.

»Hier vermisse ich gar nicht meinen Fotoapparat«, stellt Pit erstaunt fest. »Hätte ich nie gedacht, dass es mir so leicht fällt, auf das Fotografieren zu verzichten. Im Gegenteil: Ich finde es sogar gut. Nichts, was ablenkt. Laufen ist die einzige Beschäftigung. Und natürlich Gucken und Eindrücke sammeln. Sogar Geräusche kann ich hier ganz anders in meinen Kopf aufnehmen.« »Geräusche?«, hake ich nach.

»Ja, hör mal dieses tiefe Grummeln unter uns.« Tatsächlich grollt es unter unseren Füßen hohl und dumpf wie bei einem Gewitter, da, wo das Meer die Felsen unterspült hat. Auf der Wiese tun sich immer wieder Löcher auf, die den Blick auf das tief unten brodelnde Meer freigeben. Bei Flut schäumt hier bestimmt die Gischt herauf. Das muss faszinierend aussehen und vielleicht auch bedrohlich.

So ein schöner Weg! Aber heute bin ich nicht so gut drauf. Ich habe meine Tage bekommen, aber das meiste meines Intimvorrates hergegeben und noch nicht für Ersatz gesorgt. Außerdem tun mir der Rücken, der Bauch und die Leisten weh, besonders, wenn es bergab geht. Die ständigen körperlichen Beschwerden nerven, und ich habe Mühe, diese Grenze anzunehmen.

Ich dränge auf eine Pause. Auf einem Aussichtspunkt hoch über den Klippen werfen wir unsere Rucksäcke ab und strecken uns für ein halbes Stündchen im Gras aus. Wir wollen gerade unsere Rast beenden, da taucht Christian auf. Ein paar Minuten reden wir. Dann überlassen wir ihm unseren Platz, auf dem er sich genüsslich niederlässt, während wir weitermarschieren.

Zu allem Überfluss sackt jetzt auch noch mein Kreislauf in den Keller. Meine Beine sind wackelig, und mir wird schwarz vor den Augen. »Trinken«, ermahnt mich Pit. Aber das nützt jetzt auch nichts mehr. Zum Glück ist es bis Andrin nicht mehr weit. Im Ort holt Christian uns ein, und zusammen suchen wir uns ein gemütliches Gartenlokal und bestellen Salat und tortilla con tuna – Rührei mit Thunfisch. Die Cola vorneweg und der Kaffee hinterher helfen meinen Lebensgeistern wieder auf die Sprünge. Bei der Kellnerin versuchen wir, nach Zigarillos zu fragen. Gar nicht so einfach, sondern ziemlich witzig. Im Wörterbuch wird Zigarillo nämlich mit Señorita übersetzt. Wir wenden das neu gelernte Wort natürlich sofort an und ernten eine Menge Gelächter von der fröhlichen Kellnerin. Offensichtlich hat sie ihren Spaß an unseren Spanischkenntnissen. Sie kommt immer wieder an unseren Tisch, um uns zum Reden zu animieren, worauf wir uns gerne einlassen. Sehr lustig! Zu guter Letzt bekommen Pit und ich aber unsere Zigarillos und beschließen das Mittagessen mit genüsslichem Geschmauche.

Den Rest unserer heutigen Etappe geht es über einen schönen Höhenweg mit Blick aufs Meer. Es ist brütend heiß bei hoher Luftfeuchtigkeit. In den Bergen hängen Nebelschwaden, und über dem Wasser schwebt blauer Dunst. Das sieht sehr träumerisch aus. Das Wandern aber ist anstrengend. Schweiß verklebt uns die Haare und durchtränkt unsere T-Shirts. Pit hat vor einigen Tagen die Ärmel aus seinem Shirt getrennt, um mehr Luft an die Achseln zu bekommen. Das Ding ist sowieso schon an mehreren Stellen durchlöchert. Mit seiner schlabberigen, kurzen Turnhose und dem Vier- oder Fünftagebart sieht er aus wie Räuber Hotzenplotz. Ich kann nur staunen, dass ihm das gar nichts ausmacht. Zu Hause achtet er sehr auf ein adrettes Erscheinungsbild. Doch hier zählen offensichtlich andere Werte, nämlich was praktisch ist und was guttut. Bei dieser Schwüle heute ist das eindeutig ein ärmelloses T-Shirt.

Christian würde hier oben gerne noch einmal Rast machen, um die atemberaubende Sicht zu genießen. Aber weit und breit gibt es kein Schattenplätzchen, und so laufen wir weiter. In der Ferne können wir unser Ziel erkennen: Llanes, ein großflächiger Ort mit drei Stränden und einem Hafen.

Am Ende der Strecke lassen dann leider wieder meine Kräfte nach. Jeder Schritt reißt an den Bändern in meinen Leisten. Und auch mein Knie meldet sich wieder. Den letzten Berg herunter quäle ich mich mächtig. Christian und Pit sind längst unten. Christian wartet und passt auf Pits Rucksack auf, während Pit mir entgegenkommt, um mir mein Gepäck abzunehmen. Mir ist das unangenehm, und ich schäme mich für meine Schwäche. Gleichzeitig bin ich dankbar für die Hilfe. Eine komische Gefühlsmischung. Ich bin froh, als wir Llanes erreichen und ich nicht länger darüber nachdenken muss. Sich mit dem eigenen Unvermögen auseinanderzusetzen ist nämlich ziemlich harte emotionale Arbeit. Und dafür reicht heute meine Kraft nicht mehr aus. Immerhin habe ich unter nicht besonders leichten Bedingungen fast 27 Kilometer zurückgelegt. Darauf möchte ich jetzt einfach mal bloß stolz sein!

Die Jugendherberge in Llanes ist in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude untergebracht. Wir haben ein Zimmer direkt am Bahnsteig. Christian ist bei uns und eine Schweizerin, die wir aber nicht näher kennenlernen. Nach einer erfrischenden Dusche und nachdem Pit sich ordentlich rasiert hat – die Zivilisation hat einen Bürger zurückgewonnen – spazieren wir mit Christian an unserer Seite und unserem Abendessen im Stoffbeutel durch die Stadt an den Strand. Es gibt Rotwein, Brot, Oliven und Käse. Danach schauen wir uns den Hafen an, wo ein echtes Kunstwerk zu bestaunen ist. Die Wellenbrecher sind bunt bemalte Betonwürfel. Wenn das Meer dagegen klatscht und die Farben mit Salzwasser überzieht, leuchten sie in der Abendsonne fröhlich bunt wie ein Kinderbild. In unserem Outdoor-Handbuch lesen wir, dass diese Würfel im Jahr 2001 von dem baskischen Maler und Bildhauer Augustin Ibarrola gestaltet wurden und den Namen »cubus de la memoria« (Erinnerungswürfel) tragen. An was sie erinnern sollen, steht leider nicht dabei. Schade …

Wir sitzen lange auf der Kaimauer, betrachten den Himmel, das Meer und die originellen Wellenbrecher und beobachten, wie der Tag sich langsam am Horizont verabschiedet. Wir haben zum Glück unsere Fleecejacken an. Aber der Wind weht kühl, und so machen wir uns schließlich im Dämmerlicht auf den Rückweg. Gegen neun liegen wir im Bett. Wir schlafen sofort ein.

20. TAG LLANES – PIÑERES – RIBADESELLA

Aus Evas Tagebuch:

Heute geht es mir nicht gut. Rücken und Leisten schmerzen und bis zu unserem Etappenziel Piñeres sind es gut und gerne 20 Kilometer. Der Weg ist wieder ein Traum: Idyllische Orte mit herrschaftlichen Villen, verwunschene Pfade durch satte, dichte Vegetation, an Mauern, Hecken und Zäunen Kaskaden von Rosen: Dornröschenweg! Überall Wiesen voll blühender Apfelbäume, Badebuchten mit Sand so weiß wie rein gewaschen.

hospitaliera hostal,