Cover

Jim Grimsley
Ein Lesebuch

Mit Texten von Jim Baker, Barbara von Becker und Marko Martin
Herausgegeben von Helmut Lotz

Edition diá

 

 

Über dieses Buch

»Wintervögel«, »Das Leben zwischen den Sternen« und »Dreamboy« – Jim Grimsleys moderne Südstaaten-Trilogie hat sich einen festen Platz im Kanon der amerikanischen Literatur gesichert. Dieses E-Book versammelt Leseproben zu diesen drei Büchern, zu »Ellens Geschichte« und begleitende Texte.

»Hier spricht Amerika mit einer Stimme, die bei uns selten vernommen wird.« (Der Tagesspiegel)

Der Autor

Jim Grimsley, geb. 1955 in Pollocksville, North Carolina, schreibt Prosa und Theater. Seit den 80er-Jahren entstanden zahlreiche Theaterstücke (veröffentlicht im Sammelband »Mr. Universe and Other Plays«, Algonquin Books 1998), seit den 90er-Jahren schrieb er, nach seinem aufsehenerregenden Debüt »Wintervögel«, sechs Romane, zuletzt »Forgiveness« (University of Texas Press 2007) und den Erzählband »Jesus Is Sending You This Message« (Alyson Books, 2008), außerdem drei Fantasyromane (2000–2006). Werke von Grimsley wurden ins Deutsche, Französische, Spanische, Portugiesische, Niederländische, Hebräische und Japanische übersetzt. Zu den zahlreichen Literatur- und Theaterpreisen, die er in den USA und Europa erhielt, gehören vor allem der Lila Wallace/Reader’s Digest Writers Award für sein Gesamtwerk (1997) und der Academy Award in Literature von der American Academy of Arts and Letters (2005). Jim Grimsley lebt seit Langem in Atlanta, Georgia, und unterrichtet Creative Writing an der dortigen Emory University.

Die Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, lebt als Übersetzer (u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca, Mario Vargas Llosa) in Berlin. 2012 erhielt er den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.

Frank Heibert, geb. 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Inhalt

Barbara von Becker: Wintervögel

Wintervögel: Leseprobe

Jim Baker: Das Leben zwischen den Sternen

Das Leben zwischen den Sternen: Leseprobe

Marko Martin: Jim Grimsley im Gespräch

Dreamboy: Leseprobe

Ellens Geschichte: Leseprobe

Impressum

Berlin 1993

 

Barbara von Becker: Wintervögel

»Guck mal, wer da spricht«, dieses Spiel könnte man auch mit dem Roman »Wintervögel« von Jim Grimsley treiben. Denn der siebenunddreißigjährige, in Atlanta lebende amerikanische Autor hat sich für seine Geschichte eine höchst aparte Erzählperspektive erfunden.

»Du wischst dir zerriebenes Gras von den Fingern. Du meidest den Fluss, wenn deine Brüder dort sind, und so wartest du, bis du sie auf dem Weg, der die Felder zerteilt, heimwärts ziehen siehst, drei kleine Gestalten, die durch den Lehm stolzieren«, so beginnt die Geschichte von fünf Kindern, ihrer 26 Jahre jungen, schönen Mutter und einem gewalttätigen Trinker von Vater, irgendwo in der Südstaaten-Provinz, wo die Frauen noch immer als Heimarbeit Tabakblätter auf der Holzveranda sortieren.

Wessen Stimme ist es, die uns mit der suggestiven »Du«-Anrede hineinzieht ins Leben dieser sieben Menschen? Eine Stimme, die alles weiß, ein Einflüsterer, zweites, schattenwesenhaftes Ich neben dem Jungen Danny, der durch seine lebensbedrohliche Bluterkrankheit vom abenteuerlichen Kinderalltag ausgeschlossen bleibt. Jim Grimsley entwirft Szenen einer Familie, die in ihrer dramatischen Härte dem sogenannten »dirty realism«, für den amerikanische Autoren wie etwa Tobias Wolff oder Richard Ford stehen, durchaus gleichkommen. Grimsley, der elf Theaterstücke geschrieben hat und gelegentlich selber inszeniert, weckt mit seinem ersten Roman aber auch Assoziationen zum atmosphärischen Kolorit wie zur Psychologie eines Tennessee Williams-Dramas. Ellen hat als blutjunges Mädchen ihren attraktiven Bobjay geheiratet, der als tüchtiger Vormann auf einer Farm arbeitete. Aber dann passierte das Unglück: Bobjay geriet mit seinem Arm in die Mähmaschine, und obwohl er nie über diese Verstümmelung lamentierte oder fluchte, lässt sich der innere Verletzungsgrad am Ego eines Südstaatenmannes nunmehr an seinem Alkoholkonsum und den dann folgenden aggressiven Ausfällen ablesen. Dabei gibt es anrührende Wechsel zwischen dem betrunkenen und im familiären Ernstfall durchaus liebevoll besorgten Vater, und der Autor vermeidet mit dieser Spannung, dass die Figur ins bloße Säuferklischee abgleitet.

Das Herumschwadronieren und besonders die sexuell eingefärbten Verbalattacken erinnern zwar an Brick aus Williams’ »Die Katze auf dem heißen Blechdach«, aber Ellen ist keine Margaret. Mit großer Sympathie hat Grimsley die Figur dieser so früh schon lebensweisen Frau gezeichnet, die im Verstehen und Aushalten bei diesem Mann durchaus nicht nur als duldende Madonna erscheint.

Der Schwerpunkt der Geschichte aber liegt in der schon angesprochenen, psychologischen Erzählperspektive des aufgespaltenen Ichs des Jungen Danny. Es ist wie eines langen Kindertages Reise in die Nacht der Erwachsenenwelt, die nicht nur durch das noch Unbekannte, Unverständliche als Bedrohung erlebt wird, sondern wo die Gefahr vom eigenen Vater ausgeht. Die Zerstörung, die Eltern in den Seelen ihrer Kinder anrichten, wird hier zu einem brutalen Höhepunkt getrieben, wenn der Vater den nackten Jungen ganz ohne Herzflimmern der Mutter auf den Schoß drückt.

Der Beschwörungsgestus von Grimsleys Erzählen erscheint wie eine Mischung aus Albtraum, Fieberwahn und Realität, mit dem es ihm aber gelingt, weite Innenräume in den Seelen seiner literarischen Figuren aufzuschließen. Die einfühlsame Übersetzung von Thomas Brovot und Frank Heibert trifft den eher scheu verhaltenen Ton des wissend fantasievollen Kindes, die wüsten Beschimpfungen des betrunkenen Bobjay ausgenommen. Dem jungen Berliner Verlag Zebra in der Edition diá ist es gelungen, einen Autor zu präsentieren, der mit diesem ersten Roman beträchtliche Neugier auf die beiden weiteren Teile seiner geplanten Südstaaten-Trilogie hervorruft.

Barbara von Becker ist Schriftstellerin und arbeitet für Verlage und Kulturinstitutionen sowie als Literaturkritikerin und Autorin für Tageszeitungen und Rundfunksender.

 

 

Wintervögel: Leseprobe

Der Geruch von Brathähnchen zieht durchs Haus. Papa hat eine ganze Weile still gesessen, doch nun beugt er sich hinab, um seine Schuhe anzuziehen. Schon lange hat er gelernt, sie sich mit einer Hand zuzubinden, ohne andere um Hilfe bitten zu müssen. Er stopft sich die Zigarettenschachtel in die Tasche und geht um den Stuhl herum zur Tür. Der Gedanke, dass er vielleicht fortgeht, lässt dich ruhiger atmen.

Doch als er die Tür öffnet, kommt Mama ins Zimmer gestürzt, die Hände an einem Handtuch abwischend. »Gehst du spazieren?«

»Wenn ich Lust dazu habe, ja.« Papa schaut auf die Straße hinaus.

»Willst du nicht deinen Mantel anziehen? Oder denkst du an was anderes, um dich warm zu halten?«

»Es ist noch gar nicht kalt genug für einen Mantel.«

»Nein, aber kalt genug für eine Flasche, was?«

Die Runzeln auf Papas Stirn vertiefen sich, und der Blick in seinen Augen macht dir Angst. »Nur immer weiter so«, droht er. »Du wirst schon kriegen, was du verdienst. Heute ist Feiertag. Da werd ich mir von keinem vorschreiben lassen, was ich tun darf und was nicht.«

»Na dann los. Geh schon zu deinem Auto. Glaubst du, ich weiß nicht, wo du deinen Whiskey versteckst? Gleich hinter dem Sitz in einer kleinen braunen Tüte.«

»Ich bin doch nicht so blöd zu glauben, ich könnte irgendwas vor dir geheim halten, so wie du rumschnüffelst.«

»Warum zeigst du nicht, wie mutig du bist, und bringst ihn rein? Ich werde dir sagen, warum. Weil du genau weißt, dass ich ihn schnurstracks in den Ausguss schütten werde. Und selbst du kannst am Erntedankfest keinen neuen kaufen, stimmt’s?«

Papa knallt die Tür hinter sich zu. Du hörst seine leiser werdenden Schritte auf der Veranda, die Stufen hinab, du hörst sein leiser werdendes Pfeifen. Als Mama sich umdreht, ist der Zorn aus ihrem Gesicht gewichen. Sie legt Amy ihre Hand auf die Schulter und fragt Grove ruhig, wie es ihm geht. Ob er noch etwas Eis für seinen Arm braucht. Ihre Stimme ist sanft und trocken wie der Wind in den Maisfeldern. Ihr seht sie alle an, wollt ihr sagen, es ist doch egal mit Papa. Er kann trinken, wenn er will, euch macht das nichts aus. Alles ist egal, nur anders dreinschauen soll sie. »Bitte mach dir keine Sorgen, Mama«, sagt Amy, »wir beachten ihn gar nicht.«

»Wenn doch bloß nie Erntedankfest wär, dann müsste er die ganze Zeit arbeiten«, Allen.

»Ich hab nicht mal Hunger«, Duck.

Mama geht in die Küche und legt das Handtuch zusammen. »Ich habe auch keinen Hunger. Da kocht das ganze gute Essen, und keiner von uns kriegt einen Bissen runter.«

Da hörst du wieder Schritte auf der Veranda. Draußen hustet und spuckt Papa. Das Geräusch erschreckt dich, du hasst ihn so sehr, dass dein ganzer Körper zittert, du stellst dir vor, wie Papa sich zu einem kleinen Ball zusammenrollt und stirbt, nur weil du ihn so sehr hasst, dass er in der Hitze deines Hasses zusammenschrumpelt, bis er klein und rauchschwarz ist, trockenes Laub oder ein Stück Asche, federleicht, dass der Wind es davontragen kann. Doch er weiß nichts von deiner Fantasie. Mama verschwindet in der Küche, als sie die Türklinke hört. Papa tritt auf den schweren Dielenbrettern die Füße ab. Ein kalter Wind strömt durch den Raum, dann schließt er die Tür. Die Flammen im Gasofen tanzen hin und her, fast zum Nichts zusammengeblasen. Du kannst den Whiskey an Papas Kleidern riechen. Er schwankt ein wenig, sackt in den Sessel. Seine Gesichtszüge sind schwer, dumm und zäh. Er fischt eine Zigarette aus seiner Tasche und fingert herum, bis er sie endlich angezündet hat. Er schnippt Asche auf den Boden. Amy stiert ihn an, von ihrem eigenen Hass erfüllt. »Da steht ein Aschenbecher direkt neben dir.«

Er dreht sich zu ihr um. Sie sucht seine Augen. Er lallt. »Was hast du gesagt?«