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Juergen W. Roos

ICH WILL DEINE TRÄNEN SEHEN

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© 2018 Juergen W. Roos

Lektorat, Korrektorat: Tatjana Dörfler

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-7345-9
Hardcover:978-3-7439-7346-6
e-Book:978-3-7439-7347-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1.

Jens Fredmann schaute angespannt und etwas müde durch das weit geöffnete Fenster des kleinen Besprechungsraumes.

Das Gebäude, in dem er sich befand, lag in einer Nebenstraße, unweit von Brüssels historischem Marktplatz, dem Grand Place. Es war kurz vor acht Uhr morgens und unter ihm eilten die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen. Sobald er sich weiter vorbeugte, sah er einen schmalen Streifen des blauen Himmels. Der Wetterbericht schien recht zu behalten. Der Tag sollte heiß werden und das konnte man bereits spüren. Die Schlechtwetterfront, die einen großen Teil Europas mit grauem Himmel einschließlich Nieselregen beglückte, machte diesmal um die Hauptstadt Belgiens einen Bogen.

Während die meisten der männlichen Passanten wegen der zu erwartenden Hitze lediglich mit Hemd und Hose bekleidet waren, trug die Mehrzahl der Frauen leichte Blusen zu kurzen Röcken oder hellen Hosen. Auf dem historischen Pflaster war das Klappern ihrer hohen Absätze deutlich zu hören.

Er hatte es eilig und hoffte, dass seine Gesprächspartner pünktlich kamen und die Besprechung nicht allzu lange dauerte. Nur ungern hatte er die zweistündige Autofahrt von der Europol-Zentrale in Den Haag nach Brüssel zu dieser frühen Zeit auf sich genommen. Gegen Mittag wurde er bereits zurückerwartet.

Mäßig interessiert schaute er einem älteren Mann dabei zu, wie er Holzsteigen mit Gemüse in das gegenüberliegende, kleine Restaurant schleppte.

Eindeutig den hübscheren Anblick bot eine reizvoll gekleidete, vielleicht 20-jährige Frau mit langen, blonden Haaren. Sie hatte es eilig. Fast im Dauerlauf erreichte sie einen Hauseingang schräg gegenüber und verschwand durch die offenstehende Tür.

„Wohl zu lange Zeit im Bett geblieben“, mutmaßte er. „Vielleicht mit einem Freund oder Liebhaber, der sie nicht gehen lassen wollte?“

Es gab Momente, in denen er bedauerte, mit seinen 44 Jahren schon zu alt für Frauen dieser Altersklasse zu sein. Gelegentlich vermisste er bei sich die jugendliche Ausgelassenheit früherer Zeiten.

Bei jedem Blick in den Spiegel erinnerten ihn die zahlreichen grauen Strähnen in den braunen Haaren daran, dass die magische Zahl fünfzig näher rückte.

Anderseits, wenn er dann länger darüber nachgrübelte, konnte er auch gewisse Vorteile an seinem Alter entdecken. Er musste nicht ganze Nächte in einer dieser schrecklichen Diskotheken verbringen, wo man sich, bedingt durch die laute Musik, nicht einmal vernünftig unterhalten konnte. Wie die jungen Leute es trotzdem schafften, sich dabei näherzukommen, blieb ihm ein Rätsel.

Als hinter ihm die Tür aufging, drehte er sich um. Helene Wudel begrüßte ihn mit einem kurzen „Hallo“. Mit einem erleichterten Seufzer stellte sie ihre riesige Handtasche auf den Tisch ab.

Helene Wudel vom Bundeskriminalamt in Berlin und er kannten sich seit etlichen Jahren. In der Vergangenheit hatten sie mehrfach zusammengearbeitet.

Mit einer sehr typischen Handbewegung strich sie sich die dunkelgrauen, unordentlich frisierten Strähnen ihrer kurzen Pagenfrisur aus der Stirn. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die er kannte, denen man sofort ansah, wie wenig ihnen ihr Aussehen bedeutete.

Wie so oft trug Helene Wudel einen einfachen, dunkelblauen Rock, eine weiße Bluse sowie flache, braune Sandalen. Niemand kam bei ihr auf die Idee, dass sie zu den fähigsten Kriminalbeamtinnen Europas gehörte.

Das genaue Gegenteil war Marie Fourtou von der französischen „Police Nationale“.

Sie kam in Begleitung ihres belgischen Kollegen Abraham Sleurs der „Police Fédérale“.

Die Französin begrüßte die Anwesenden mit einem fröhlichen „Bonjour“. Sie musste etwa gleich alt wie Helene Wudel sein. Doch das sah man ihr nicht an. Die dunkelblonden, schulterlangen Haare spielten mit ihrem hübschen Gesicht, in dem man keine Falte entdecken konnte. Falls es auf der Stirn welche geben sollte, wurden sie geschickt unter der, bis zu den Augenbrauen reichenden Kopfbehaarung, verborgen. Wie stets kam sie betont jugendlich gekleidet.

Unter der leichten, hellroten Bluse konnte man einen dunklen BH erkennen. Der kurze, fast durchsichtige, schwarze Rock umspielte ihre schlanken, langen Beine. Sie war daran gewöhnt, dass die Blicke der Männer ihr folgten, sobald sie einen Raum betrat. Fredmann vermutete, dass sie es geradezu darauf anlegte und entsprechend genoss.

Abraham Sleurs begrüßte die beiden Deutschen mit laschem Händedruck sowie einer angedeuteten Verbeugung. Es war ihr erstes persönliches Zusammentreffen. Bisher kannten sie sich nur von diversen Videokonferenzen.

Mit seinen gut dreißig Jahren war Abraham Sleurs der Jüngste unter ihnen. Seine altmodische Frisur mit dem korrekten Mittelscheitel; die kleinen Augen und eingefallenen Wangen erinnerten Fredmann an ein Gemälde, dass er einmal im Louvre gesehen hatte. An den Namen des Malers konnte er sich im Moment nicht erinnern.

Für ihn sowie Helene Wudel war dieses Treffen reine Zeitverschwendung. Eine weitere Videokonferenz hätte es auch getan.

Doch Marie Fourtou hatte diesmal nachdrücklich auf eine persönliche Zusammenkunft bestanden. Fredmann vermutete, dass ihre Vorgesetzten hinter der Forderung standen.

Die Französin ließ es sich nicht nehmen, als Erste das Wort zu ergreifen. Vermutlich wollte sie auf den Belgier Eindruck machen, der sie mit seinen Blicken fast hypnotisierte.

Sie besaß eine angenehme, fast erotische Stimme, fand Fredmann zum wiederholten Male. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.

Als sie begann, ausführlich auf den Grund ihrer Zusammenarbeit einzugehen, stöhnte er innerlich auf. Jeder von ihnen wusste, um was es ging.

„Die Regierungen in Berlin, Paris und Brüssel haben den ehemaligen Lobbyisten und jetzigen Staatssekretär in der sächsischen Landesregierung, Phillip Kreuter als zukünftigen EU-Kommissar vorgeschlagen. Es bedurfte viel Überzeugungsarbeit, damit die anderen europäischen Regierungen ihre Bedenken gegen Phillip Kreuter zurückstellen. In vielen Ländern ist man der Meinung, dass ein ehemaliger Lobbyist keineswegs zum EU-Kommissar ernannt werden dürfe.

Dann passierte etwas, mit dem keiner der Politiker gerechnet hatte. Kurz nach der erzielten Einigung ist dem deutschen Verfassungsschutz die Kopie einer Speicherkarte zugespielt worden. Aus den darauf enthaltenen Dateien geht eindeutig hervor, dass sich Phillip Kreuter vor Jahren an kriminellen Geschäften in Russland beteiligt hatte. Absender der Speicherkarte war ein Kölner Rechtsanwalt namens Georg Dobrin. Er hat zur selben Zeit wie Kreuter in Moskau gearbeitet.

Spezialisten des Verfassungsschutzes fanden heraus, dass es auf der Speicherkarte eine zusätzliche Datei gab, die bedauerlicherweise unlesbar ist. Dem Absender musste beim Kopieren ein Fehler unterlaufen sein. Vielleicht ist es auch Absicht gewesen.

Nach Rücksprache mit der Regierung in Berlin wurden Verfassungsschutz Europol, BKA sowie die französischen und belgischen Polizeibehörden damit beauftragt, den Wahrheitsgehalt der darauf enthaltenen Anschuldigungen zu überprüfen.

Eine Befragung des Rechtsanwaltes konnte zu dieser Zeit nicht mehr vorgenommen werden. Kurz zuvor hatte es einen Überfall auf seine Kanzlei gegeben. Georg Dobrin wurde dabei so schwer verletzt, dass er wenige Tage später an den Folgen starb.“

Die Französin strich sich über die Haare, bevor sie fortfuhr: „Das Original der Speicherkarte wurde bis jetzt nicht gefunden. Möglicherweise ist das der Grund für den Überfall gewesen. Wir wissen nicht, ob die Täter sie in ihren Besitz bringen konnten.

Es ist möglich, dass Phillip Kreuter beziehungsweise jemand aus seinem Umfeld hinter dem Überfall steckt. Beweise dafür gibt es allerdings nicht.“

Fredmann ließ die Augen auch dann noch geschlossen, als die Französin bei ihrem Rückblick eine Pause einlegte. Er ahnte, dass sie ihn in diesem Moment misstrauisch musterte. Vermutlich versuchte sie herauszufinden, ob er eingeschlafen sei.

Doch eine diesbezügliche Frage verkniff sie sich. Stattdessen ging sie genauer auf die Person Phillip Kreuters ein.

„Seine Vergangenheit ist danach vom deutschen Verfassungsschutz und den europäischen Polizeibehörden erneut überprüft worden. Bereits bekannt war, dass er während der Präsidentschaft Boris Jelzins in Russland ein Vermögen verdient haben muss. Doch nirgendwo fand sich ein Hinweis darauf, dass er mit unlauteren Methoden dazu gekommen ist.“

„Oder haben sie, beziehungsweise ihre Kollegen, inzwischen etwas herausgefunden, das uns noch nicht bekannt ist,“ wandte sie sich schließlich doch direkt an Fredmann.

„In unserer Behörde finden sich keine Hinweise, die uns wirklich weiterhelfen könnten.“

Der Europol-Beamte grinste und schaute Abraham Sleurs an. „Von ihren Kollegen wurde uns ein Gerücht zugetragen. Angeblich soll Phillip Kreuter ein Verhältnis mit der EU-Abgeordneten Laura Pavese von der „Liberté pour la France“ haben. Ob das der Wahrheit entspricht, kann ich nicht beurteilen. Uns ist mitgeteilt worden, dass er sich in der Vergangenheit öfter mit ihr getroffen hat. Später habe ich erfahren, dass der deutsche Verfassungsschutz ebenfalls Interesse an der Dame zeigt. Den Grund dafür konnte ich nicht in Erfahrung bringen.“

Marie Fourtou lächelte zufrieden: „Den kann ich ihnen nennen. Es gibt Hinweise darauf, dass Laura Pavese Kontakt zu radikalen Islamisten in Tatarstan unterhält. Dank ihrer finanziellen Unterstützung sollen einige von ihnen nach Westeuropa gelangt sein.“

Erklärend fügte sie hinzu: „Tatarstan ist eine autonome Republik im östlichen Teil des europäischen Russlands.“

Der Belgier schüttelte verwundert den Kopf. „Wieso unterhält die Abgeordnete einer rechtsradikalen Partei Kontakt zu Islamisten? Es sind doch ihre Parteianhänger, die dauernd gegen die Islamisierung des Abendlandes wettern. Gibt es dazu genauere Erkenntnisse?“

„Über die Islamisten wissen wir, dass sie mit einem Touristenvisum über Paris eingereist und danach spurlos verschwunden sind. Unsere Regierung hat sich deshalb direkt mit Moskau in Verbindung gesetzt. Dort sind sie ebenfalls ziemlich beunruhigt. Innerhalb kürzester Zeit bekamen wir von dort die Mitteilung, dass es sich bei diesen Personen keineswegs um Russen, sondern um Staatsbürger aus Tadschikistan, Usbekistan sowie Kirgisistan handelt. Angeblich sind sie illegal in Russland eingereist, wurden in Tatarstan mit gefälschten russischen Ausweispapieren ausgestattet und sind als normale Touristen nach Westeuropa weitergereist.“

„Die Tätigkeiten dieser Laura Pavese müssen aber nichts mit der Vergangenheit von Phillip Kreuter zu tun haben,“ schaltete sich Helene Wudel vom BKA ein. „Und nur seinetwegen sind wir hier.“

Bereitwillig kam der Belgier auf Phillip Kreuter zurück. „Am einfachsten wäre es, wenn Berlin jemanden anderen für den Posten als EU-Kommissar vorschlägt. Denn selbst wenn Kreuter in der Vergangenheit in kriminelle Geschäfte verwickelt gewesen ist, dürfte das inzwischen strafrechtlich nicht mehr relevant sein.“

Helene Wudel nickte zustimmend. „Da bin ich durchaus ihrer Meinung. Doch damit können wir nicht rechnen. Berlin hat viel Druck ausgeübt, um für Phillip Kreuter die Zustimmung der restlichen EU-Länder zu bekommen. Sollten sie plötzlich jemanden anderen vorschlagen, käme das einer Blamage gleich. Auch für die Regierungen in Paris und Brüssel. Schließlich waren sie es, die Deutschland letztendlich den Rücken gestärkt haben.“

Abraham Sleurs wandte sich an Jens Fredmann und Helene Wudel gleichermaßen: „Ist inzwischen nochmals der Versuch unternommen worden, mit dem Sohn von Georg Dobrin zu sprechen? Vielleicht ist ihm zwischenzeitlich eingefallen, wo das Original der Speicherkarte sein könnte. Was ist das überhaupt für ein Typ. In meinen Unterlagen konnte ich, außer einer Personenbeschreibung, nichts über ihn finden.“

Fredmann zuckte mit den Achseln. „Marc Dobrin ist 35 Jahre alt. Bis zu seinem 6. Lebensjahr wuchs er in einem Kinderheim auf. Georg und Léa Dobrin haben ihn adoptiert. Nach deren Scheidung ist seine Adoptivmutter mit ihm von Köln nach Marseille gezogen. Dort hat er Abitur gemacht. Später kehrte er nach Deutschland zurück. Es folgte die Bundeswehr mit Einzelkämpferausbildung in der Infanterieschule in Hammelburg. Danach wechselte er zur Kölner Polizei. Nach dem tragischen Tod seiner Verlobten, sie war ebenfalls Polizeibeamtin und wurde bei einer Verkehrskontrolle getötet, bewarb er sich als Personenschützer beim BKA in Berlin. Neben dem Dienst studierte er Informatik. Nach dem erfolgreichen Abschluss gab er seine Anstellung beim BKA auf. Seitdem ist er in Köln als freiberuflicher Informatiker tätig. Im Testament seines Adoptivvaters wurde er als Alleinerbe eingesetzt. Zu der Speicherkarte habe ich ihn persönlich befragt. Dabei hat er durchaus glaubhaft versichert, nichts darüber zu wissen. Bemerkenswert ist, dass nach dem Tod seines Vaters zwei Überfälle auf ihn verübt wurden. Sie misslangen. Dabei könnte es sich um versuchte Entführungen gehandelt haben. Es wäre denkbar, dass es sich bei den Tätern um dieselben Personen handelt, die für den Überfall auf seinen Vater die Verantwortung tragen. Das würde allerdings bedeuten, dass die Speicherkarte beim Überfall auf seinen Vater nicht gefunden wurde. Seitdem behalten wir Marc Dobrin im Auge. Immer in der Hoffnung, dass die Täter es nochmals versuchen. Vielleicht bekommen wir sie da zu fassen.“

„Ihren Worten entnehme ich, dass es zwischenzeitlich zu keinem erneuten Versuch gekommen ist?“

„Das stimmt. Inzwischen ist Marc Dobrin nach Moskau geflogen. Er hat sich dort mit einer jungen Frau getroffen. Zusammen sind sie mit dem Zug ausgerechnet in jenen Teil Russlands gefahren, von wo aus die Islamisten nach Westeuropa aufbrechen. Ein seltsamer Zufall. Wir sind gerade dabei, mehr über die junge Frau herauszufinden.“

Helene Wudel blickte auf ihre Uhr und wandte sich an die Runde. „Können wir langsam zum Schluss kommen. Ich darf meinen Flieger nach Berlin nicht verpassen. Kurz zusammengefasst hoffen wir immer noch, das Original der Speicherkarte zu finden. Nur dadurch können wir unter Umständen herausfinden, ob Phillip Kreuter tatsächlich Dreck am Stecken hat. Beim letzten Mal wurde gesagt, dass Georg Dobrin in Südfrankreich gewesen ist. Ist inzwischen bekannt, wo er sich dort aufgehalten hat?“

„Leider nein,“ bedauerte die Französin. „In einem der Hotels hat er sich jedenfalls nicht angemeldet. Entweder ist er privat untergekommen oder hat sich nur wenige Stunden dort aufgehalten.“

„Sein Sohn wusste noch nicht einmal, dass sein Vater in Frankreich gewesen ist. Er selber hielt sich zu dieser Zeit in Amsterdam auf,“ fügte Fredmann hinzu.

Für einen Moment blieb es still. Niemand schien weitere Fragen stellen zu wollen. Helene Wudel nutzte die Gelegenheit und stand auf.

„Ich denke, dass wir damit für heute alles Wesentliche besprochen haben. Es tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann. Wie bereits gesagt, muss ich mich beeilen, um mein Flugzeug zu erreichen,“ lächelte Helene Wudel.

Jens Fredmann nutzte die Gelegenheit. Er verließ mit ihr zusammen die Besprechung.

2.

Flughafen Moskau-Domodedowo. Zusammen mit vielen anderen Passagieren stand Marc Dobrin in der langen Schlange vor der Passkontrolle und wartete auf seine Abfertigung. Gelangweilt schaute er der streng blickenden Uniformierten in ihrem Glashäuschen dabei zu, wie sie jeden einzelnen der Pässe genaustens kontrollierte. Äußerst gewissenhaft verglich sie die vor ihr stehenden Personen mit den Fotos darin. Ihrem abweisenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hielt sie alle Ankommenden für mögliche Terroristen oder Kriminelle; unwürdig, in ihr geliebtes Russland einzureisen. Fast gnädig tippte sie schließlich doch einige Daten in ihre Computer, bevor sie den vor ihr liegenden Pass mit einem Einreisestempel versah und ihn durch einen schmalen Schlitz dem Ankömmling zurück gab. Missmutig wandte sie sich danach dem Nächsten zu.

Inzwischen waren zwanzig Minuten vergangen und noch immer warteten mehr als ein Dutzend Reisende vor ihm auf die Abfertigung. Etwa ebenso viele standen hinter ihm. Bei dem Arbeitstempo der Uniformierten würde es noch eine ganze Weile dauern, bis er offiziell russischen Boden betreten durfte.

Die Mehrheit der Menschen um ihn herum schienen an diese Prozedur gewöhnt zu sein. Nur gelegentlich machte jemand mit einer kurzen Bemerkung seinem Unmut Luft. Wenigstens konnte er sich damit trösten, dass es an den zwei anderen Abfertigungsschaltern nicht schneller vorwärtsging.

Für Marc Dobrin war es nicht der erste Flug nach Moskau. Die letzten Male war er allerdings über den Flughafen Moskau-Scheremetjewo nach Russland gekommen. Diese Reisen waren dienstlicher Natur gewesen und lagen etliche Jahre zurück. Da hatte er noch als Personenschützer beim Bundeskriminalamt gearbeitet. Unter anderen gehörte es dabei zu seinen Aufgaben, Abgeordnete des Bundestages auf ihren Dienstreisen zu begleiten. Für Politiker, deren Anhang sowie andere wichtige Persönlichkeiten gab es bei der Einreise in Russland keine Warteschlangen.

Wenn er jetzt an diese Zeit zurückdachte, war er erleichtert, dass sie hinter ihm lag. Vor seinem Wechsel zum BKA hatte er vier Jahre bei der Kriminalpolizei in Köln gearbeitet. Auslöser für seine Bewerbung in Berlin war der plötzliche Tod seiner damaligen Freundin. In Köln hatte ihn zu viel an die gemeinsam verbrachte Zeit erinnert.

Doch bereits während der Ausbildung beim BKA kamen ihm Zweifel. Die vielen Schießübungen und das ständige Fahrtraining in diversen gepanzerten Limousinen langweilten ihn. Ebenso wie die Theorie. Das Einzige, was ihm Spaß machte, war der sportliche Teil. Dabei konnte er seine Kenntnisse in den diversen Kampfsportarten verwerten und vervollständigen.

Richtig monoton wurde es nach der Ausbildung. Tägliche Arbeitszeiten von 14 bis 18 Stunden waren bei diesem Job keine Ausnahme. Seine Haupttätigkeit bestand aus oftmals stundenlangen, stumpfsinnigen Warten vor Konferenzräumen. Dabei musste er stets aufpassen, dass die Eintönigkeit nicht die Konzentration auf eventuelle Vorkommnisse störte. Bereits nach kurzer Zeit fing er an, über eine berufliche Alternative nachzudenken. Während der Schulzeit hatte er sich ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigt, Informatik zu studieren. Warum er schließlich doch zur Polizei gegangen war, konnte er im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Kurz entschlossen meldete er sich zu einem berufsbegleitenden Fernstudium als Informatiker an.

Dass er es in seiner knapp bemessenen Freizeit schaffte, das Studium durchzuziehen, wunderte ihn später selber. Unmittelbar nach der letzten Prüfung gab er den Job beim BKA auf und kehrte nach Köln zurück.

Sein Adoptivvater überzeugte ihn davon, sich selbstständig zu machen. Mit dessen Unterstützung und dank seiner weitreichenden Verbindungen gelang es ihm, in relativ kurzer Zeit genügend Aufträge zu erhalten. Trotzdem waren die ersten Jahre nicht leicht gewesen.

Diese Reise nach Russland war seitdem sein erster richtiger, längerer Urlaub. Wenn alles klappte, würde er am Abend, zusammen mit einer Person, die er nur vom Bild und einigen Kurznachrichten her kannte, im Zug nach Nabereschnyje Tschelny sitzen.

Damit folgte er dem Wunsch seines Vaters. In einem letzten, sehr persönlichen Brief hatte er ihn darum gebeten. Die Schrift war teilweise etwas zittrig, aber lesbar. Den Inhalt kannte Marc inzwischen auswendig.

Mein Sohn,

wenn Du diesen Brief liest, habe ich die Welt etwas früher als von mir geplant, verlassen. Jetzt im Krankenhaus habe ich die Zeit gefunden, gründlich über die letzten Jahre meines Leben nachzudenken.

Ich bin mir sicher, dass es den Tätern bei dem Überfall um Aufzeichnungen ging, die auf einer Speicherkarte hinterlegt sind. Dummerweise habe ich sie vor einigen Wochen gegenüber einer Person erwähnt, der ich vertraute. Die Dateien darauf sollten so etwas wie eine Lebensversicherung für mich sein. Jetzt scheinen sie das genaue Gegenteil bewirkt zu haben.

Bei den Dateien geht es hauptsächlich um ungeheuer kompromittierende Geschäftspraktiken eines Mannes, der schon bald in ein hohes politisches Amt gewählt werden soll.

Ich habe dafür gesorgt, dass der deutsche Verfassungsschutz nach meinem Ableben eine Kopie erhält.

Da ich nicht vorhersehen kann, welche Entscheidungen dort getroffen werden, habe ich eine weitere Ausfertigung der Speicherkarte zusätzlich an einen Freund geschickt. Der Empfänger wird einen Weg finden, den Inhalt an die Öffentlichkeit zu bringen. Um dich zu schützen, möchte ich dir keine Einzelheiten mitteilen. Darum versuche nicht, mehr über diese Angelegenheit in Erfahrung zu bringen.

Jetzt will ich zum hauptsächlichen Grund meines Briefes kommen. Verbunden damit ist eine Bitte. Obwohl mir das Thema in den ganzen Jahren sehr am Herzen lag, habe ich versäumt, mit dir darüber zu sprechen.

Nach der Scheidung von Deiner Mutter, habe ich auf einer Geschäftsreise in Russland Irina Petrowna, eine ganz wunderbare Frau kennen- und lieben gelernt. Zu dieser Zeit arbeitete sie in Moskau und ist mir als Dolmetscherin zugeteilt worden.

Zusammen haben wir eine Tochter namens Natascha. Sie ist inzwischen

17 Jahre alt und rechtlich gesehen deine Schwester.

Die Umstände haben es leider nicht erlaubt, dass Irina, Natascha und ich als Familie zusammenleben konnten. Das hat mich oftmals traurig gemacht. In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder nachgedacht, ob es doch einen anderen, besseren Weg für uns gegeben hätte. Es wäre schön gewesen, zusammen mit Irina, unsere gemeinsame Tochter Natascha aufwachsen zu sehen.

Um unnötige Formalitäten zu umgehen, habe ich Dich in meinem Testament als alleinigen Erben eingesetzt, obwohl die Hälfte der materiellen Hinterlassenschaften natürlich Deiner Schwester Natascha zustehen.

Ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann und sie ihren Anteil von dir bekommt. Vielleicht möchte sie studieren oder von Russland nach Deutschland kommen. Unterstütze sie, wo es dir und ihrer Mutter nötig erscheint.

Ich habe wiederholt versucht, mit Irina und Natascha Kontakt aufzunehmen. Unter ihrer ehemaligen Anschrift in Moskau konnte ich sie nicht mehr erreichen. Niemand wollte mir sagen, wohin sie gezogen ist.

Trotzdem habe ich die Suche nach den beiden nie aufgegeben. Erst kürzlich habe ich herausgefunden, dass Irina und Natascha sehr wahrscheinlich in Nabereschnyje Tschelny leben. Die Stadt liegt in Tatarstan, einer autonomen Republik im europäischen Teil von Russland. Sämtliche Briefe blieben allerdings unbeantwortet. Vielleicht hast du mehr Glück und es gelingt Dir, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Die Anschrift, die mir genannt wurde, findest Du in meinem privaten Adressverzeichnis.

Solltest Du sie ausfindig machen, verschaffe Dir, nach Möglichkeit vor Ort, einen Überblick über ihre augenblickliche Lebenssituation.

Weiterhin möchte ich Dich bitten, einen alten Freund namens Denis Waterk über meinem Tod in Kenntnis zu setzen. Er ist Journalist und arbeitet für eine Schweizer Zeitung. Erinnere ihn an die Kreuzfahrt, die wir vor einigen Jahren zusammen unternommen haben. Er wird wissen, was damit gemeint ist und auf seine Art um mich trauern.

Sehr wahrscheinlich wird der Verfassungsschutz oder das Bundeskriminalamt zu Dir Kontakt aufnehmen. Sicherlich haben sie Fragen zum Inhalt der Speicherkarte. Es ist besser, wenn Du diesen Brief dabei nicht erwähnst. Ich will vermeiden, dass Irina und Natascha gefährdet werden.

Zum Schluss möchte ich Dir noch sagen, dass ich sehr stolz auf Dich bin. Für Léa und mich bist Du stets der Sohn gewesen, den wir uns gewünscht haben.

Ich hoffe, dass wir uns in einem anderen Leben wiedersehen.

In Liebe

Dein Vater

Bereits in der Kindheit war Marc darüber aufgeklärt worden, dass Georg und Léa seine Adoptiveltern waren. Behutsam hatten sie ihm erklärt, wieso er bis zur Adoption in einem Kinderheim aufgewachsen war. An seine leiblichen Eltern konnte er sich nicht erinnern. Im Alter von etwa fünfzehn Jahren hatte er vergeblich versucht, sie ausfindig zu machen. Das Heim existierte nicht mehr und im zuständigen Jugendamt wollte oder konnte man ihm nicht helfen. Besonders betrübt war er darüber nicht. Niemand hätte ihn mehr Liebe und Aufmerksamkeit schenken können, als seine Adoptiveltern.

Das einzige, wirklich aufwühlende Erlebnis war für ihn ihre Scheidung. Zusammen Lea zog er in ihre Heimatstadt Marseille.

Doch beide Elternteile bemühten sich sehr, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Mindestens zweimal im Jahr dbesuchte er in den Schulferien seinen Vater in Köln. Auch später, während der polizeilichen Ausbildung, hielten sie engen Kontakt.

Und jetzt gab es beide nicht mehr. Léa starb vor vier Jahren an Brustkrebs. Und Georg erlag den Folgen eines brutalen Überfalls. Die Täter waren bis jetzt unentdeckt geblieben.

Natürlich hatte Marc sich Gedanken darüber gemacht, wen sein Adoptivvater mit den kompromittierenden Geschäftspraktiken gemeint haben könnte. Dabei war er allerdings zu keinem Ergebnis gekommen. Marc nahm an, dass es sich um jemanden handelte, mit dem er während seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt zu tun gehabt hatte. Der Hinweis auf das politische hohe Amt brachte ihn auch nicht weiter. Nirgends wurde angedeutet, ob es sich dabei um ein Amt in Deutschland, der EU beziehungweise eines ihrer Mitgliedsländer handelte.

Schweren Herzens beschloss er, den Rat seines Vaters zu befolgen und sich, wenigstens vorläufig, nicht weiter um die Angelegenheit zu kümmern. Die Hoffnung, dass es der Polizei irgendwann gelang, den Überfall aufzuklären, blieb.

Wie von seinem Adoptivvater vorausgesagt, bekam er nach dessen Tod gleich mehrmals Besuch vom BKA sowie dem Verfassungsschutz. Dabei fand er schnell heraus, dass es ihnen nicht um den Überfall ging. Sie wollten von ihm lediglich wissen, wo sich das Original der Speicherkarte befand. Offensichtlich war seinem Vater beim Kopieren ein Fehler unterlaufen.

Die Männer des Verfassungsschutzes zeigten sich bei den Befragungen von ihrer ungemütlichen Seite. Besonders ein Mann namens Namen „Müller“ war ihm in Erinnerung geblieben. Er ging sogar soweit, ihm berufliche Konsequenzen anzudrohen. Daraufhin hatte Marc ihn samt seinen Begleiter unsanft aus der Wohnung geworfen.

Marc hatte nicht die geringste Ahnung, wo das Original der Speicherkarte sein konnte. Er vermutete, dass sie sich bei dem Schweizer Journalisten befand.

Der Hinweis im Brief auf die angebliche Kreuzfahrt, war ihm sofort aufgefallen. Sein Adoptivvater hatte oft genug geäußert, wie wenig er von dieser Art des Reisens hielt.

Mit dem Journalisten Denis Waterk konnte Marc recht schnell Verbindung aufnehmen. Er fand sein Profil im Internet.

Dessen seltsame Reaktion verwunderte ihn etwas. Auf die Nachricht, dass sein Adoptivvater an den Folgen eines Überfalls gestorben war, bekam er lediglich die knappe Antwort: „Dann ist es also doch eingetreten.“ Kurz darauf war die Verbindung unterbrochen worden. Ohne jedes Abschiedswort.

Dass an dieser ominösen Speicherkarte weitere Parteien interessiert sein mussten, merkte er, als zwei Maskierte mitten in Köln den vergeblichen Versuch unternahmen, ihn in einen Pkw zu zerren. Zum Glück für ihn waren die Angreifer unbewaffnet. Problemlos konnte er sie überwältigen und der Polizei übergeben. Ihrer Aussage, dass ein angeblich Unbekannter sie angeworben hatte, um ihm eine Lektion zu erteilen, glaubte er keinen Moment.

Der zweite Überfall auf ihn war besser geplant, ging aber glücklicherweise ebenso schief. Dabei schlug man ihn, nach einem Treffen mit Freunden, auf einem dunklen Parkplatz hinterrücks mit einer Eisenstange bewusstlos.

Eine ältere Frau aus einem naheliegenden Haus bemerkte den Überfall. Ihre lauten Hilferufe vertrieben die Angreifer. Das Fahrzeug ließen sie zurück. Die Polizei stellte später fest, dass man es wenige Stunden zuvor gestohlen hatte. Marc kam mit einer leichten Gehirnerschütterung davon.

Die Überfälle weckten erneut sein Interesse an der Speicherkarte. Zumindest hätte er gerne gewusst, was sich darauf befand.

Mehrmals versuchte er deshalb, den Journalisten in der Schweiz telefonisch zu erreichen. Vergeblich. Auf seine Bitten um Rückruf, die er auf Mailbox und in dessen Redaktion hinterließ, kam nie eine Rückmeldung.

Intensiv widmete Marc sich in dieser Zeit der Suche nach seiner Halbschwester sowie ihrer Mutter. Warum sein Vater nie über sie gesprochen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Dabei musste er oft an sie gedacht haben.

Anfangs versuchte er es ebenfalls mit Briefen. Wie bereits bei seinem Vater bleiben sie unbeantwortet. Vielleicht waren sie umgezogen und lebten inzwischen in einer anderen Stadt. Die Briefe konnten auf dem Weg nach Russland auch verloren gegangen sein.

Aufgeben kam für ihn nicht infrage. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die beiden doch noch ausfindig machen konnte Inzwischen wusste er, dass es in Russland unzählige Menschen mit dem Namen Petrowna gab.

Eine russische Bekannte brachte ihn auf die Idee, es über die sozialen Medien wie „Facebook“ oder anderen, gleichartigen Internetseiten zu versuchen. Dank ihrer Hilfe stieß er schließlich beim russischen „Moj Mir“ auf eine Inessa Petrowna in Nabereschnyje Tschelny.

In einer kurzen Mitteilung bat er die Unbekannte, ihm bei der Suche nach Natascha und Irina Petrowna behilflich zu sein. Die Antwort kam rasch. Bei den beiden Gesuchten handelte es sich um ihre Halbschwester und die gemeinsame Mutter.

Nachdem er ihr erklärt hatte, weshalb er nach ihnen suchte, schickte sie ihm die Telefonnummer der beiden.

Endlich konnte Marc den Wunsch seines Adoptivvaters nachkommen und zu der damaligen Geliebten Kontakt aufnehmen.

Irina Petrowna besaß eine angenehme, freundliche Stimme. Ihre deutsche Aussprache klang weich. Sie ähnelte der einer Französin, fand er.

„Isi hat mir gesagt, dass du bereits zwei Briefe an uns geschrieben hast. Aber leider sind sie nicht angekommen.“

Automatisch nahm Marc an, dass mit Isi ihre Tochter Inessa meinte.

Er erzählte ihr vom Tod seines Adoptivvaters sowie dessen letzten Wunsch, mit Natascha und ihr Kontakt aufzunehmen.

Daraufhin blieb es für einen langen Moment still am Telefon im fernen Russland. Als sie schließlich antwortete, klang ihre Stimme etwas bedrückt.

„Obwohl wir seit vielen Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben, tut mir der Tod von Georg unendlich leid.“

Sie machte eine weitere Pause, um nachzudenken. Zögernd fügte sie hinzu: „Wenn du möchtest, kannst du uns gerne besuchen. Ich und sicherlich auch Natascha würden uns darüber sehr freuen“, bot sie ihm an.

„Da hätten wir genügend Zeit, um über deinen Vater zu sprechen, und ich lerne endlich seinen Sohn kennen.“

Sie lachte ein wenig. „Damals hat er oft von dir gesprochen.“

Spontan sagte Marc zu.

Als er seiner russischen Bekannten vom Erfolg ihrer gemeinsamen Anstrengung erzählte und das er schon bald nach Tatarstan fliegen würde, warnte sie ihn scherzhaft mit erhobenen Finger: „Die Frauen dort sind nicht nur sehr schön, sondern besitzen die Fähigkeit, Männer in ihren Bann zu ziehen. Das kann gefährlich für dich werden.“

Marcs Reiseplanung verlief umständlicher, als gedacht. Der nächstgelegene internationale Flughafen befand sich in Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan. Von da aus waren es knapp dreihundert Kilometer bis Nabereschnyje Tschelny. In der Stadt selber gab es lediglich einen nationalen Flughafen. Er müsste in Moskau umsteigen und mit einer innerrussischen Fluglinie weiterfliegen. Darüber war er nicht gerade begeistert. Über die schlechten Zustände der dafür genutzten Flugzeuge hatte er schon etliches gehört und gelesen.

Vorsichtshalber bat er Nataschas Halbschwester Inessa per Mail um Rat. Ihre Antwort kam umgehend.

„Hallo Marc. Wenn Du es einrichten kannst, am letzten Samstag dieses Monats nach Moskau zu kommen, könnten wir zusammen mit der Eisenbahn nach Nabereschnyje Tschelny fahren. Aus beruflichen Gründen geht es bei mir nicht früher. Dadurch bekommst du Gelegenheit, ein wenig von Russland kennenzulernen. Die Fahrt dauert etwa zwanzig Stunden. Solltest Du mit dem Vorschlag einverstanden sein, sage mir möglichst bald Bescheid. Dann besorge ich die Eisenbahntickets und hole Dich am Flughafen ab. Wir sind gespannt darauf, dich kennenzulernen.“

Der Vorschlag der jungen Frau, mit dem Zug von Moskau aus nach Tatarstan zu fahren, gefiel ihm. Gerne nahm er ihre Anregung an. Nachdem dieses Problem gelöst war, freute er sich auf das Zusammentreffen mit seiner Stiefschwester und ihrer Mutter.

Jetzt, in der Warteschlange am Moskauer Flughafen, war Marc auch gespannt auf die junge Frau, die ihn abholen wollte. Wie sie ungefähr aussah, wusste er bereits von ihrem Profil im „Moj Mir“. Da war das Bild einer hübschen Frau mit dunkelbraunen Haaren zu sehen, die mit einem frechen Lächeln in die Kamera schaute. Daher wusste er auch, dass sie 27 Jahre alt war und Ökologie studiert hatte. Mangels entsprechenden Arbeitsplatzes arbeitete sie gelegentlich als Model bei Modeschauen. Das war auch der Grund, warum sie sich derzeit in Moskau aufhielt.

Geduldig schob sich Marc weiter in Richtung Passkontrolle. Ein Stück hinter ihm standen zwei allein reisende, elegant gekleidete, junge Russinnen, die sich angeregt unterhielten. Beide waren auffallend attraktiv, wenn auch, jedenfalls für seinen Geschmack, ein bisschen zu stark geschminkt. Ein hübscher Anblick inmitten der anderen Reisenden.

Immer dann, wenn sich die große Schiebetür hinter der Pass- und Zollkontrolle öffnete und einen der Passagiere in die Freiheit entließ, konnte er unzählige Menschen sehen, die auf die Ankommenden warteten. Marc hoffte, dass sich unter ihnen auch Inessa Petrowna befand.

Endlich stand er der streng blickenden Frau in ihrem Glashäuschen gegenüber. Sein Pass und das Visum wurden ausgiebig geprüft. Schließlich erhielt er den Einreisestempel. Seinen Koffer fand er neben dem Gepäckband. Damit er sich nicht endlos im Kreis drehte, musste ihn ein dienstbarer Geist heruntergenommen haben.

Etwas verloren schob er sich nach Verlassen des Sicherheitsbereiches durch die vielen Menschen, die nur widerwillig Platz machten.

Wie sollte er unter den zahlreichen Leuten das Gesicht der Frau erkennen, deren Foto er lediglich aus dem Internet kannte? Einige Abholer hielten Schilder mit Namen in die Höhe. Seinen konnte er nirgendwo entdecken.

Die Russin entdeckte ihn zuerst. Für einen Moment verschlug es Marc die Sprache, als sie mit einem entwaffneten Lächeln auf ihn zukam. Das lag nicht nur an ihren großen, meergrünen Augen und dem auffallend schönen Mund. Von ihr ging etwas ungeheuer Lebendiges aus, fand er. Die hohen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht etwas Unnahbares, was im völligen Kontrast dazu stand.

Durch die zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen dunkelbraunen Haare wirkte sie gleichzeitig fast mädchenhaft. Der Pony verdeckte zu einem großen Teil die Stirn und endete erst knapp über den Augen.

Sie trug eine weiße Bluse und dazu einen leichten, kurzen Rock mit Blumenmuster. Er verbarg lediglich einen kleinen Teil der langen, gebräunten Beine. In der Hand hielt sie eine helle Jacke.

Neugierig und zugleich belustigt lächelte sie ihn an. „Du bist hoffentlich Marc?“

Die Betonung der einzelnen Silben erinnerten ihn, wie bei ihrer Mutter, an die deutsche Aussprache vieler Französinnen.

„Dann musst du Inessa sein. Ich bin erleichtert, dass wir uns in der Menge von Menschen überhaupt gefunden haben. Wie hast du mich erkannt,“ wollte er wissen.

In ihren Mundwinkeln zeigten sich kleine Grübchen, als sie ihm antwortete: „In der Masse von Leuten bist du der Einzige, der verzweifelt nach jemanden Ausschau hält und ihn nicht finden kann. Dazu kommt, dass man dir den Ausländer ansieht. Aber bitte sag Isi zu mir. Wenn du mich mit Inessa ansprichst, macht mich das gefühlt um zehn Jahre älter.“

Sie nahm Marc bei den Schultern und küsste ihn auf die Wangen. „Willkommen in Moskau Bruderherz.“

Marcs erste angenehme Überraschung legte sich nur langsam. Immerhin kehrte seine gewohnte Schlagfertigkeit zurück.

„Bei den Gedanken, die mir bei deinem Anblick durch den Kopf gegangen sind, bin ich froh, dass du nicht wirklich meine Schwester bist.“

Spitzbübisch lächelte sie ihn an. „Darüber musst du mir später mehr erzählen. Während der Zugfahrt nach Nabereschnyje Tschelny hast du dazu genügend Zeit. Ich möchte unbedingt erfahren, was im Kopf eines deutschen Mannes vor sich geht, der zum ersten Mal mit einer tatarischen Frau zusammentrifft.“

Sich fröhlich unterhaltend führte ihn die Russin zum Ausgang. Bedingt durch die hohen Absätze ihrer Schuhe war sie mindestens ebenso groß wie er.

Sie wusste sich durchzusetzen, bemerkte er recht bald. Einem der zahlreichen Taxifahrer, erteilte sie eine grobe Abfuhr. Er hatte sich ihnen direkt in den Weg gestellt und forderte sie immer wieder dazu auf, in sein Taxi zu steigen.

„Vor den privaten Taxifahrern in Moskau sollte man sich besser fernhalten“, klärte die Russin ihn auf. „Unter denen gibt es viele Gauner. Einen unwissenden Ausländer nehmen sie gerne mal das Vielfache des normalen Fahrpreises ab.“

Vor dem Flughafengebäude blieb Marc stehen. Die mittägliche Sonne schien von einem nahezu wolkenlosen Himmel. Trotzdem war es nicht allzu warm. Isi hatte sich inzwischen ihre Jacke angezogen.

„Haben wir einen Moment Zeit?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, blieb Marc stehen und zündete sich eine seiner wenigen täglichen Zigaretten an. Dabei sah er den zwei Modepüppchen nach, die hinter ihm in der Schlange gewartet hatten. Jetzt standen sie neben einem großen Geländewagen mit getönten Scheiben. Ein Chauffeur verstaute soeben ihr zahlreiches Gepäck.

Isi hatte seinen Blick bemerkt. „Bei denen hast du keine Chancen“, meinte sie und lächelte ihn dabei spöttisch an.

„Entweder handelt es sich bei den Frauen um Töchter reicher Geschäftsleute oder es sind die Geliebten von irgendwelchen Mafiachefs.“

„Woran willst du das erkennen?“

„Schau dir ihr Fahrzeug an. Wer einen Mercedes in der Preisklasse fährt, kann nur zu diesen zwei Kategorien von Menschen gehören. Aber du musst deshalb nicht traurig sein. Bei uns gibt es viele schöne Frauen. Wenn du möchtest, stelle ich dir in Nabereschnyje Tschelny einige meiner Freundinnen vor,“ lächelte sie ihn schelmisch an.

Marc musste lachen. „Deswegen bin ich eigentlich nicht nach Russland gekommen. Wann beginnen wir unsere Zugreise und was machen wir bis dahin“ lenkte er schnell von dem verfänglichen Thema ab.

„Der Zug fährt heute Abend kurz nach zweiundzwanzig Uhr ab. Morgen sind wir gegen neunzehn Uhr in Nabereschnyje Tschelny. Mutter will uns vom Bahnhof abholen. Wenn du möchtest, kann ich dir bis zur Abfahrt des Zuges ein bisschen von Moskau zeigen.“

„Der Vorschlag ist gut, aber was mache ich in der Zwischenzeit mit dem Koffer?“

Marc deutete dabei auf das Gepäckstück. „Ich habe keine Lust, ihn den Rest des Tages durch die Stadt zu schleppen.“

Die Russin nickte verständnisvoll. „Das ist kein Problem. Wir fahren zuerst mit dem Schnellzug und der Metro zum Bahnhof Kasanskaja. Bei den unendlichen Staus in Moskau ist das die schnellste Art des Vorwärtskommens. Wir können deinen Koffer da in der Gepäckaufbewahrung abgeben. Meine Tasche ist bereits dort. Dort beginnt heute Abend unsere Zugfahrt.“

„Bist du schon mal in Moskau gewesen,“, wollte sie auf dem Weg zum Zug von ihm wissen.

„Mehrmals sogar. Genau genommen ist das mein vierter Besuch in der Stadt. Aber die anderen Male war ich dienstlich hier. Da habe kaum etwas von Moskau gesehen. Wir wurden jedes Mal am Flughafen abgeholt und von dort aus im Eiltempo zu diversen Besprechungen gefahren.

Anschließend ging es sofort zurück zum Flieger. Bis jetzt konnte ich noch nicht einmal einen Blick auf den Kreml werfen oder mit eurer berühmten Moskauer Metro fahren.“

„Dann hast du einiges nachzuholen. Der angefangene, heutige Tag ist viel zu kurz, um dir alles zu zeigen. Aber für die U-Bahn, den Kreml sowie ein paar andere Sehenswürdigkeiten bleibt genügend Zeit.“

Unbeirrt ging sie einem weiteren Taxifahrer aus dem Weg. „Was hat ein Mann wie du dienstlich in Moskau zu tun gehabt?“

„Da habe ich Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu politischen Gesprächen begleiten müssen.“

„Und du bist ihr Sekretär gewesen?“

Marc grinste. „Schlimmer. Trotz der vielen russischen Polizisten in Uniform sowie Zivil, die sich ständig in unserer Nähe aufhielten, musste ich aufpassen, dass sie nicht entführt werden oder ihnen jemand den Schädel einschlägt.“

„Dann bist du ein richtiger Bodyguard? Ich bin beeindruckt. Den Job stelle ich mir interessant vor. Solche Leute kenne ich lediglich aus dem Fernsehen.“

„Als ich mich vor etlichen Jahren um den Job beim Bundeskriminalamt beworben habe, dachte ich auch noch, dass mir die Tätigkeit Spaß machen würde. Da habe ich mich gewaltig getäuscht. Inzwischen arbeite ich als Informatiker. Das ist weniger langweilig, finanziell interessanter und vor allem kann ich mir die Zeit besser einteilen.“

„Welche Voraussetzung benötigt man, um Bodyguard zu werden?“

„Nach dem Abitur und der Bundeswehr habe ich mich, zum Leidwesen meines Vaters, für den Polizeidienst entschieden. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn ich Jura studiert hätte. Insgeheim hat er wohl gehofft, dass ich nach dem Studium in seine Kanzlei eintrete. Nach einigen Jahren bei der Kriminalpolizei in Köln habe ich mich schließlich als Personenschützer beim Bundeskriminalamt in Berlin beworben. Aber wie bereits gesagt hat mir diese Arbeit nicht besonders zugesagt.“

Nach seiner ersten Fahrt mit der Moskauer Metro führte Isi ihn über unzählige Treppen zur Gepäckaufbewahrung im Bahnhof Kasanskaja. Erleichtert darüber, ihn nicht mehr schleppen zu müssen, gab Marc den Koffer ab.

Für eine Stadtbesichtigung war das schöne Frühlingswetter geradezu ideal. Mit der Untergrundbahn fuhren sie zum „Roten Platz“. Besonders die Metrostationen im Zentrum von Moskau mit ihren Marmorsäulen, pompösen Kronleuchtern sowie vielen Mosaiken hinterließen bei ihm einen starken Eindruck.

Isi zeigte auf eine endlose Menschenschlange, die alle Lenin in seinem Mausoleum besuchen wollten. Einvernehmlich verzichteten sie darauf, sich dort anzustellen. Stattdessen besichtigen sie die Basiliuskathedrale direkt am „Roten Platz“ und danach führte ihn seine Begleiterin durch das Kaufhaus GUM.

Marc fand die Stadt erstickend sowie enorm laut. Gleichzeitig strahlte sie etwas ungeheuer Dynamisches aus, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Die Russin schien seine Gedanken zu erraten.

„In Moskau musst du auf alles Erdenkliche gefasst sein, doch Langeweile gibt es hier nicht“, erzählte ihm Isi. „Die Stadt ist ein richtiges Ungeheuer. Sie kennt auch keinen Schlaf. Hier findest du neuerdings sogar Zahnarztpraxen, die rund um die Uhr geöffnet haben.“

Die Russin konnte ihm viel über einzelne Bauwerke erzählen, an denen sie vorbei spazierten. Über unebene, schmutzige Treppen führte sie ihn zu so seltsamen Orten wie dem „Stolnik-Gebäude“ oder zum „Ei-Haus“ in der Maschkow-Straße.

Mit der Metro fuhren sie danach zum Arbat, dem historischen Kern Moskaus und jetzigem Szeneviertel. Hier gab es unzählige Cafés sowie kleine Restaurants. Maler, Musiker und andere Straßenkünstler sorgten für ein abwechslungsreiches Unterhaltungsprogramm. Störend wirkte da lediglich das Lokal einer amerikanischen Fast Food Kette.

Davon war in den kleinen, krummen Nebengassen mit ihren uralten Gebäuden nur wenig zu sehen.

Den ausgiebigen Stadtbummel genossen beide. Der Russin gefiel das rege Interesse des Besuchers aus Deutschland. Immer wieder konnte ihn eine besondere Ansicht der Stadt in Erstaunen versetzen.

Schnell entwickelte sich zwischen ihnen eine entspannte Vertrautheit. Von Anfang an fehlte da dieses vorsichtige Abtasten zweier sich fremder Personen. Beide bekamen immer mehr das Gefühl, sich seit einer Ewigkeit zu kennen.

Zudem gefiel ihr, dass er ein klein wenig größer war als sie. Die Männer, mit denen sie sonst zu tun hatte, waren meist kleiner.

Schon bald hakte sie sich bei ihm ein. Ihm fiel auf, dass die Russin immer wieder etwas aus der Tasche ihres Rocks holte und sich in den Mund schob. Die Schalen davon spukte sie einfach aus.

„Was isst du die ganze Zeit?“, wollte er von ihr wissen.

„Das sind geröstete Sonnenblumenkerne. Entschuldige, dass ich dir keine angeboten habe. Ich bin so daran gewöhnt, dass ich sie mir automatisch in den Mund schiebe.“

Sie drückte ihm einige in die Hand und zeigte ihm, wie sie im Mund die Schalen vom Kern trennte.

„Sie schmecken so ähnlich wie Nüsse“, fand Marc.

Unmittelbar darauf musste er lachen: „Im Roman eines deutschen Schriftstellers habe ich irgendwann gelesen, dass die Brüste der Frauen durch den regelmäßigen Genuss von Sonnenblumenkernen fester und größer werden.“

„Dann haben sie bei mir ihre Wirkung verfehlt“, antwortete die Russin ebenfalls lachend, ohne verlegen zu sein.

„Was ich sehe, ist doch sehr ansehnlich“, entgegnete Marc. „Bei der Festigkeit kann ich leider nicht mitreden.“

Isis Antwort bestand aus einer schlagfertigen, recht anzüglichen und spöttischen Bemerkung.

Die Russin hatte sich den Besucher ganz anders vorgestellt. Vor seiner Ankunft war sie davon ausgegangen, dass es sich bei ihm um einen dieser korrekten, eher langweiligen aber hochnäsigen Deutschen mit Anzug und Krawatte handelte. Einige solcher Männer waren ihr gelegentlich in Moskau über den Weg gelaufen. So oder ähnlich wurden sie auch in den russischen Filmen gezeigt. Wohl dadurch hatte sich im Laufe der Zeit bei ihr eine gewisse Voreingenommenheit gebildet.

Marc schien das genaue Gegenteil davon zu sein. Das zeigte sich nicht nur in seiner legeren Kleidung aus Jeans, dem weißen T-Shirt sowie der leichten, schwarzen Lederjacke.

Besonders seine Lockerheit machte Eindruck bei ihr. Bis vor wenigen Stunden wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es unter den Deutschen auch amüsante Typen gab, mit denen man einfach nur herumblödeln konnte. Bei Marc musste sie nicht jedes Wort abwägen, dass sie sagte.

Sobald sie ihn mit einer leicht doppeldeutigen Bemerkung aufzog, schaute er sie fast verlegen an. In solchen Momenten schien es fast, als wüsste er nicht, was er ihr antworten sollte. Doch das täuschte. Seine nicht weniger anzügliche Erwiderung bekam sie meist kurz darauf zu hören.

Trotz des lockeren Auftretens strahlte er unablässig eine innere Ruhe aus, deren Kraft sich auf sie zu übertragen schien. Dazu sah er mit den braunen Augen in dem markanten, gebräunten Gesicht, die sie immer wieder neugierig musterten, recht gut aus. Die Narbe unter dem linken Auge störte nicht; sie machte ihn höchstens noch ein bisschen anziehender.

Zudem faszinierte sie die gleichmäßige, geschmeidige Art, sich zu bewegen. Sie nahm an, dass er sich trotz seines Berufes, oft im Freien aufhielt und viel Sport trieb.

In der Vergangenheit hatte sie manchmal darüber nachgedacht, wieso sich ihre lebenslustige Mutter damals ausgerechnet in einen Deutschen verlieben konnte. Jetzt musste sie einsehen, dass es auch unter ihnen durchaus große Unterschiede gab.

Auch Marc gefiel die unbekümmerte Art der jungen Frau. Dazu war sie hübsch und intelligent. Zwei Eigenschaften, die ihn schon immer angezogen hatten.

Der lebhafte Ausdruck ihres Gesichtes, sobald sie ihm etwas erklärte, gefiel ihm ausnehmend gut. Wenn sie lachte, funkelten ihre meergrünen Augen und an ihren Mundwinkeln zeigten sich kleine Grübchen. Wurde sie ernst, bekam ihr Gesicht etwas zurückhaltend Engelhaftes, das so ganz im Gegensatz zu den blitzenden Augen stand.

Es knisterte zwischen ihnen. Marc musste sich eingestehen, dass er bereits wenige Stunden nach seiner Ankunft in Russland für ihn die Gefahr bestand, sich nach langer Zeit mal wieder zu verlieben. Schon der Gedanke daran amüsierte ihn.

Müde vom vielen Laufen führte ihn Isi am frühen Abend in ein kleines unscheinbares Restaurant. Es lag in einer Seitenstraße unweit der Moskwa und versteckte sich hinter einer schmutzigen, renovierungsbedürftigen Fassade.

„Hier kannst du die russische Küche probieren“, forderte sie ihn auf. „Falls du gerne Fisch isst, können wir mit Sakusski beginnen. In diesem Restaurant ist das ein riesiger Vorspeisenteller mit geräucherten Stör, gesalzenen Lachs, Kaviarbrötchen, Hering mit Zwiebeln sowie eingelegten Pilzen.“

„Und dazu trinken wir viel Wodka?“