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Cordula Natusch

Hamburg abseits der Pfade

CORDULA NATUSCH

Hamburg

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise durch
die Metropole an Elbe und Alster

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2015
© 2015 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at

Textquellen: S. 37: Zitiert nach Ulrich Alexis Christiansen: Hamburgs dunkle Welten, Links Verlag 2008; S. 80: Zitiert nach Daniel Bartels: Der Grillenscheucher. Scherz und Ernst in hoch- und plattdeutscher Sprache mit Illustrationen von H. de Bruycker, 2. Teil, 11. Aufl., F. Dörling 1911; S. 103: Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/matthias-claudius-gedichte-5209/18; S. 173: Zitiert nach Herman Anders Krüger: Der junge Eichendorff, Oppeln 1898

Coverfoto: pixabay.com / Michael Fertig
Karte S. 6: MichaelBueker | wikimedia (CC BY-SA 3.0)
Karten S. 8, 26, 54, 84, 110, 128, 140, 158:
openstreetmap.org | © OpenStreetMap-Mitwirkende (CC BY-SA 2.0)

Lektorat: Julia Hinske
Satz: Alexandra Schepelmann | schepelmann.at
ISBN Printausgabe: 978-3-99100-155-3

ISBN E-Book: 978-3-99100-156-0

Meinem Vater, dem ich meine Neugier
und die Lust am Entdecken verdanke
.

Meiner Mutter, die gut gelaunt
jede noch so verrückte Idee mitmacht
.

Inhalt

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Entdeckungen in der Innenstadt image

Die Hammaburg: die Wurzeln von Stadt und Hafen

Zeitreise in den Kalten Krieg: der Atombunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof

Wundervolle Orgelpfeifen: ein Besuch in der Kirche St. Katharinen

Rothenburgsort: Hamburgs vergessener Stadtteil image

Radeln de luxe: von der Innenstadt zur Wasserkunst Elbinsel Kaltehofe

Vom Tier im Hamburger Wasserrohr

Der Kindermord: Gedenkstätte Bullenhuser Damm

Hafenrundfahrt mal anders image

Quer durch den Containerterminal

Barmbek: Arbeiterviertel mit Tradition image

Von Ganoven, Genossen und Gummiwaren: ein Spaziergang von der Mundsburg bis zum Museum der Arbeit

Fischbrötchen selbst gemacht

Ein Stadtteil in Rot und Grün

Besuch beim Grillenscheucher: der Daniel-Bartels-Hof

Immer die Wandse entlang image

Durch die Mitte Hamburgs: von der Schwanenwik bis zum Mühlenteich

Geschichtsträchtiges Wandsbek: auf den Spuren von Matthias Claudius

Abendlied

Rahlstedts Kirchenschatz

Winterhude und Uhlenhorst image

Überraschend und grün: Hinterhöfe in Winterhude und auf der Uhlenhorst

Atmosphäre pur: Hamburgs schönster Wochenmarkt

Eppendorfs stille Ecken image

Besuch im Krankenhaus: das UKE mal anders

Falkenriedterrassen: Hamburgs größtes erhaltenes Terrassenhausensemble

Vierlande: Hamburgs weiter Osten image

Wie Perlen auf der Schnur: die Vierländer Kirchen

Der tiefe Riss in der Idylle: die KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Harburgs romantische Ecken image

Ein Spaziergang durch Harburgs Grün

Der Harburger Binnenhafen

Unterwegs in der Stadt

Was Sie in Hamburg besser nicht machen sollten

Zum Lesen und Erkunden

Danksagung

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1„Domplatz“ Speersort

2„Bischofsturm“

3Zürichhaus

4Tiefbunker unter dem Hauptbahnhof

5St. Katharinen

Entdeckungen
in der Innenstadt

Gut sechs Millionen Menschen besuchen Hamburg jedes Jahr und bleiben durchschnittlich zwei Tage. An sonnigen Tagen, wenn überall das Wasser glitzert, die Fassaden der alten Kontor- und Handelshäuser strahlen und sich die Stadt von ihrer schönsten Seite zeigt, strömen die Menschen in Massen an die Binnenalster und in Richtung Hafen. Es ist nicht einfach, im Trubel der Innenstadt ruhigere, etwas unbekanntere Ecken zu finden, aber es gibt sie.

Die Hammaburg:
die Wurzeln von Stadt und Hafen

Ich stehe auf dem Platz zwischen Speersort und Schopenstehl, nur ein paar Meter von der Mönckebergstraße entfernt. Trotz der Nähe zum Rathaus verlaufen sich nur vergleichsweise wenige Touristen hierher, und wenn, dann sitzen sie meist vor dem Hofbräu Wirtshaus, in dem die Bedienung tatsächlich in Dirndl und Lederhose serviert. Der historischen Bedeutung dieses Orts, der inoffiziell Domplatz heißt, sind sich wohl die wenigsten bewusst. Dabei fing hier alles an. An dieser Stelle befinden sich die Wurzeln der heute zweitgrößten Stadt Deutschlands.

Im Boden unter mir haben Archäologen bei Ausgrabungen in den 1980er-Jahren Spuren von Befestigungsanlagen aus dem 8. Jahrhundert nachgewiesen. Die Enttäuschung war groß. Zu alt waren die Funde, um von der Hammaburg zu stammen, dachte man damals, galt doch Karl der Große als Stadtgründer. Dabei war man überzeugt gewesen, hier auf Hamburgs Ursprung zu stoßen. Doch die Enttäuschung war unberechtigt. Nach jüngeren Grabungen sind sich die Archäologen mittlerweile sicher (und haben die Resultate ihrer Forschungen mit einer großen Ausstellung 2014 dokumentiert): Hier stand die legendäre Hammaburg! Oder vielmehr die Hammaburgen, denn insgesamt tragen drei nachgewiesene Befestigungen diesen Namen. Allerdings musste mit dieser Erkenntnis Hamburgs Gründungsmythos um Karl den Großen beerdigt werden …

Wie mag es damals wohl hier ausgesehen haben?

„Ham“, das ist altsächsisch und bedeutet so viel wie „Bucht“ oder „Wiese“. Die „Hammaburg“ ist also die „Bucht-“ oder „Wiesenburg“. Vermutlich war die Gegend den heutigen Elbauen flussaufwärts ähnlich, sehr grün und ziemlich matschig. Der Standort war gut gewählt, an ihm trafen im 8. Jahrhundert Elbe, Bille und Alster zusammen. Durch die Alster führte eine Furt, durch die Fuhrwerke den Fluss überqueren konnten. Später wurde ein Stück des Ufers befestigt, die Urzelle des Hafens. Eine kleine Siedlung, ein befestigtes Flussufer, eine Furt für den Weitertransport, von Beginn an, so scheint es, war dieses Fleckchen für den Handel prädestiniert. Ich blicke mich um. Noch heute ist der Geestsporn, die Landzunge, auf der die Siedlung lag, zu erkennen. Das leicht erhöht liegende Land fällt zur Straße Schopenstehl hin deutlich ab. Einen Eindruck von der Höhe und der Ausdehnung der mittelalterlichen Befestigungen vermitteln die schwarzen Bauten, die „Wälle“, die auf dem Platz aufgestellt sind. Ich stelle mich in die Mitte und staune. Wie klein das alles ist! Wie überschaubar. Innerhalb der Wallanlage standen nur einige wenige Gebäude, außerhalb ein paar Hütten. Selbst die Kapelle des heiligen Ansgar, der von Hamburg aus Skandinavien missionierte, lag außerhalb, heute wird sie unter der St. Petri-Kirche vermutet. Und wie nah die Feinde waren. Gleich östlich dieses Platzes, dort, wo heute die Steinstraße entlangführt, lag das Land der Slawen.

Die Gefahr kam dann aber aus einer anderen Richtung. 845 überfielen Wikinger die Hammaburg, so vermelden mittelalterliche Quellen. Bischof Ansgar und der weltliche Herrscher, Graf Bernhard, flohen, die Befestigungsanlagen wurden geschleift (die verheerende Brandschatzung, von der die alten Quellen berichten, lässt sich allerdings im Boden nicht nachweisen). Andere Bewohner aber blieben, trieben weiter Handel und hielten so die Ansiedlung am Leben. Die Wende kam, als die kleine Stadt zum Erzbistum ernannt wurde. Ein erster Hafen und die Hammaburg III entstanden. Später wurde auch diese größere Befestigungsanlage wieder zerstört, danach wurde keine neue gebaut. Stattdessen errichtete man im Osten den sogenannten Heidenwall als Schutzwall – und Wachtürme.

Zeit für einen Besuch beim Bäcker Dat Backhus im Speersort 10, neben der St. Petri-Kirche. Nicht etwa, weil es da besonders guten Kuchen gäbe, nein, ich will in den überaus sehenswerten Keller des Gebäudes. Also besorge ich mir einen Kaffee und steige die Treppe hinab ins Untergeschoss, in dem eine Außenstelle des Archäologischen Museums der Stadt untergebracht ist. Hier sitze ich bei etwas schummerigem Licht in der Mitte eines der ältesten erhaltenen Bauwerke Hamburgs: dem Fundament eines Turms, neunzehn Meter im Außendurchmesser und kreisrund. Nach seiner Entdeckung 1962 hielt man diesen Steinturm aus riesigen Findlingen zunächst für den Sitz des Bischofs Bezelin Alebrand, und bis heute ist er in der Stadt als Bischofsturm bekannt. Allerdings stammt dieses Fundament aus dem 12. Jahrhundert und ist damit zu jung für das in den mittelalterlichen Quellen erwähnte bischöfliche Gebäude. Es handelt sich wohl eher um die Überreste eines Stadttors, das die Stadt nach Osten hin sicherte, ein Stadttor, wie es bis heute das Stadtwappen Hamburgs ziert. Im Inneren des mächtigen Kreises sind neben Kaffeetischen und Stühlen auch Vitrinen mit archäologischen Funden und ein Modell des Turms, wie er wohl ausgesehen hat, aufgestellt. Wer um die Reste des Turms herumgeht, findet dahinter einen zweiten, kleineren Steinkreis, einen ehemaligen Brunnen, der schon innerhalb der Befestigung lag. In einem abgetrennten Raum ist eine Nachbildung einer Glocke des Hamburger Domgeläuts ausgestellt. Bei Ausgrabungsarbeiten wurde auch eine Glockengussgrube gefunden, deren Glocken dieselben Ausmaße hatten wie diese Nachbildung.

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Nachbildung einer Glocke im sogenannten Bischofsturm

Ein „Domplatz“, eine Glockengussgrube für den Dom und die Glocke eines Domgeläuts – aber wo ist der Dom? Ich gehe wieder nach draußen auf den freien Platz zwischen den Stahlwällen. Heute ist der Mariendom nur noch eine Erinnerung. Bis 1806 stand er direkt hier auf dem Speersort, ein Rest auch politischen katholischen Einflusses mitten in der schon lange protestantischen Hansestadt. Als das Gotteshaus mit der Zeit immer weiter verfiel, ließ es die Bürgerschaft, der es bei der Säkularisierung zugefallen war, kurzerhand vollständig abreißen. Die weißen Quader auf dem Speersort deuten noch den Grundriss der Kirche an. Vom westlichen Ende, vom Alten Fischmarkt aus, sind die Ausmaße des breiteren Hauptschiffs, der beiden schmaleren Seitenschiffe und des Kreuzgangs gut zu erkennen. In einen der Quader in der linken äußeren Bahn ist eine durchsichtige Plexiglasscheibe eingelassen, durch die – wenn sie nicht gerade von innen beschlagen ist – noch Fundamentreste des Doms zu sehen sind.

Natürlich wurden auch an anderen Stellen in der Innenstadt Spuren der früheren Bewohner gefunden. Im Zürichhaus, einem Gebäude der Architekten Gerkan, Marg und Partner, sind einige Stücke, die beim Bau des Gebäudes ausgegraben wurden, ausgestellt und während der Öffnungszeiten des Bürohauses frei zugänglich. (Die genaue Anschrift ist Domstraße 17–21, südlicher Eingang, in der Halle rechts.)

Es ist ein ungewöhnlicher Glücksfall, dass ausgerechnet dieser Platz, der historisch so wichtig ist, heute freiliegt, während doch sonst nahezu jedes Quadratzentimeterchen in der Hamburger Innenstadt unter Häusern und Straßen begraben ist. Noch, möchte man sagen. Denn natürlich gab und gibt es Gedankenspiele, dieses Filetstück mitten in der Innenstadt zu bebauen. Bleibt zu hoffen, dass es angesichts der historischen Bedeutung dieses Orts bei Gedankenspielen bleibt.

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Blick auf den Speersort vom Turm der St. Petri-Kirche aus

Zeitreise in den Kalten Krieg:
der Atombunker unter dem
Hamburger Hauptbahnhof

„Sie setzen sich bitte hierhin!“ René Rühmann, Mitarbeiter des Vereins Hamburger Unterwelten, weist mir einen Platz in einer Sechsersitzreihe zu. Ich setze mich auf den harten, schmalen Sitz und lehne meinen Kopf an das Schaumstoffpolster darüber. Neben mir nehmen auf Anweisung weitere Besucher Platz, eng an eng. „Und jetzt“, beginnt unser Guide, „stellen Sie sich vor, dass dies für die nächsten vierzehn Tage Ihr Zuhause ist. Sie werden sechzehn Stunden am Tag sitzen und im Drei-Schichten-System acht Stunden auf Pritschen liegen.“

Ich bin im Tiefbunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof, dessen tiefste Ebene bis auf 11,8 Meter unter die Erde reicht. In Hamburg sind noch zahlreiche Bunker und Schutzräume aus dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Sie waren dazu gedacht, während der Angriffe der Alliierten Schutz zu bieten. Waren die Bomber abgezogen, kehrten die Menschen in ihre Häuser und Wohnungen oder das, was davon übrig geblieben war, zurück. Dieser Tiefbunker hingegen ist anders. Zwar stammt auch er aus dem Zweiten Weltkrieg, er wurde aber von 1965 bis 1969, in Zeiten des Kalten Kriegs, umgebaut. Während der Kubakrise war die Menschheit so nah an den Rand ihrer Vernichtung gerückt wie nie zuvor, überall suchten die Regierungen nach Möglichkeiten, die Bevölkerung im Falle eines Atomkriegs zu retten. Über zweitausend Menschen sollten in diesem Bauwerk nach dem Umbau nicht nur Schutz vor den Bomben, sondern auch vor dem radioaktiven Fallout nach einem Angriff mit Atomwaffen finden. Und das bedeutete: Die Menschen hätten hier ausharren sollen, bis die atomare Strahlung weit genug abgeklungen und ein Transport in unverstrahlte Gebiete möglich gewesen wäre. Vierzehn Tage lang, so rechnete man, würden die Menschen in ihrem unterirdischen Versteck bleiben müssen. Vierzehn Tage lang eingezwängt mit wildfremden Menschen, mit nur eingeschränkter Hygiene und ohne Beschäftigung. Ohne Kontakt zur Außenwelt, zu Familienangehörigen und zu Freunden. Ohne Privatsphäre und ohne die Möglichkeit, den Bunker wieder zu verlassen. Ohne zu wissen, was draußen vor sich geht.

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Sechzehn Stunden am Tag sitzen im Atombunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof

Die Ausstattung ist karg. Holzsitze, metallene Ablagen und ein paar Kleiderhaken – mehr Platz war für die Geretteten im Bunker nicht vorgesehen. Alles ist äußerst einfach, alles ist auf das pure Überleben ausgerichtet: Jeder bekam eine Suppenschüssel, einen Löffel. Etwas Seife und ein Grubentuch als Handtuch. Die Toiletten haben keinen Deckel, keine Brille, keine Tür, nur einen Vorhang. 2702 Menschen konnten hier unten überleben, mehr nicht. 2702 war die maximale Anzahl an Personen, für die Luft, Wasser und Nahrungsvorräte ausreichen würden. In den Bunker führen eine schmale, steile Treppe und eine Schleuse, die immer nur einen Flüchtenden einlässt. Mich fröstelt es, nicht nur wegen der dauerhaft kühlen 12 °C, die im Bunker herrschen – wäre er voll besetzt, wäre eher die von den Menschen ausgehende Wärme ein Problem. Die Szenen, die sich vor der Tür abgespielt hätten, wenn diese sich endgültig schließt, möchte ich mir gar nicht ausmalen.

Fast anderthalb Stunden dauert die Führung durch dieses ebenso beklemmende wie faszinierende Bauwerk, das mitten in der Innenstadt liegt und das selbst viele Hamburger nicht kennen. Als ich nach dieser Zeitreise wieder die vierunddreißig Stufen zum unscheinbaren Einstieg neben dem Hauptbahnhof hochklettere, bin ich sehr froh, dass an diesem Tag dort oben nichts weiter strahlt als die Sonne.

Es ist dem Verein Hamburger Unterwelten zu verdanken, dass der Tiefbunker unter dem Hauptbahnhof heute für Besucher offensteht und beim Rundgang verschiedene technische Einrichtungen nicht nur besichtigt werden können („Bitte nichts anfassen, das ist alles noch voll funktionsfähig!“, warnt uns René Rühmann), sondern dass sogar die Schleusenanlage noch vorgeführt werden kann. Der Verein veranstaltet regelmäßig Führungen durch den Bunker, eine verbindliche Anmeldung (mindestens einen Monat im Voraus) ist unbedingt notwendig. (www.hamburgerunterwelten.de)

Wundervolle Orgelpfeifen:
ein Besuch in der Kirche St. Katharinen

Beste Lage: Die Hauptkirche St. Katharinen liegt am Katharinenkirchhof mitten im Zentrum gegenüber der Speicherstadt, direkt an der Elbe, nur einen Steinwurf vom Kontorhausviertel entfernt. Dennoch kommen überraschend wenige Besucher hierher. Vielmehr wird die Kirche meist in einem weiten Bogen umrundet. Die typische touristische Route führt von der Binnenalster über das Rathaus und die historische Deichstraße in das Weltkulturerbe Speicherstadt, von dort in die Hafencity und weiter in Richtung Chilehaus. St. Katharinens charakteristischer, schöner, geschwungener Turmhelm mit dem Goldkranz ist dabei von den unterschiedlichsten Blickwinkeln aus zu sehen, liegt die Kirche doch in etwa im Mittelpunkt dieses Rundgangs. Doch den Weg zu ihr hin? Den finden nur wenige.

Dabei lohnt es sich, einmal in die Mitte vorzustoßen und dieses alte, ehrwürdige Gotteshaus mit seiner runden, bauchigen und an ein Schiff erinnernden Form zu besuchen. Immerhin stammen Teile des Turmschafts aus dem 13. Jahrhundert und gehören damit zu den ältesten Bauten der Stadt. Urkundlich erwähnt wurde die Kirche das erste Mal 1250, fertiggestellt wurde sie im 15. Jahrhundert und diente vor allem als Kirche für die Schiffbauer und die Bierbrauer. Im Zweiten Weltkrieg wurde St. Katharinen schwer beschädigt, die Innenausstattung ging fast vollständig verloren. Aber sie wurde nach dem Krieg – anders als die Nachbarkirche St. Nikolai – wieder aufgebaut, zwischen 2007 und 2013 umfassend saniert, und nun erstrahlt sie in neuem Glanz.

Mich bezaubert immer wieder die ebenso schlichte wie eindrucksvolle Eleganz dieser Kirche. Wer heute den Innenraum betritt, steht in einem hohen, schmalen, weitgehend ungeschmückten Kirchenraum. Klar, hell, aufstrebend wölbt sich das Kirchenschiff über Rundpfeilern vor mir auf, oben funkeln ein paar Sterne an der Decke. Das älteste erhaltene Kunstwerk ist das Kruzifix mit einem um 1300 entstandenen Corpus gleich beim Eingang. Direkt dahinter entdecke ich die in den Pfeiler eingelassene Flutmarke der Sturmflut von 1962. Gegenüber hängen zwei Gemälde aus dem frühen 16. Jahrhundert, die eine Reihe von Kunstwerken aus dem 16. und 17. Jahrhundert eröffnen. Mindestens ebenso sehenswert finde ich, was St. Katharinen an moderner Kunst zu bieten hat: Fenster von Hans Gottfried von Stockhausen oder die große Bronzetür am Südportal von Fritz Fleer, von dem auch der Osterleuchter stammt. Das berührendste Kunstwerk hängt in der Turmhalle (Eingang vom Grimm aus): eine Gedenktafel, angebracht für die achtzig Toten, die beim Untergang der Pamir im Jahr 1957 ums Leben kamen. Über der Tafel schwebt ein Albatros, Symbol für die Seelen ertrunkener Seeleute. Die meisten Opfer waren noch Kadetten, zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Die Katastrophe des Segelschulschiffs war ein Unglück, das die Seefahrerstadt Hamburg besonders betroffen gemacht hat und macht.

Bekannt ist die Kirche aber vor allem durch ein Schmuckstück, das nur von außen zu sehen ist: die goldene Krone am Turmhelm, die angeblich aus dem Schatz des Piraten Klaus Störtebeker hergestellt wurde. Eine Legende, an der allerdings nichts dran ist. Macht nichts, die Hamburger erzählen sie trotzdem gern weiter. Sie lieben ihn einfach, den alten Freibeuter.

In der Geistesgeschichte Hamburgs hat St. Katharinen immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Hier wurde 1521 zum ersten Mal eine reformatorische Predigt in Hamburg gehalten, hier war ab 1755 Johann Melchior Goeze, der die Aufklärung vehement ablehnte, als Hauptpastor tätig. Ab 1774 geriet er in eine heftige religiöse Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessing über die Auslegung der Bibel, Fragmentenstreit genannt. Die beiden kannten sich aus der Zeit, als Lessing als Dramaturg am Hamburger Nationaltheatertätig war. Goeze stand später Vorbild für den Patriarchen in Lessings Drama Nathan der Weise.

St. Katharinen ist nicht nur eine geschichtsträchtige und sehenswerte, sondern vor allem eine sehr hörenswerte Kirche. Seit 2013 wird sie während der Gottesdienste und bei Konzerten vom vollen Klang der Rekonstruktion einer berühmten Orgel, der sogenannten Großen Bachorgel, erfüllt. Bereits im frühen 15. Jahrhundert gab es einen Vorläufer des Instruments, das im Laufe der Jahre immer wieder erweitert und umgebaut wurde. Im Barock galt die Orgel als schönste in ganz Norddeutschland. Hamburg hatte sich über die Zeit zum Mittelpunkt der Kirchenmusik entwickelt, bedeutende Komponisten wie Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach (denen beiden ein Museum in der Peterstraße gewidmet ist) waren als Musikdirektoren in der Stadt tätig. Berühmt ist ein Orgelkonzert, das Johann Sebastian Bach 1720 in der Katharinenkirche vor Honoratioren der Stadt gab. Bach konnte „die Schönheit und Verschiedenheit des Klanges dieser Rohrwerke nicht genug rühmen“, überlieferte sein Zeitgenosse Johann Friedrich Agricola. Die Orgel, die über so viele Jahrhunderte hinweg den Klang in St. Katharinen bestimmt hatte, ging Juli 1943 im Bombenhagel verloren, nur ein Teil der Pfeifen konnte gerettet werden. Nach einigen unbefriedigenden Zwischenlösungen beschloss man, die Orgel mit den noch erhaltenen Pfeifen und anhand von Skizzen und Beschreibungen klanglich und optisch zu rekonstruieren. Eine nicht unumstrittene (und teure) Aufgabe, die inklusive Planung und Wiederaufbau fast zwanzig Jahre dauerte. Am 9. Juni 2013 wurde die Bachorgel eingeweiht, Fachleute loben ihren charaktervollen, satten Klang. In den Sommermonaten finden seither zahlreiche Konzerte des Hamburger Orgelsommers in St. Katharinen statt. Mittlerweile sind einige Konzerte, die hier aufgenommen wurden, auf CD erhältlich.

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Rekonstruktion einer berühmten Orgel: die Große Bachorgel in der St. Katharinen-Kirche

Zum Besuchen

Archäologisches Museum Hamburg

Museumsplatz 2, Tel.: 040-428713609, Di–So 10–17 Uhr
www.amh.de

Das sehenswerte Archäologische Museum der Stadt liegt in Harburg (siehe auch Seite 161). Vor allem für Kinder gibt es ein abwechslungsreiches Programm, bei dem Mitmachen ausdrücklich erwünscht ist. Die Erwachsenen erholen sich im schönen, gläsernen Museumscafé Helms Lounge.

Hauptkirche St. Katharinen

Katharinenkirchhof 1, Mo–Fr 10–17 Uhr, Sa–So 11–17 Uhr
www.katharinen-hamburg.de

Führungen für Gruppen (auch Turmführungen) sind vorab im Gemeindehaus anzumelden: Tel.: 040-30374730 oder E-Mail: kontakt@katharinen-hamburg.de.

Zum Genießen

Direkt in der Innenstadt und am Bahnhof gibt es jede Menge Restaurants für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel, darunter auch die Sterne-Restaurants Se7en Oceans am Ballindamm und das Haerlin am Jungfernstieg. Bei der Katharinenkirche sind empfehlenswert:

Restaurant Brook

Bei den Mühren 91, Tel.: 040-37503128
Mo–Sa 12–15 Uhr, 18–22.30 Uhr
www.restaurant-brook.de, vorab reservieren

Restaurant genau gegenüber der Speicherstadt, angenehmes Ambiente, sehr feine Küche, gute Weinkarte.

PURE Café

Grimm 15, Tel.: 040-30306858, Mo–Sa 9–17 Uhr
www.pure-hamburg.com