Aus dem Französischen von Nicola Denis.

Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Nous dînerons en français bei Galaade Éditions in Paris.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.

E-Book-Ausgabe 2016

© 2015 Galaade Éditions

© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Stefan Kästli, aufgenommen im Foyer des Sofia Hotel Balkan, A Luxury Collection Hotel, Bulgarien (2015). Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4193 4

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3277 2

http://www.wagenbach.de/

Zigeunermusik ist für mich wie ein Opium,

das ich bitter nötig habe.

Franz Liszt

Die ganze Arzneikunst wird also durch die Liebe regiert.

Ebenso aber auch die Gymnastik und der Landbau.

Platon, Das Gastmahl

Früher gab es das nicht, dass eine Regierung

ihre »Jasager« ausschalten musste.

Hannah Arendt

Die Bezeichnung »Zigeuner« ist in Bulgarien und Frankreich gebräuchlich. Ihre Verwendung in diesem Buch ist der Originaltreue geschuldet und eine Herabsetzung der betroffenen Gruppe in keiner Weise intendiert.

Für Vladimir

»Hat er denn wirklich Französisch gesprochen, und gut?

- Ja das hat er, glaube ich jedenfalls …«

Wie kann man etwas gleichzeitig überprüfen und glauben? Ich habe in dieser Sprache nie ein Wort mit ihm gewechselt. Dabei waren wir doch in Paris zu einem ersten Abendessen auf Französisch verabredet.

Immer noch dieselbe, die Musik läuft und läuft. Ich weiß nicht, wie ich sie anhalten soll. Der Klang setzt sich fest. Das glatte Meer hinter dem großen Glasfenster ist zu still, um ihn zu überdecken. Schon seit einer Weile verharrt ein kleines geflügeltes Insekt reglos auf der Scheibe. Ich hatte seine Landung registriert, während ich nach dem Ursprung des Klangs suchte. Allmählich löst sich der Umriss in einen dunklen Fleck auf, und ich weiß nicht mehr, ob er innen oder außen ist. Ich schließe das Fenster, der kleine schwarze Fleck ist nicht mehr zu sehen, der Klang jedoch hält an, dringt durch die Wände mit gleichmäßiger Frequenz und sickert in den ganzen Körper wie eine klangliche Ausdünstung.

Die Doppelakkorde von Beethovens Fünfter erklingen. Alle Streicher zusammen. Wie früher, ein verschwindend kurzer Augenblick, je nach Dirigent zwischen vier und acht Sekunden. Bei Karajan hatten wir sie gezählt, sechs Sekunden, eine Pause, und alles mischt sich. Trompeten, Oboen, Bratschen, Pauken fallen ein, lösen sich ab, verstummen. Dieselbe Musik, die Guéo in den alten Kassettenrekorder einlegte, die Reversetaste niedergedrückt. Das Tonband lief und übertönte die Geräusche, die wir machten. Unser Atmen, das Rascheln der Decken, meilenweit von Paris entfernt. Er streichelte mich, weil er mich anders nicht lieben konnte, wir waren nicht alleine im Zimmer. Ich kam, er erstrahlte in der Nacht, und Beethoven lief immer weiter. Wer nur dirigierte uns in diesen Nächten?

Sobald Guéo und ich verschwanden, schwand auch unsere Wachsamkeit und bewertete die verschiedenen Signale täglich anders. Das Dunkel wich dem schwachen Schein des Sichtbaren, Unterirdisches gelangte an die Erdoberfläche. Alles war hell, durchsichtig, es gab nichts zu überwachen, und gerade dieses Überwachungsvakuum rief nach permanenter Überwachung. Die Geheimdienste lagen auf der Lau er. Die von seiner Frau, der netten Tochter des Oberbefehlshabers der sowjetischen Streitkräfte, ausgesandten Russen; außerdem die Syrer, die Jemeniten, seine Kollegen aus dem Politbüro und bald auch die Freunde, die Reformer.

Manche Tage waren besonders kompliziert. In dem mit entgeisterten Parteimitgliedern überfüllten Kongresssaal wartete das Politbüro vergeblich auf Guéo. Er sollte sein Gut achten über die lebenswichtige Reform des Kommunismus vorlegen. Seit Monaten hatte er daran gearbeitet.

Am Vorabend der Präsentation war Guéo mit einem Exemplar des maschinengeschriebenen Schriftstücks zu mir gekommen. Er las es wieder und wieder. Er lief durch den kleinen Gang zwischen Küche und Schlafzimmer. Ich hörte seine Schritte. Er ging auf und ab, blieb manchmal stehen und atmete tief durch, bevor er noch schneller wieder loslief. Er steckte sich eine Zigarette nach der anderen an, hustete und fluchte, in Rage. Er war spät in der Nacht ins Bett gekommen, hatte im Dunklen nach seinen Schlaftabletten gesucht, etwas umgeworfen und mir dann, als er sah, dass ihm meine Blicke folgten, zugelächelt. »Das ist jetzt alles vorbei.«

Frühmorgens hatte er das Papier in die Innentasche seiner Jacke gesteckt. Ich musste zur Schule, aber die Klingel des Gymnasiums blieb ungehört. Aus meinen geraden Bahnen wurden Schlangenlinien. Jeder von uns hatte auf seine Weise ein merkwürdiges Gefühl, als wir uns an diesem Morgen voneinander verabschiedeten. Wir folgten unseren gewohnten Wegen, aber unterwegs änderten sie sich. Wir gingen unseren Pflichten nach, aber sie wirkten schon jetzt künstlich.

Draußen hatte ich das Gefühl, in einer Scheinwelt zu stehen. Der Tag begann wie immer, aber ich erkannte ihn nicht wieder. Auf der Straße in Richtung Schule wirkte alles verlogen. Ringsum Verkehrsgeräusche, ein unerträglicher Krach wie aus einer fernen Welt, in der mit Geschrei und Getöse jener Dämon vertrieben wurde, den man bei jeder Sonnenfinsternis verdächtigte, die Sonne anzugreifen.

Vor dem Gymnasium machte ich plötzlich kehrt. Eilig ging ich denselben Weg wieder zurück. Die Tasche über meiner Schulter war schwer und schnitt ein. Ich beugte mich vor, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, hüpfte, um die Last optimal zu verteilen. In der Tasche meine Schulbücher voll fälschungssicherer Theorien. Ich ging schneller, wollte dringend nach Hause. Ich fing an zu laufen, als hätte ich nicht genügend Zeit. Gerade rechtzeitig kam ich zum Haus, genau in dem Moment, als Guéo die Tür aufmachte.

Das Gutachten über die Erneuerung des Kommunismus blieb, innen in seine Jacke gerollt, im Flur. Ich warf meine Schultasche daneben. Wir lachten über unsere beiden Kehrtwendungen. Fanden wieder ein ruhiges und mögliches Hier.

Nackt ausgestreckt liegen wir da. Mit geschlossenen Augen spüre ich Guéos Atem auf meinem Gesicht. Er betrachtet meine Lider aus der Nähe. Er liest aus ihren Linien kleine geheime Nachrichten. Guéo hat seine Theorie dazu:

»Diese Linien sind dafür gedacht, dass jemand anders sie liest. Es sind die einzigen Linien des Körpers, die man selbst nicht sehen kann. Deshalb hat der liebe Gott uns zu zweit gemacht.«

Ich muss lachen.

»Lach nicht, ich meine das ernst. Die Augen des anderen müssen sich darüber beugen, um ihre Geheimnisse zu lesen, sonst wirst du nie wissen, was sie sagen.

- Und was sagen sie?

- Sie sagen, dass Seegrün wunderbar zu deinen Augen passt.

- …«

Ich spiele die Enttäuschte. Habe Spaß daran, kann stundenlang so turteln. Unsere Stimmen sind kaum hörbar, um den Augenblick nicht zu verscheuchen.

»Sie sagen auch …«

Er runzelt leicht die Stirn und atmet langsam den Zigarettenrauch aus. Er stellt meine Geduld auf die Probe, weiß, dass ich warte. Ich mag den Klang der Laute hinter den Dämpfern seiner Kehle.

»Ja …?

- Sie sagen, dass Vogelkinder unter ihren nassen Daunen winzige Körper haben.

- Aber warum sind sie nass?

- Der Regen hat sie mit nassem Wind abgeleckt.

- Und warum haben sie keinen Schutz gesucht?

- Weil sie zu gerne über das offene Meer fliegen würden.

- Warum fahren sie dann nicht aufs Meer hinaus?

- Sie können es nicht, aber hinter dem Regen sehen sie das Meer. Bei jedem herabfallenden Tropfen zählen sie die Wellen.«

Wie ein Analphabet bei seinen ersten Leseversuchen fährt er über die Linien meiner Augenlider. Dann wandern seine Fingerkuppen langsam bis zu meinem Hals hinab, zeichnen meinen Nacken nach, verweilen auf den Schultern, kehren zu meinem Mund zurück. Der Rauch seiner Zigarette steigt mir in die Nase. Ich rühre mich nicht. Er küsst mich mit seinen Lippen, mit seinen Händen lässt er mich kommen, sein Glied ist schlaff von den Antidepressiva, den Elektroschocks, vom Alkohol und der Verzweiflung. Er dreht mich auf den Bauch, streicht mir über den Rücken, überzieht mich mit Liebkosungen und überschüttet meine Haut mit sämtlichen Orpheus’schen Stimmen. Ich bin siebzehn, er über fünfundfünfzig.

Sie waren am nächsten Tag gekommen. Drei Männer, höflich und wortkarg.

Sie stellten sich vor, als ich die Tür aufmachte:

»Wir sollen hier etwas überprüfen.«

Sie streiften die Küchenregale, betraten dann das Schlaf zimmer und hoben die auf dem Boden und überall zwischen Bett und Fenstern verteilten Bücherstapel hoch. Ich hasse Bücherregale, diktatorisch in ihrer Aneinanderreihung verzerrter Schreie; Lebensgeschichten, aufgeräumt wie einfache Akten. Für mich unmöglich, ich kann sie nur auf dem Boden liegen lassen und in meinem Kopf stapeln, wie sie kommen.

Einer der drei Männer rührt gar nichts an. Er steht mir unverwandt gegenüber. Mit den Augen überfliegt er die Wände und die Titel mancher Bücher, die seine Kollegen geschickt hochheben und dann vorsichtig wieder an ihren Platz legen.

»Ihr Freund war gestern hier.«

Das ist keine Frage. Niemand erwartet Antworten von mir. Sie wollen nur etwas überprüfen. Offenbar bewegen sie sich auf unbekanntem Terrain, fühlen sich zudringlich. Es ist ihnen unangenehm.

»Wissen Sie, ob er ein maschinengeschriebenes Schriftstück dabei hatte?

- Ja, er hat einen Bericht verfasst, den er gestern vorstellen sollte.

- Hat er ihn bei Ihnen gelassen?

- Nein.

Der Mann, der nichts anrührt, hakt nach:

- Sind Sie sicher?

- Sehen Sie selbst nach, alles ist hier.

- Haben Sie dieses Schriftstück gelesen?

- Nein.

- Hat er Ihnen davon erzählt?

- Er hat davon gesprochen, ja, aber nur mit sich selbst, ich habe nicht verstanden, was er sagte.

- Wissen Sie, dass er gestern nicht zur Präsentation gekommen ist?

- Hingegangen ist er aber.

- Und dann im Laufe des Vormittags hierher zurückgekommen.

- Ja.

- Warum ist er zurückgekommen?

- Ich weiß nicht.

- Hatte er das Gutachten bei sich?

- Nein, ich glaube nicht.«

Die drei Männer sind gegangen. Alles ist still. Meine Schultasche steht seit dem Vortag im Flur. Es fällt mir auf, als ich die Tür hinter ihnen schließe. Ich verheddere mich mit dem Fuß im Schulterriemen und bücke mich automatisch, um die Tasche an die Garderobe zu hängen. Beim Hochheben werfe ich einen flüchtigen Blick hinein. »Das ist doch absurd«, denke ich. »Du wirst doch nicht auch noch damit anfangen …« Guéo hatte das Gutachten bei sich.

Für unseren ersten Sommer hatte ich eine freie Wohnung gefunden. Während der Ferien verließen die Eltern einer Schulfreundin für gewöhnlich Sofia, unsere Stadt. Meine Freundin hatte mir den Schlüssel gegeben und den Schwur abgenommen, dass ich keine Gäste haben würde und mich keiner der Nachbarn je zu Gesicht bekäme. Ich hatte den Mund zusammengepresst, um ein unfreiwilliges Lächeln zu unterdrücken, und geschworen. Guéo und ich würden dort eine merkwürdige abgekürzte Woche verbringen.

Ich verlasse die Wohnung nicht, brauche die Vorräte der Familie auf. Ich bereite unsere Mahlzeiten zu, und Guéo bringt gegen Abend das frische Brot mit wie ein treusorgender Mann.

Wir spielen sein Gedächtnisspiel. Auf ein Stück Papier schreiben wir Wörter, die uns einfallen. Unbewegliche Verben, gleichgültige Substantive, schmückende Adjektive, alle von einem geheimnisvollen Auftauchen diktiert. Zeitlose Wörter, die sich uns gerade so weit erschließen, dass unsere Gedächtnisse sie in eine Reihe bringen können. Bis zu hundert schreiben wir auf. Lesen sie uns gegenseitig laut vor, dann jeder für sich. Diese Wörter werden Obdach, löschen alles Übrige. Wir vergessen unsere von außen belauerten Leben. Guéos Gesicht spiegelt höchste Konzentration. Ein Junge, der um jeden Preis den Klang der einzelnen Silben erfassen will, sich an den Strichen der Buchstaben reibt, die Zeichen seiner ersten an der Donau vermittelten Leseübungen entziffert. Er speichert unsere Wörter mit einer enormen Wut im Gedächtnis, bis zu siebzig, achtzig kann er behalten. Mit Wodka gelingen ihm bis zu neunzig. Ich schaffe selten mehr als sechzig. So wachen wir bis spät, mit geröteten und zuversichtlichen Augen.

Guéo geht frühmorgens. Ich bleibe alleine in der Wohnung, die Gardinen zugezogen. Ich höre, wie draußen herumgeschlichen wird. Zuerst sind es die Agenten seiner Frau, der netten Generalstochter. Hinter der Gardine versteckt, horche ich auf ihre Schritte. Sie rauchen viel. Unter dem Fenster liegen zahllose Kippen, billiger Tabak, es sind keine hohen Tiere, nur Überwacher. Guéo und ich sprechen nicht darüber.

Am vierten Tag gibt es unten Unruhe. Guéo hat Schwierigkeiten, das Gebäude zu verlassen. Ich höre ihn rennen. Dieses Mal verschwindet er durch den Keller und hängt irgendwie die beiden Männer ab, die gekommen sind, uns zu vertreiben. Einer der beiden flucht lautstark. Sie sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Ich höre ihnen aufmerksam zu und versuche, das Ende der Sätze zu erraten. Ein kehliger, abfallender Klang, von kurzen hohen Tönen unterbrochen.

Spät in der Nacht kommt Guéo zurück, mit müden Augen, seine Hände zittern. Wir müssen schnell weg hier. Auf der elektrischen Herdplatte köchelt das letzte noch im Kühlschrank gefundene Gemüse. Zum ersten Mal stellt Guéo überall den Strom an. Bisher hatten wir nur Kerzen angezündet, unter einem Lampenschirm aus Plastik.

Die Wohnung der Eltern meiner Freundin hat nicht Feuer gefangen. Vom Geruch verkohlten Gemüses alarmiert, konnten die Nachbarn noch rechtzeitig die Tür aufbrechen. Monate später wurde bei Guéo ein Umschlag mit Fotos von jener Nacht unter der Tür durchgeschoben. Wir sind von hinten zu sehen. Es ist unmöglich, unsere Gesichter auszumachen. Man sieht seinen beigefarbenen Regenmantel und meine ungarischen Turnschuhe, mein Rock ist kaum zu erkennen.

Ich finde keinen der bei unseren Gedächtnisspielen vollgekritzelten Zettel wieder. Unsere aneinandergereihten Wörter sind verschwunden. Sie könnten etwas preisgeben. Bestimmt sind sie irgendwo, diese Wörter, aufgehäuft in einem vorläufigen Schweigen, in den Ausläufern einer Sprache der Liebe, die es nicht mehr gibt. Manchmal packt es mich, und ich picke mir irgendwo wahllos Wörter heraus. Ich erkenne keines wieder. Dabei bin ich mir sicher: Diese Wörter sind irgendwo verstreut, sie kommen wieder. Meine Güte, ja, es gibt sie! Aber sie sagen nichts mehr.

Ich weiß nicht wie, aber Guéo hatte herausgefunden, dass ich in einer Firma direkt gegenüber von meinem Gymnasium putzen ging. Jeden Abend verbrachte ich dort zwei Stunden in Gesellschaft dreier dicker reizender Großmütter. Die eine konnte die Zukunft aus den Karten lesen. Genauer gesagt las sie das, was uns bevorstand, denn das Wort »Zukunft« gibt es auf Bulgarisch nicht.

Eines Abends legte sie mir die Karten und sah mich lange an, bevor sie mit geheimnisvoller Stimme sagte: »Du wirst noch weit kommen …«

Welches Weit meinte sie? Wohl ihr ganz persönliches. Schwachsinn, dieses Weit! Es hat mich eingeholt, aber bestimmt nicht so, wie von ihr prophezeit.

Die Dame mit den Karten kümmert sich um die Direktionsbüros im sechsten Stock. Insgesamt hat das Gebäude sieben Stockwerke. Mir wurde das vierte zugeteilt, die Abteilung für Informatik. Pausenlos spucken gigantische Maschinen Papierrollen voller »Nullen« und »Einsen« aus. Hinter komplizierten Formeln antworten die Maschinen den Menschen »eins« oder »null«, Miniaturrepliken unserer »Jas« und »Neins«. Dazwischen verstecken sich die kleinen »Wenns«, Sesamwörter sämtlicher Möglichkeiten. So entdecke ich, wie sich das mehr oder weniger Unendliche in das geschlossene System zwischen »eins« und »null«, zwischen Zustimmung und Ablehnung, schleichen kann.

Was den Rest betrifft, sind die Angestellten auf meinem Stock sehr nachlässig. Sie öffnen nie die Fenster und scheren sich weder darum, in die Mülleimer zu zielen, noch die randvollen Aschenbecher zu leeren. Die Maschinen erhitzen die Luft, und jeden Abend wenn ich die Tür aufmache, reizt eine heimtückische Säure meine Augen. Die Nachtbeleuchtung taucht die leeren Büroräume in ein totes Licht. Allein die Wände sind noch lebendig: Zeichnungen, Fotos, mit Reißzwecken angeheftete Witze. Manchmal schreibe auch ich eine Nachricht. Ich lobe eine Zeichnung, beglückwünsche zu einer Geburt. Eines Abends reiße ich die Fenster weit auf und bin versucht, bevor ich mit dem Staubsaugen beginne, ein paar Vorschläge über die verschiedenen Nistarten zu notieren. Ich klebe einen mit dickem Filzstift beschriebenen Zettel an die Wand, der folgendermaßen endet: »Sogar in einem geschlossenen Raum ist es möglich, sein Nest zu bauen, wenn …« Am nächsten Tag hat ihn jemand mit bunten »wenn, wenn, wenn« umkreist, und ein anderer hat mit Kugelschreiber direkt daneben einen hochgereckten Finger gezeichnet. Ich komme immer erst, wenn die Angestellten schon gegangen sind, ohne je einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen, und habe doch schon Freunde und Feinde.

Das schmutzige Wasser aus den Eimern, in die die Putzlappen getaucht werden, kommt direkt auf die Straße. Es wird vor der Außentreppe ausgekippt. Das ist so üblich und für mich ein heikler Moment. Ich muss immer gründlich Ausschau halten, vermeiden, dass genau dann jemand vom Gymnasium vorbeikommt. In der Schule darf niemand Bescheid wissen. Im Winter wird es in der Kälte früh dunkel, sodass ich mich vermeintlich unsichtbar fühle. Die Scheinwerfer der Autos blenden mich, und ich bleibe konzentriert, um nicht auf einer Eisscholle auszurutschen. Womöglich hat Guéo mich einmal so gesehen, in meinem viel zu großen blauen Kittel.

Dabei war ich glücklich gegen Monatsende aufzuwachen, um in der Buchhaltung im siebten Stock mein Gehalt abzuholen. Ich verdiente mein Brot, meine kleine Freiheit.

Anfangs sagt Guéo nichts. Er betrachtet nur eingehend meine Hände. Dann beginnt er, komische Bemerkungen zu machen: »Die Schönheit einer Frau ist an ihren Händen abzulesen.« Oder: »Wenn Frauen verbraucht sind, haben sie keine Hände mehr.«

Ich kaufe mir Crèmes, reibe mir von morgens bis abends die Hände ein, sie sind sanfter als je zuvor.

Guéo unternimmt einen neuen Versuch:

»Ich wollte dich um achtzehn Uhr abholen, aber du warst noch nicht zurück, ich habe mir Sorgen gemacht …

- Ich war im Kino.«

Und ich erzähle ihm einen Film, den Freunde gesehen hatten.

Denkst du! Guéo, zärtlicher Guéo. Er, der jeden Moment wissen konnte, wo ich war und was ich tat … Eines Abends nimmt er mich, lachend und trinkend, fest in den Arm, küsst mir das Haar wie einem Kind und sagt: »Du hast richtig Schneid, Alba.«

Er ist der Einzige, wird auf immer der Einzige sein, der mich »Alba« nennt. An seine Kehle gepresst, höre ich die Bänder seiner Stimme, die von diesen vier Buchstaben zum Schwingen gebracht werden.

Die »ausgesprochen weibliche« Pistole mit bläulichen Perlmutteinlagen, die Guéo mir damals schenkte, habe ich auf bewahrt. Amüsiert hatte Guéo mir beigebracht, wie man schießt. Ich kann exakt den Abstand zwischen Visierlinie und Schussachse berechnen, ungefähr achtzehn Grad Abweichung mit Abwärtsneigung. Die Pistole ist winzig. Sie hat einen schwachen Rückstoß. Der Arm bleibt gerade, ohne Rückschlag in die Schulter, wenn man abdrückt.

Warum wollte Guéo, dass ich diese Pistole behalte? Würde ich sie jemals laden? Ich habe nie richtige Kugeln für dieses Gerät gehabt, wüsste noch nicht einmal, welche ich brauchte. Ich habe sie gerne bei mir. Einfach so, leer, friedlich, ein Gegenstand ohne Bestimmung. So wie Guéo sie mir mitgebracht hatte, in ein Stück grünen Satin eingeschlagen, drumherum eine rauhe Baumwollhülle aus Odessa, ein quadratisches Tuch, das die schkolniki1 benutzen, um ihre Füße zu umwickeln, bevor sie sich die Schuhe anziehen.

Das sind sie, die früheren Tage – aus- und wieder eingebürgert, mit den Bleiminenspuren einer merkwürdigen Epoche, die letzten Jahre des vertrockneten Kommunismus.

Die Kommunisten hatten Guéo auf der Straße aufgelesen, als er elf war. Auf dem Höhepunkt eines neuen Regimes, das zunehmend an Boden gewann und ungewohnte Befehle und erste Fünfjahrespläne einführte. Ein Mann hatte Guéo ins Gespräch verwickelt. Ihn gefragt, warum er nicht in der Schule sei, wo seine Eltern wohnten, ob er mit anderen gleichaltrigen Kindern in ein Sommerlager nach Serbien fahren wolle. Guéo hatte genickt, ohne genau zu verstehen, was von ihm erwartet wurde.

Im Lager angekommen, war er aufgefordert worden, die Kleider zu wechseln. Man bat ihn, den Anhänger mit dem kleinen Kreuz, den er um den Hals trug, abzulegen. Er hatte gezögert. War befragt worden:

»Wo hast du den denn gefunden?

- Der gehört meiner Tante.

- Wo arbeitet sie?

- Ich weiß nicht, sie ist meine ganze Familie.«

Man gab ihm ein kurzärmliges Hemd und eine dicke Hose. Er wurde beim Nachnamen gerufen, und in der Anonymität der alphabetischen Reihenfolge landete er in der letzten Reihe der Pioniere mit ihren von der Sonne des Đerdap geröteten Wangen.

Junge Leute, deren Schultern vom Baden in den Cazane-Schluchten gestählt sind. Abends sitzen sie im Gras. Sie bilden einen großen Kreis um das Lagerfeuer. Ein in Stücke gebrochener, in Alufolie gewickelter Gegenstand wird vorsichtig herumgereicht. Das Päckchen geht von Hand zu Hand. Kurze Wortwechsel und aufmerksame Blicke begleiten seinen Weg. Schweigend nimmt sich jeder ein Stück, bevor er das Päckchen dem Nachbarn aushändigt. Es wandert im Uhrzeigersinn weiter. Kommt ganz zerknittert bei Guéo an. Er nimmt es und greift sich, ohne zu zögern, ein Stück. Er betrachtet es einen Augenblick, wendet es in der Hand und steckt es, wie alle anderen, in den Mund. Er probiert sein erstes Stück Schokolade.

Das Stück klebt ihm bis heute am Gaumen. Jahrelang, ein ganzes, zufällig aufgelesenes Kinderleben. Dieser Geschmack treibt ihn zum Äußersten, bis zur UNO, nach Moskau, nach Odessa, nach Sofia, ins Kabinett des Staatschefs, an die Spitze der Botschaften von Damaskus und Hanoi, in die miesesten Abteilungen, die Homosexuelle und Prostituierte jagen. Selbst wenn er Schokolade auf dem Asphalt schmelzen sähe, würde er sie noch aufsammeln.

Im Sommerlager lernt er lesen und schreiben. Er schämt sich, als er begreift, dass seine Kameraden das schon vor Jahren getan haben, als er noch heimatlos durch die Straßen seiner Geburtsstadt Warna irrte, nachts von einer sogenannten Tante beherbergt.