Über Katharina Höftmann

Katharina Höftmann, geboren 1984 in Rostock, hat Psychologie und Deutsch-Jüdische Geschichte in Berlin studiert. Zurzeit lebt sie als freie Autorin und Journalistin in Tel Aviv und schreibt für deutsche und israelische Zeitungen. Sie veröffentlichte bisher »Guten Morgen, Tel Aviv – Geschichten aus dem Holy Land«.

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Die Sekretärin einer Sprachschule in Tel Aviv findet auf dem Hof eine weibliche Leiche, die mit einem Elektrokabel erdrosselt wurde. Die Tote wird von ihr als die Schülerin und Neueinwanderin Marina Koslovsky identifiziert. Assaf Rosenthal, neuer Kommissar bei der Tel Aviver Mordkommission und ehemaliger Armeeoffizier, beginnt zu ermitteln. Schnell konzentriert sich der Verdacht auf einen Afrikaner, der zuletzt mit der Toten gesehen worden ist. Doch dann stellt sich heraus, dass die Tote eine Prostituierte war – und plötzlich führen die Spuren zu den Zuhältern und Drogenbossen Tel Avivs.

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Katharina Höftmann

Die Letzte Sünde

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Katharina Höftmann

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Nachwort

Danksagung

Impressum

Für meinen Vater

Wie ein Siegel drücke ich mich dir aufs Herz,

ein Siegelreif bin ich dir um den Arm.

Denn gewaltsam wie der Tod ist die Liebe,

heftig wie die Unterwelt das Begehren.

Feuerstöße sind ihre Blitze, lodern von ihr her.

Nicht löschen mit allen Wassern,

nicht fluten mit allen Strömen,

kannst du die Liebe.

Das Hohelied Salomons (Lied der Lieder)

Prolog

Ruth Silberman war eine einfache, fromme Frau, die einfache, ereignislose Tage vor sich her schob. Seit zwanzig Jahren fuhr sie jeden Morgen um 7.30 Uhr zur Arbeit und um 16.30 Uhr wieder nach Hause in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe von Tel Aviv. Dann kümmerte sie sich um die Enkelkinder und kochte ihrem Mann Moshe das koschere Abendbrot, das er um Punkt sieben Uhr aß. Während Moshe schmatzend Reis und Hühnchen in sich hinein schaufelte, stand Ruth meist am Fenster und beobachtete die Nachbarn. Man kannte sich, und sie war sich sicher, dass die anderen auch dastanden und beobachteten. Wie sonst konnte man sich erklären, dass alle immer über alles so gut Bescheid wussten?

Ruth aß lieber erst dann, wenn Moshe fertig war. Seine Schmatzgeräusche verleideten ihr das Essen. Und da er ihre Musik nicht mochte – sie war ihm nicht fromm genug –, hatte sie keine andere Möglichkeit, den Geräuschen zu entgehen. Während sie aß, saß Moshe meistens in dem kleinen Wintergarten und las in der Bibel. Dann führte er das tägliche Abendgebet zu Ende, indem er das Schma Israel aufsagte.

An diesem Morgen, an dem es für Israel ungewöhnlich stark regnete, fühlte Ruth Silberman sich leicht fiebrig. Bereits seit zwei Wochen war es selbst für Dezember außergewöhnlich kalt in Tel Aviv. Fast jeden Tag kam literweise Wasser vom Himmel. Die Menschen im Norden und in Jerusalem wurden von den zuständigen Behörden nachdrücklich gewarnt, das Haus nicht ohne entsprechende Kleidung zu verlassen. Im Norden lagen die Temperaturen nachts sogar bei Minusgraden, auf dem Hermon hatte es heftig geschneit, und man hatte Angst, dass Menschen erfrieren würden. In diesem Land konnte man nicht mit Regen und Kälte umgehen. Auch Ruth war nicht besonders gut auf das nasskalte Wetter eingestellt. Wahrscheinlich hatte sie sich nicht warm genug angezogen, und so meinte sie zu fühlen, wie eine Erkältung langsam in ihr hochkroch. Als sie wegen ihrer schlimmer gewordenen Gliederschmerzen schwerfällig aus dem alten Toyota stieg, den sie vor der Sprachschule geparkt hatte, hörte es wie auf Befehl auf zu regnen. Sogar Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die schweren Wolken.

Ruth Silberman blieb einen Moment, mit dem Rücken an das Auto gelehnt, stehen. Den Kopf der Sonne zugewandt, schloss sie die Augen. Sie überlegte, was ihre Kinder und Enkelkinder wohl am Wochenende essen wollten und dass sie im Supermarkt noch Windeln für den jüngsten Nachwuchs ihres Sohnes Zvi kaufen musste, auf den sie manchmal aufpasste. Ja, die Sekretärin Ruth Silberman war eine einfache Frau. Unprätentiös, freundlich und ruhig. Früher hatte sie sich ein aufregenderes Leben erhofft. Als Jugendliche hatte sie davon geträumt, nach Europa oder in die USA zu fliegen und viele verschiedene Menschen kennenzulernen. Vielleicht als Krankenschwester zu arbeiten. Doch dann bekam sie ein Kind nach dem anderen, und mit jedem der zehn Kinder, die sie geboren hatte, verblasste der Traum vom Reisen ein wenig mehr. Sie hatte sich jedoch nie darüber beschwert. Bescheidenheit ist eine der wichtigsten Tugenden im Judentum.

Doch an diesem Tag hatte Gott etwas vor mit Ruth Silberman. Er schüttelte ihr Leben durch und warf sie aus ihrem alltäglichen Allerlei. Denn an diesem Tag fand Ruth Silberman, geborene Finkelstein, eine Leiche neben der Sprachschule. Als Ruth die Tote entdeckte, wusste sie, dass sie heute garantiert nicht pünktlich nach Hause kommen würde. Und darüber freute sie sich diebisch.

Kapitel 1

Der Wecker klingelte zum zweiten Mal. Assaf Rosenthal drückte auf die Taste, die das nervige Dröhnen in seinem Ohr stoppte. Dann drehte er sich noch einmal stöhnend um. Das Ganze wiederholte sich kurze Zeit später. Nach etlichem Dröhnen, Drücken, Stöhnen und Umdrehen quälte sich der Kommissar um zwanzig nach acht schließlich aus dem Bett. Seine Füße platschten auf die kalten Fliesen. Sein Kopf dröhnte. Er war erst um zwei Uhr morgens ins Bett gekommen. Angetrunken. Yaron und er hatten im »12« bei einigen Gläsern Bier über Frauen und die Zeit beim Militär geredet. Es waren mindestens zwei Bier zu viel gewesen. Und dann noch die vielen Joints bei Yaron auf der Terrasse. Nun rächte es sich – Assaf hatte einen schweren Kopf. Er musste an Hanna denken, mit der er das letzte Mal, als er richtig viel getrunken hatte, zusammen gewesen war. Das war ja jetzt erst einmal vorbei. Ginge es nach seiner Mutter, waren die Zeiten, in denen er viel trank und feierte, sowieso vorbei. Sein fünfunddreißigster Geburtstag lag vor ihm. »Werde endlich erwachsen, Abale«, pflegte sie ihm immer häufiger zu sagen und meinte damit: »Finde endlich eine Frau und heirate und schenk mir Enkelkinder.«

Assaf machte sich einen Kaffee und setzte sich, um richtig wach zu werden, auf die Terrasse. Der Plastikstuhl knirschte gefährlich unter ihm. Scheiß-Türkenware, schoss es ihm durch den Kopf. Eigentlich hatte er die Stühle nicht kaufen wollen. Made in Turkey. Das waren jetzt Feinde. Aber bei hundert Schekel für vier Stühle konnte man seine Prinzipien schon mal außer Acht lassen. Obwohl er erst seit zwei Monaten in dem Apartment wohnte, hatte er bereits alles komplett eingerichtet. Seine Brüder hatten ihn mit verschiedenen Möbeln ausgestattet, die sie selbst nicht mehr gebrauchen konnten. Den Rest hatte er auf dem Flohmarkt in Jaffa erstanden. Die Frauen, die er gelegentlich mitbrachte, mochten es. »Eklektischer Style«, hatte eine neulich gehaucht, bevor er ihr den BH gekonnt mit einer Hand, ohne hinzuschauen, aufgeschnippt hatte.

Der Zeiger der Uhr im Wohnzimmer bewegte sich auf halb neun zu. Um neun hätte er eigentlich im Büro sein müssen – das würde wieder nichts werden. Ohne Frühstück konnte er unmöglich das Haus verlassen. Wer wusste schon, wie der Tag werden würde und wann er das nächste Mal etwas zwischen die Zähne bekäme. Immerhin regnete es nicht mehr, er konnte also mit dem Roller fahren. Natürlich könnte er als Kommissar auch einen Dienstwagen bekommen, aber bisher hatte er dieses Privileg noch nicht in Anspruch genommen. Die Straßen in Tel Aviv waren sowieso ständig verstopft, überall stockte und staute es, und ungeduldige Israelis hupten wie im Wahn. Der öffentliche Nahverkehr in Tel Aviv war für den ansonsten sehr umweltbewussten Assaf auch keine Alternative. Er verstand nicht, welche der tausend Busse wohin fuhren. Die ausgeblichenen Pläne, die auch nur an manchen Haltestellen an verrosteten Pfählen hingen, waren verwirrend und halfen niemandem. Blaue und rote Linien schienen wie in einem Labyrinth-Spiel aus dem Kreuzworträtselmagazin ins Nichts zu verlaufen. Endstationen waren auch nicht ausgeschrieben. Selbst wenn man den Namen der Station kannte, wusste man nicht, wann der Bus dort hielt. Der Busfahrer war ebenfalls keine Hilfe; Anzeigen gab es nur in den wenigen neueren Bussen. Und an den Haltestellen selbst hingen zwar allerlei Werbeplakate, halbnackte Frauen oder Bilderbuchfamilien, aber bestimmt keine Schilder mit Namensbezeichnungen. Kurzum: Als Assaf vor kurzem nach Tel Aviv gezogen war, hatte er sich sofort einen Roller zugelegt.

Assaf zerhackte schnell ein paar Zwiebeln und frische Petersilie und warf das Ganze zusammen mit ein paar Eiern in die Pfanne. Anschließend stopfte er das Omelette mit etwas Salat und Tomaten in eine Pita. Danach ließ er sich gebeugt auf den Teppich im Flur nieder. Wie ein Reptil schob er seinen Oberkörper nach vorne, um kurze Zeit später seine Arme von sich zu strecken, während sein Hinterteil in die Höhe schnellte. Er atmete tief durch die Nase ein und aus. Die Bewegungen wiederholte er mehrmals, bevor er schließlich, mit wie zum Gebet gefalteten Händen, kerzengrade im Flur stehend, die Prozedur beendete. Guten Morgen, Sonnengruß. Assaf verbog sich mit täglicher Regelmäßigkeit, in der Hoffnung, dass ihm die Verrenkungen Energie für den Tag geben würden. Gegen Kater half es bestimmt auch.

Um kurz nach neun schloss Assaf endlich die Tür seiner Wohnung im zweiten Stock ab und lief die Treppe hinunter. Ein paar Streicheleinheiten für die Katze, die jeden Morgen an seinem Roller wartete und die er manchmal fütterte, dann düste er los Richtung Süden der Stadt. Morgen für Morgen entlang der Strandpromenade. Diese quoll um die Zeit bereits vor Menschen über. Radfahrer und Mädchen, die dachten, dass sie vom schnellen Gehen abnehmen würden, huschten über das gemusterte Pflaster. Ab und zu war auch mal eine dabei, die den Sport gar nicht nötig hatte und wahrscheinlich nur ihr knackiges Hinterteil in den engen Leggins präsentieren wollte. Das sollte ihm recht sein. Doch für mehr blieb ihm jetzt keine Zeit, er steuerte den Roller Richtung Jaffa. Zum Polizeihauptquartier. Seit kurzer Zeit sein Arbeitsplatz. In den letzten Wochen eher Platz als Arbeit, denn viele ereignislose Tage lagen hinter ihm. Nicht, dass in der Stadt nicht gemordet wurde, aber Wieler, der alte Pitbull, hatte ihn an den Schreibtisch verbannt und ihm täglich eingebläut, sich erst einmal gründlich einzuarbeiten. Ein-zu-ar-bei-ten. Assaf hatte aus dem gegebenen Respekt heraus emsig dicke Aktenordner gewälzt und staubige Papierberge durchgewühlt. Er war eigentlich nur wegen Chaim Wieler hier. Der Pitbull war sein Befehlshaber bei der Offiziersausbildung gewesen und hatte ihn von Anfang an unter seine Fittiche genommen. Assaf wusste nicht genau, warum, er und Wieler waren grundverschieden. Wieler hatte ihm mal gesagt, dass es genau das war, was er an ihm schätzte. Assaf verkörpere für ihn den neuen Typ Kommissar. Den modernen Kommissar. Assaf lachte, und sein Motorradvisier beschlug leicht. Viele seiner Freunde fanden seine Ansichten antiquiert. Wie er über die Araber dachte zum Beispiel, auch seinen flammenden Patriotismus fanden sie nicht zeitgemäß. Aber darüber sprach er in seinem beruflichen Umfeld kaum. Als Wieler dann Direktor bei der Polizei in Tel Aviv geworden war, hatte er Assaf angerufen und ihm angekündigt, dass er ihn bald nachholen würde. »Rosenthal, dann kommst du endlich aus deinem Scheiß-Gaza weg. Tel Aviv! Das passt zu dir! Die modernste Stadt Israels!«

Im Präsidium war man nicht begeistert. Assaf hatte bisher als kommandierender Offizier an der Grenze gearbeitet, das Land vor Eindringlingen geschützt und Terroristen der Hamas festgenommen, inklusive Spezialeinsätze, über die er mit niemandem sprechen durfte. Sie nannten ihn den Soldatenkommissar. Natürlich nur hinter seinem Rücken, ins Gesicht hätte ihm das keiner gesagt. Dafür hatten sie doch zu viel Respekt. Gaza und Pitbull, das war eine beeindruckende Kombination, trotz allem. Assaf war sich sicher, dass er diese Abneigung gegen ihn bald neutralisieren würde. Er konnte Menschen sehr gut für sich einnehmen. Das war eine seiner größten Stärken.

Bevor er in den weißen Gebäudekomplex verschwand, schloss Assaf seinen Roller ab. Er überprüfte die Klemme an den Bremsen und legte ein riesiges Kettenschloss fast zärtlich um den weißen Plastikkörper herum. Dann sicherte er den Roller mit einem weiteren Schloss, das er außerdem mit einem Laternenpfahl verband. Der Kommissar war überzeugt, dass man nicht einmal auf dem Polizeigelände sicher war vor Dieben und schon gar nicht hier in Jaffa, wo sich afrikanische Flüchtlinge und junge arbeitslose Araber aus Langeweile und auf der Suche nach Kupfer, Eisen und alten Möbeln herumtrieben. Er betrat das Gebäude, begrüßte den Sicherheitsmann am Eingang mit einem freundlichen »Boker tov«, zeigte seinen Ausweis – nicht jeder Sicherheitsmann kannte ihn schon – und lief entspannt die drei Stockwerke zu seinem Büro hinauf. Auf die fünf Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.

Itzik Nakash und Yossi Hag saßen bereits an ihren Plätzen. Sie waren beide Polizeihauptmeister und ihm damit untergeordnet. Assaf fand sie beide recht sympathisch. Mit Yossi, dem jüngeren, der nur ein wenig älter als er selbst war, hatte er sich von Anfang an besonders gut verstanden, da sie gemeinsame Interessen und einen ähnlichen Humor hatten. Er war außerdem viel engagierter als Itzik. Der schien in Gedanken schon in Rente zu sein. Assaf hatte das Gefühl, dass Itzik nur noch seine Zeit absaß, bis er endlich seinen 67. Geburtstag feiern konnte. Er rief den beiden Männern »Boker tov« zu und versprach Yossi, gleich einmal vorbeizukommen. Direkt im Büro neben ihm saß Zipi Meier. Die Sekretärin hatte wieder einmal ganz tief in die Trickkiste ihrer Kleiderkammer gegriffen. Assaf schätzte sie auf Ende fünfzig. Sie saß in einem engen weißen Top da, die üppigen Brüste nach oben gequetscht. An den Schultern hatte der Stofffetzen Löcher, die ihr nicht mehr ganz frisches, leicht hängendes Fleisch betonten. Assaf lächelte ihr freundlich zu, nett war sie und lustig. Dann öffnete er seine Bürotür, ein eigenes Büro, und fuhr den zugegebenermaßen uralten Computer hoch. Er checkte schnell News und E-Mails. Hanna hatte geschrieben. Sie schickte ihm den Link zu einem Restaurant, das vor kurzem in Berlin eröffnet hatte. Dazu hatte sie sechs Wörter in die E-Mail getippt: »Du und ich? In Berlin? Bald?« Assaf würde ja gerne zu ihr fahren, aber hier konnte er erst einmal keinen Urlaub nehmen. In diesem Moment erschien der Name Wieler auf seiner Telefonanlage: Er wurde zum Chef beordert.

Chaim Wieler hockte keuchend unter dem Schreibtisch, als Assaf sein Büro betrat.

»Guten Morgen«, grüßte der Kommissar und beugte sich ebenfalls unter den mit Akten bepackten Holztisch.

»Boker tov, Rosenthal«, schnaufte Wieler zurück.

Assaf war erstaunt, dass der beleibte Mann überhaupt unter den Schreibtisch kriechen konnte. Mit seinem dicken Bauch und der Glatze wirkte Wieler auf ihn wie das Fleisch gewordene Michelin-Männchen. Kaum vorstellbar, dass derselbe Mann einst die körperlich ausgesprochen harte Grundwehrausbildung absolviert hatte. Assaf wusste, dass Wielers behäbiges Aussehen täuschte. Wenn er den Mund aufmachte, wurde er zum Pitbull: schnell, brutal, sich festbeißend. Wieler war berühmt-berüchtigt; vor allem die jungen Soldaten hatten Angst vor seiner erbarmungslosen Art. Assaf schätzte ihn trotzdem, denn so hart wie Wieler auch mit ihnen ins Gericht ging, so fair war er dabei.

»Was machst du denn da unter dem Tisch?«, fragte Assaf seinen im Gesicht rot angelaufenen Chef.

»Ach, diese technische Ausrüstung hier ist chara – Scheiße. Der blöde PC stürzt mir ständig ab. Jetzt habe ich gerade … Ach, auch egal. Sollen sich die aus der IT drum kümmern. Die Deppen sitzen eh nur blöd rum, während wir hier Mord und Totschlag an den Hacken haben. Setz dich, Rosenthal.« Mit einer unglaublichen Behäbigkeit richtete sich Wieler auf. Fast genauso lang schien er danach zu brauchen, um die richtige Position in dem unter ihm verschwindenden Bürostuhl zu finden. »Hör zu, Rosenthal. In Neve Zedek wurde eine Leiche gefunden. Weiblich. Du wirst den Fall übernehmen.«

Assaf schaute Wieler gleichermaßen überrascht wie erfreut an. Endlich Schluss mit dem Aktenwälzen, endlich Schluss mit dem Herumsitzen.

Als könnte Wieler seine Gedanken lesen, fügte er hinzu: »Ich weiß. Ich habe dir gesagt, du sollst dich noch besser ein-ar-bei-ten, bevor ich dich an deinen ersten Fall lasse. Aber scheiß der Hund drauf. Entweder du kannst es oder nicht. Wir zeigen den Nörgelfritzen auf dem Revier, wo es langgeht. Du zeigst, was du drauf hast. Und dass du nicht nur so ein Soldatenkommissar bist, für den dich hier alle halten. Und wenn du es verkackst, dann wissen wir wenigstens, dass du es nicht kannst. Dann schicke ich dich zurück nach Gaza zu den Arabern.« Wieler lachte brüllend.

Assaf schwieg zur letzten Bemerkung. Wieler brauchte das Gefühl, klüger, besser und stärker zu sein. »Worum geht es überhaupt?«, fragte er stattdessen.

»Rosenthal, auf den Punkt wie immer. Heute Morgen hat die Sekretärin der Sprachschule Ulpan in Neve Zedek eine Frauenleiche gefunden.«

»Heute Morgen? Wann genau?«

»Ich weiß es nicht. Aber die Kollegin Cohen ist schon vor Ort. Lass dich von ihr auf den aktuellen Stand bringen. Und dann kannst du ihr auch gleich verklickern, dass sie vom Fall abgezogen ist. Ich konnte sie telefonisch nicht erreichen, um ihr das selbst mitzuteilen.«

»Na joffi. Das ist ja ’ne Spitzenidee. Die wird sich freuen. Und ich bin der Arsch. Warum hast du mir nicht gleich Bescheid gesagt? Ich nehme doch der Kollegin nicht den Fall weg.«

»Rosenthal, jetzt sei kein Weichei. Die Gute wird es überleben, die hat genug andere Sachen zu tun. Ich werde sie schon beschäftigen. Du musst mehr Biss haben, Rosenthal. Keine Rücksicht. Nur den Fall im Blick.«

Assaf rollte mit den Augen. Wieler ignorierte es, oder hatte er es überhaupt gesehen?

»Weißt du, wo der Ulpan ist?«, fragte Wieler nach. »In der Lilienblum-Straße.«

Assaf nickte skeptisch. Das gefiel ihm gar nicht. Er hatte sowieso schon das Gefühl, dass Anat Cohen ihn als Rivalen Nummer Eins ansah. Und jetzt das. Die wird ausflippen. Doch Wieler hatte entschieden, und anstatt mit ihm eine fruchtlose Diskussion anzufangen, fragte er ihn nur, wen er von den Polizeihauptmeistern zur Verstärkung mitnehmen konnte.

»Nimm, wen du willst. Ich lass dir freie Hand. Aber halt mich auf dem Laufenden«, japste Wieler, während er sich wieder unter den Schreibtisch quälte. Ende der Durchsage.

Als Assaf die Tür zu Wielers Büro schließen wollte, brüllte ihm sein Chef noch hinterher: »Und Assaf – ich verlass mich auf dich!«

Assaf lief die Treppe zu seinem Büro hinunter, und neben der Skepsis kam jetzt doch auch ein Gefühl der Spannung und Freude auf. Er hatte endlich seinen ersten eigenen Fall bekommen. Assaf entschied, Yossi Hag mitzunehmen. Er brauchte jemanden an seiner Seite, dem er vertrauen konnte.

Wenige Minuten später saßen die beiden Männer im Polizeiwagen. Der Kommissar auf dem Beifahrersitz schob sich das letzte Stück Pita in den Mund, während er bereits überlegte, was er wohl zum Mittag essen könnte. Immer dieser Hunger. Schon als Kind hatte er es nie länger als zwei Stunden, ohne etwas zu essen, ausgehalten. Bei Yossi im Auto lief Musik von Chaim Moshe. Ein mittlerweile uralter jemenitisch-israelischer Sänger, der in seinen kitschigen Liedern über all die verlorene Liebe und das schwere Leben im Allgemeinen klagte. Assaf mochte diese orientalische Musik und das alte Hochhebräisch, in dem die Lieder gesungen wurden. Heute sprach ja niemand mehr so. Schon gar nicht in seinem Alter. Alle sprachen Straßenhebräisch. Slang. Mit seinen Freunden, besonders denen, die er schon seit Kindertagen kannte und die überwiegend immer noch im Heimatort lebten, sprach Assaf nur in verschlungenen Codewörtern. Sie hatten Begriffe entwickelt wie Schartukot oder Schvekot. Bezeichnungen für Frauen. Schartukot waren diejenigen, die leicht zu haben waren. Schvekot waren die Gutaussehenden. Der Rest des Landes nannte sie Kusit. Dieses umgangssprachliche Wort für attraktive Frauen wurde jetzt sogar in die Wörterbücher aufgenommen. Assaf dachte an seine Kollegin Anat Cohen. Sie war auf jeden Fall eine Kusit. Anat hatte mittellange braune Haare, die sie nie offen trug. Sie war relativ groß für eine israelische Frau, mindestens ein Meter fünfundsiebzig, schlank, und ihr Gesicht war schön und ebenmäßig. Seitdem Assaf sie das erste Mal im Präsidium getroffen hatte, wollte er mit ihr ausgehen. Sie war bisher allerdings resistent gegen seinen Charme gewesen, der Ehrgeiz zerfraß sie und war das Einzige, was sie hässlich machte. Sie war so alt wie er, musste aber langsamer Karriere gemacht haben, denn immerhin hatte er ein Jahr länger Wehrpflicht abgeleistet und trug jetzt den gleichen Titel wie sie. Sie wollte schnellstmöglich zur Oberkommissarin befördert werden. Den Titel bekam jedoch in der Regel nur einer aus der Abteilung pro Jahr. Das wusste Assaf von Zipi. Wieler hatte ihm gesagt, dass er sich nicht allzu dumm anstellen solle, dann wäre er bald Oberkommissar. Oberkommissar – verdient hatte er diesen Titel. Immerhin hat er in den letzten Jahren an der Grenze und in Gaza sein Leben riskiert. Dort in der scheißstaubigen Wüste. Er war auch dabei gewesen, als 2005 die Siedler aus Gaza evakuiert wurden. Damals hatte die ganze Welt, inklusive der ihm verhassten UN, Israel für diese Entscheidung gelobt. Assaf und seine Kollegen hatten den anderen Soldaten bei der Räumung von Tausenden Siedlerwohnungen den Rücken freihalten müssen. Nicht wenige hatten Steine nach ihnen geworfen. Manche hatte man, Steine werfend, mit Kafiya im Gesicht, kaum von den Palästinensern unterscheiden können. Man hatte sie als Verräter beschimpft. Kämpfer im Bruderkrieg. Juden gegen Juden. Israelis gegen Israelis. Aber noch viel gefährlicher waren die Terroristen gewesen, die versucht hatten, sich an den Grenzen in die Luft zu jagen, oder von irgendwelchen Dächern wahllos auf die Grenze geschossen hatten. Manchmal waren sie auch mit Panzerfäusten auf Eselskarren angaloppiert. Oder sie hatten diese armen Viecher, beladen mit Bombengürteln, losgeschickt, damit sie dann den Soldaten um die Ohren flogen. Und dann waren da ja noch all die Einsätze, die sie gemeinsam mit der Spezialeinheit JAMAM durchgeführt hatten. Dabei hatten Assaf und seine Leute regelmäßig in der Höhle des Löwen ihr Leben riskiert. Dagegen ging es bei der Mordkommission geradezu entspannt zu.

Yossi bog in die Herzl-Straße ein. In Tel Aviv wussten die meisten Leute nicht, was im Süden des Landes, nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, so vor sich ging. Assaf glaubte, dass die meisten es auch gar nicht wissen wollten. Sie waren glücklich in ihrer Blase. Selbst wenn Raketen auf Kindergärten nur zwanzig Kilometer vor der Stadt abgeschossen wurden, pflegten die Hedonisten ihre aus Europa abgekupferte Café-Kultur, hockte die Bohème auf Designerstühlen und aß ihr obligatorisches Schabbat-Frühstück. Assaf bezeichnete sie schon mal abfällig als Drückeberger und Linke. Andererseits fand auch er, dass man in Tel Aviv am besten leben konnte. Und die schönsten Frauen gab es hier, das konnte man nicht leugnen.

Yossi riss ihn aus seinen Gedanken, als er den Polizei-Skoda auf dem Bürgersteig vor einem verfallenen Gebäude parkte.

»Hier ist der Ulpan?«, fragte Assaf und blickte verdutzt auf die Ruine vor ihnen.

»Ja. Also dahinter. Die Sprachschule ist ein wenig nach hinten versetzt. Wir müssen hier rein.«

Assaf folgte Yossi in den schmalen Weg, den die Büsche, immer höher wachsend, von beiden Seiten bedrängten. Der Kollege hatte bereits eine kahle Stelle auf dem Hinterkopf. Um den nackten Fleck herum standen einzelne, zum Teil ergraute Haare einsam und verloren herum.

Dann entdeckte er Liat Schapira. Die Rechtsmedizinerin stand an einer Bank und rauchte eine Zigarette. »Rosenthal!«, rief sie überrascht. »Was machst du denn hier? Anat ist doch schon da. Macht ihr jetzt einen auf Super-Bullen-Dream-Team?«

»Nee, nicht wirklich. Ich übernehme den Fall. Was ist hier passiert?«

»Walla! Pass auf, die Sekretärin hat heute Morgen in der Ruine nebenan, also am Eingang zum Bauzaun, eine tote Frau gefunden. Soweit ich weiß, hat sie sie auch bereits identifiziert. Die Spurensicherung ist schon alles abgelaufen. Haben aber nicht viel gefunden. Außer dem Elektrokabel, das wohl verantwortlich ist für den Tod der Schönheit.«

»Schönheit?«

»Ja, eine junge Frau. Sieht ziemlich gut aus.«

»Na, wenn du das sagst, du bist die Expertin.« Liat Schapira war lesbisch und ging damit ziemlich offen um. Assaf kannte sie auch privat, sozusagen aus dem Nachtleben. Ihre Freundin führte ein Restaurant, das er und seine Kumpels für sich entdeckt hatten. Der Laden, bekannt für sein lesbisches Team, war immer voller schöner Frauen.

Yossi steuerte auf den Bauzaun zu, den Fundort der Leiche. Assaf folgte ihm. Liat kam ihnen langsam nach, während sie hastig die letzten Züge ihrer Marlboro inhalierte. Der kleine Vorgarten der Sprachschule grenzte direkt an den Bauzaun, hinter dem das Nachbargebäude, einst bestimmt imposant, nun langsam verfiel. Links dahinter lag ein Parkplatz, an dessen Ende ein kleines Wärterhäuschen stand. Assaf war sich nicht sicher, ob der Parkplatz die ganze Nacht geöffnet hatte, vielleicht hatte der Wachdienst etwas beobachtet. Hinter dem Bauzaun, der an einer ungefähr zwei Meter breiten Stelle unterbrochen war, schimmerte etwas Rotes. Einen Schritt weiter, und Assaf erkannte, dass es sich dabei um Stiefel handelte. Rote Stiefel. Sie gehörten zu scheinbar endlos langen schlanken Beinen, die in einer gemusterten schwarzen Strumpfhose steckten. Ein bisschen verdreht lag sie da. Der Regen hatte Erde und Matsch auf ihren Körper gespült. Trotzdem konnte man noch erkennen, dass es sich bei der Toten um eine Schönheit wie aus einem Modemagazin handelte. Die mittelblonden Haare bedeckten zur Hälfte ihr ebenmäßiges Gesicht.

»Oiwawoi«, entfuhr es neben ihm Yossi.

Liat drückte sich von hinten zwischen die beiden Männer, während sie ihre Latexhandschuhe überzog. »Na. Hab nicht übertrieben, was? Das absolute Engelsgesicht.«

Wie die Tote so dalag, ruhig, schön, aber völlig fehl am Platz neben kleinen Pfützen, musste Assaf schwer schlucken. Zumindest solche Anblicke waren ihm bei der Grenzpolizei erspart geblieben. Er schätzte das Mädchen auf zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre. Vielleicht sogar jünger. Assaf hatte noch nie eine weibliche Leiche gesehen. Die verhüllten Selbstmordattentäterinnen, die sie unschädlich machen konnten, einmal ausgenommen, aber bei all den Klamottenschichten konnte man ohnehin kaum feststellen, ob es sich um Mann oder Frau gehandelt hatte.

»Seht ihr, hier«, unterbrach Liat sein Grübeln, »am Hals ist eine deutliche Einschnürung zu erkennen. Ziemlich sicher von dem Elektrokabel. Der Mordwaffe. Die Fingernägel sind eingerissen, sie hat Verletzungen in den Handinnenflächen sowie einige Hämatome, die ich schon am Unterarm sehen konnte. Sieht aus, als hätte sie sich gewehrt, bevor ihr die Luft ausging.«

Assaf starrte wie gebannt auf das Gesicht der Toten.

»Kannst du schon ungefähr sagen, wann der Tod eingetreten ist?«, fragte Yossi neben ihm routiniert. Sein Kollege hatte früher bei der Sitte gearbeitet und sah nicht zum ersten Mal eine tote Frau.

»Yossi, du weißt, ich gebe am Tatort ungern voreilige Prognosen ab. Aber schätzungsweise gestern Abend. Nicht allzu spät. Genaueres gibt es nach der Obduktion. Muss mich jetzt mal auf den Weg machen. Bin ja schon eine Weile hier. Ihr habt Glück gehabt, dass der Leichenwagen das Mädel noch nicht abtransportiert hat. Ihr seid ein bisschen spät dran.«

»Fotos wurden gemacht?«, fragte Assaf, während er versuchte, sich zu beherrschen und seine schwitzenden, leicht zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen.

»Ja, klar. Die Spurensicherung war ja auch schon längst da. Schlomo hat das alles erledigt.«

»Danke, Liat. Ich melde mich dann später bei dir. Ach, wo ist eigentlich Anat?«

Die Rechtsmedizinerin grinste ihn frech an. »Anati wird nicht begeistert sein, wenn du ihr den Fall wegschnappst … Sie ist drinnen und spricht mit der Sekretärin. Viel Glück, Rosenthal.« Liat nahm ihren Koffer und gab den Leichenträgern ein Zeichen, die Tote auf die Trage zu heben.

»Ist sie Jüdin?«, fragte einer der Männer.

»Kein Ahnung, Mann, steht den Leuten ja nicht auf der Stirn. Und ihren Stern hatte sie wohl nicht dabei«, gab Liat pampig zurück. »In jedem Fall bringt ihr sie mir erst einmal in die Rechtsmedizin. Auf meinem Tisch ist es egal, ob ich eine Schickse oder eine Orthodoxe aufschneide. Und was ihr danach mit ihr macht, werden wir dann sehen.« Mit einem zischenden Laut drehte sie sich um und hastete den kleinen Weg mit großen Schritten zur Straße entlang.

Assaf sah ihr kurz nach und sagte dann, an seinen Kollegen gewandt: »Yossi, schau doch bitte mal in dem Parkplatzhäuschen nach, ob da jemand sitzt, und frag, wer gestern Abend Schicht hatte. Ich rede in der Zwischenzeit mit Anat Cohen.«

»Na, dann viel Glück und bis gleich«, antwortete Yossi ihm aufmunternd.

Die bunkerartige Tür zum Gebäude ließ sich nur schwer öffnen. Neben dem Eingang hing ein weißes Plastikschild, auf dem in lateinischen und hebräischen Buchstaben »Ulpan Yehuda« stand. Die kyrillischen Buchstaben konnte Assaf nicht entziffern, nahm aber an, dass sie das Gleiche aussagten. Die Ulpanim waren seit jeher ein wesentlicher Bestandteil bei der Integration der Einwanderer in die israelische Gesellschaft. Alle jüdischen Einwanderer, die sogenannten Olim, bekamen vom Staat ein Jahr kostenlosen Intensiv-Sprachunterricht. Die Neuankömmlinge sollten schnell die Sprache lernen und einen Job finden. Gleichzeitig brachte man ihnen in den Kursen die wesentlichen kulturellen Besonderheiten der israelischen Gesellschaft bei, auch Feiertage wurden erklärt. Mittlerweile gab es in Israel eine Menge nicht-jüdischer Einwanderer, vor allem hier in Tel Aviv, einer Stadt, die weltweit immer beliebter bei jungen Leuten wurde.

Als Assaf den langen, weiß gefliesten Gang betrat, von dem die einzelnen Klassenräume symmetrisch abgingen, entdeckte er Anat Cohen sofort. Sie sah besser aus, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Ihre braunen Haare waren hochgesteckt, und sie trug eine enge schwarze Jeans, die ihre schönen Beine betonte. Liat hatte ihm erzählt, dass Anats Mutter aus Island nach Israel eingewandert war. Von ihr hatte sie bestimmt die eisblauen Augen geerbt. Anats hübsches, blasses Gesicht verzog sich allerdings schnell, als sie Assaf erblickte.

»Was willst du denn hier?«, schnauzte sie ihn schon von weitem an.

»Anat, schön, dich zu sehen. Ich muss mit dir sprechen«, antwortete er freundlich, ungerührt von ihrem schroffen Ton.

»Assaf, was willst du hier? Das ist mein Fall.«

»Darum geht es. Wieler hat zig Mal versucht, dich anzurufen.«

»Nu? Ich habe mein Handy wohl nicht gehört. Immerhin stecke ich hier gerade mitten in einer Ermittlung.«

»Wie dem auch sei. Er wollte dir mitteilen, dass ich den Fall übernehmen soll. Tut mir leid, dass ich da jetzt bei dir so reinplatze.«

»What the fuck! Assaf, was soll das? Das ist mein Fall!« Ihre tiefe Stimme überschlug sich förmlich.

»Anat, wie gesagt, ich kann da auch nichts für. Kläre das bitte mit Wieler. Mir ist die Sache auch unangenehm.«

Anat schnaufte ihm verächtlich ins Gesicht. »Eh, ich kann nicht glauben, dass du mir hier den Fall wegnehmen willst. Das ist das Allerletzte, du Kollegenschwein.«

»Jetzt beruhige dich. Ich habe Wieler gesagt, dass ich das nicht in Ordnung finde. Aber ich habe bisher noch gar keinen Fall bearbeitet, und Wieler meinte, du hättest ohnehin mehr zu tun und müsstest entlastet werden.«

»Oh. Na, dann vielen Dank, ihr umsichtigen Männer, dass ihr die arme kleine Frau entlastet. Kotz. Ich muss würgen. Echt. Ihr Scheißmachos. Wieler bevorzugt dich doch nur, weil du ein Mann bist.«

Wie kam sie denn jetzt auf die Feministen-Schiene? Assaf sah sie erstaunt an. »Pass mal auf …«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Mamasch Lo! Du passt mal auf. Ich rufe jetzt Wieler an und hol mir meinen Fall zurück.« Sie zerrte ihr Handy aus der Hosentasche und drückte energisch die Tasten.

»Anat. Jetzt warte doch mal …«

Doch sie war schon auf dem Weg nach draußen. Das Klackern ihrer Absätze hallte auf den Fliesen.

Assaf blieb unschlüssig zurück. Was Wieler sich da ausgedacht hatte, war wirklich nicht besonders fair. Dass sie ihm allerdings Machismo vorwarf, fand er lächerlich. Er hatte bisher immer sehr gut mit Frauen zusammengearbeitet. Das war für ihn gar keine Frage. Im Gegenteil, er bewunderte Frauen, die ihren Weg gingen und sich gegen immer noch bestehende Ungerechtigkeiten, vor allem bei der Polizei und beim Militär, starkmachten. Wie kam Anat darauf, ihm so etwas vorzuwerfen? Assaf entschied, ihr nicht nachzugehen und stattdessen zuerst einmal die Sekretärin zu suchen, die die Leiche gefunden hatte. Er klopfte an die Tür, neben der in kleinen feinen Buchstaben »Sekretariat« stand, und trat kurz danach ein. Am Schreibtisch saß eine orthodoxe Frau. Das erkannte er sofort, weil sie ihre Haare mit einer Art Hut bedeckt hatte, der typisch für fromme Frauen war. Die ältere Frau schaute fragend: »Gehörst du auch zur Polizei?«

»Ja. Assaf Rosenthal mein Name. Ich bin Kommissar und habe die Leitung in diesem Fall übernommen.«

»Und die Kollegin? Wo ist die hin?«

»Ja, es gab da ein Missverständnis … Entschuldige, aber wie war dein Name bitte?«

Ruth Silberman sah ihn wohlwollend an. Ein junger Mann mit Manieren, ein Mann, der bitte und Entschuldigung sagen konnte. Davon gab es viel zu wenig. Die meisten schienen sich ja nur noch in einer Art Straßenjargon zu verständigen. Sie stellte sich vor und fragte ihn, ob er etwas trinken wolle. »Einen Kaffee vielleicht?«

Assaf schüttelte den Kopf. »Ein Sandwich wäre mir lieber.« Er hatte schon wieder Hunger. Und es war keine Mittagspause in Sicht. Egal, erst die Arbeit …

Die Sekretärin lächelte ihn freundlich an und schob ihm ein paar Kekse zu.

»Ruth, du hast die Tote gefunden, richtig? Kannst du mir schildern, was du genau gesehen hast?«

Sie räusperte sich und drückte ihren Rücken durch, bis sie kerzengerade an dem Schreibtisch saß. »Wie ich schon der Kollegin sagte: Ich bin wie immer morgens um kurz vor halb acht auf den Parkplatz gefahren und dann an der Ruine vorbei zum Haus gelaufen. Als ich da vorbeikam, hörte ich die Katzen so herzzerreißend jammern. Ich habe mich gewundert, warum die so einen Krach machen. Du musst wissen, ich füttere sie manchmal, aber nur, wenn ich zu Hause ein paar Essensreste übrig habe. Mein Mann sieht das nicht gerne, Katzen sind unrein, nun ja … Auf jeden Fall wollte ich gucken, was mit den Katzen los ist, und bin zum Bauzaun gegangen. Ich lege das Essen immer genau an das Loch, die Katzen leben dahinter auf dem verwahrlosten Grundstück. Das war ja mal ein ganz berühmtes Hotel, wusstest du das? Alle haben da übernachtet. Alle Großen.«

Assaf fragte sich, wen sie damit meinte. Die Orthodoxen hatten andere Vorstellungen von den »Großen« als der Rest der Welt. Für sie gab es keine Filmstars oder prominente Politiker, sondern nur die wichtigen Rabbiner. Nach denen richteten sie ihr Leben aus.

Als der Kommissar nicht weiter reagierte, fuhr die Sekretärin fort. »Wie ich da so an den Zaun kam, wurde mir ganz mulmig zumute. Ich hatte plötzlich ein ganz eigenartiges Gefühl. Und dann habe ich auch schon die roten Schuhe gesehen. Ich habe mich so erschrocken. B’ezrat Hashem. Dann bin ich ganz vorsichtig weitergegangen, um nachzusehen, wer da genau liegt. Und dann habe ich Marina erkannt.«

»Marina?«

»Marina Koslovsky. Eine Schülerin. Sie war bei uns in Kita Aleph, der ersten Klasse. Kam aus der Ukraine, eine Neueinwanderin. Und plötzlich liegt sie tot auf dem Nachbargrundstück.«

»Du hast sie also sofort erkannt und warst dir sicher, dass sie tot ist?«

»Ja, natürlich. Sie lag da ja ganz verdreht. Hat nicht mehr geatmet …Ich habe das überprüft.« Und wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu: »Ich wollte mal Krankenschwester werden.«

»Und was hast du dann gemacht, Ruth?«

»Nu. Erst einmal habe ich tief Luft geholt, und dann bin ich in die Schule gegangen und habe die Polizei angerufen.«

Assaf war erstaunt, mit welcher Ruhe Ruth Silberman die Geschehnisse wiedergab. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie bereits Anat Cohen alles erzählt hatte. »Und die Tote. Marina. Die besucht hier einen Kurs? Abends?«

»Genau. Gestern Abend hatten wir allerdings eine Chanukka-Feier. Wir haben die Kerzen angezündet, und die Schüler haben Segenssprüche vorgelesen.«

»War Marina auch da?«

»Ja. Sie hatte vorher Unterricht. Sie besucht den Sprachkurs immer am Sonntag und Dienstag, er beginnt um 17.30 Uhr. Um 18 Uhr haben wir mit der Chanukka-Feier angefangen. Ich hatte Sufgania für alle besorgt.«

Assaf dachte sehnsüchtig an die mit Erdbeermarmelade gefüllten Gebäckbällchen. In diesem Moment ging die Tür auf, und Yossi betrat das kleine Sekretariat. »Ruth, das ist mein Kollege Yossi Hag.«

Die Sekretärin nickte seinem Partner zu.

»Aber bitte erzähl doch weiter. Du hattest also Sufgania besorgt. Ist dir während der Feier etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat sich Marina irgendwie seltsam verhalten?«

»Nicht seltsamer als sonst. Marina war sehr aufgedreht und laut, aber das war sie eigentlich immer. Ich erinnere mich, dass sie sich beschwert hat, dass es nur alkoholfreien Wein gab«, berichtete Ruth Silberman eifrig.

»Und wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Das muss so gegen 19 Uhr gewesen sein. Da bin ich nach Hause gegangen.«

»Und wo war Marina da?«

»Sie saß im Klassenzimmer, in dem wir die Feier veranstaltet haben. Im ersten Stock. Sie unterhielt sich mit ein paar anderen.«

»Wer waren diese anderen?«, fragte Assaf gespannt und setzte an, die Namen in sein kleines ledernes Notizbuch zu schreiben. Yossi neben ihm hatte ebenfalls einen Block in der Hand. Assaf bemerkte das erfreut, denn viele Kollegen machten sich zu seinem Ärger nicht die Mühe, Informationen zu notieren. Ihm half es, seine Notizen zu einem Fall immer wieder durchzugehen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Als er Offizier bei der Armee war, hatte er ganze Bücher mit Anmerkungen und Notizen gefüllt, in denen er verschiedene Angriffsstrategien aufmalte, durchging und so die Leistung seiner Kompanie optimierte.

Ruth Silberman überlegte kurz, mit welchen Klassenkameraden Marina zusammengesessen hatte. »Also, warte mal. Das waren auf jeden Fall der Schwarze, der Moses, zwei von den Russinnen. An die Namen erinnere ich mich jetzt gar nicht, die eine heißt auf jeden Fall Olga oder Olla, und Jérôme.«

»War Marina viel mit denen zusammen?«, fragte Yossi.

»Nu. Genau weiß ich das nicht. Ich sehe die Abendklassen kaum, weil ich meist nachmittags Feierabend mache. Marina kenne ich nur, weil sie in der Morgenklasse angefangen hat, bevor sie in den Abendkurs wechselte. Am besten fragt ihr Yael. Sie ist die Lehrerin der Kita Aleph.«

»Kannst du bitte meinem Kollegen Yossi noch genau aufzählen, wer gestern Abend alles da war und ihm eine Liste der Kita Aleph geben?«

»Kein Problem, Kommissar Rosenthal.«

»Ach, Ruth, wer ist denn normalerweise der Letzte im Haus? Wer schließt ab?«