Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens

Die niederländische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel Het zwarte Licht bei De Bezige Bij in Amsterdam, die deutsche Erstausgabe 1962 beim Nannen Verlag in Hamburg.

Auf den zeittypischen Begriff Neger, den Harry Mulisch in seinem Roman verwendet hat, haben wir in Absprache mit dem Rechteinhaber verzichtet und ihn stattdessen an den Sprachgebrauch der heutigen Zeit angepasst.

Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

E-Book-Ausgabe 2016

© 1956 & 1957 Harry Mulisch, Amsterdam

Originally published by De Bezige Bij, Amsterdam/​Antwerpen

© 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin. 

Covergestaltung: Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4202 3

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2760 0

www.wagenbach.de

EINS

Ein echter Schwarzer

Später am Tag (als die ganze Stadt bereits ergriffen war) sollte er sich daran erinnern, doch ohne dass es ihn noch erstaunte. Maurits Akelei erwachte am 20. August 1953 um Punkt sechs Uhr morgens. Er öffnete die Augen, hickste und blieb noch einen Moment lang reglos liegen – über der Stadt hing der Nachhall der Turmglocke. Verwundert setzte er sich auf und schaute zu seiner Armbanduhr auf dem Stuhl neben dem Bett. Der kleine Zeiger zeigte senkrecht nach unten, der große senkrecht nach oben: Zu dieser Stunde, in dieser Minute war es 46 Jahre her, dass seine Mutter ihn geboren hatte.

Er zog eine Grimasse, fing an zu husten und kratzte eine Weile in seinem noch auffallend dichten grauen Haar. Dann legte er sich wieder hin, drapierte mit weitausholenden Bewegungen die Decken um seine Schultern und starrte eine Zeitlang auf die Bretter des schrägen Dachs, zwischen denen überall braune, halb vermoderte Streifen Zeitungspapier herabhingen. »Es muss ein Fest werden«, murmelte er plötzlich und lachte einen Moment (ein kurzes, hörbares Lachen), hickste und schlief wieder ein …

Seine Kinnlade sank ein wenig herab, so dass seine Wangen außergewöhnlich alt und mager wurden. Ab und zu hickste er noch. Es war schwül und drückend. Dennoch war das Fenster geschlossen, und er lag unter mindestens vier Pferdedecken, mit lauter Löchern und Rissen. Im gesamten Mansardenzimmer herrschte im Übrigen ein heilloses Durcheinander. Das Mobiliar bestand aus kaum mehr als einer altmodischen Babykommode mit hohem Rand, vollgestapelt mit seinen Kleidern. Ansonsten gab es noch einen Küchentisch mit Essgeschirr, Rasierutensilien, einer Flasche Milch, einem halben Brot und allerlei Krimskrams. Darunter standen eine Kiste und ein rostiger Petroleumofen. Draußen, hinter den gesprungenen, aber sorgfältig geputzten Scheiben des schrägen Dachfensters, durch das man nur den Himmel sehen konnte, dämmerte es bereits seit einiger Zeit, aber es regnete, und es war düster. Plötzlich ertönte ein Donnerschlag.

Akelei stöhnte gequält, und sein Unterkiefer begann zu zittern, während er sehr viel Luft in sich hineinsog … Wahrscheinlich ist Zauberei im Spiel: Alles ist passend, und er sucht niemanden. Niemand sucht ihn. Er ist noch sehr jung. Alles ist sehr abgefeimt und vortrefflich – eine abgekartete Sache. Aus Freude am Leben imitiert er den Kronprinz von Kongo und bricht in Lachen aus. Schwarz und mit wulstigen Lippen, in einem ordentlichen Baströckchen, mit Schirm und hohem Hut, wie ein echter Schwarzer, geht er im Kreis, so dass sich die Leute um ihn herum die Bäuche halten vor Vergnügen und Glück. Ein begnadetes Fest! Und die Sonne ist warm und gut wie eine Frauenhand, die Welt hell und bis zum Horizont mit Sinn erfüllt, wo eine stille Reglosigkeit herrscht. Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen! Plötzlich kippt alles um und fliegt weg in einem gemeinen Wehen und Stürmen, in Kälte und schmutzigem Licht – das war der Donnerschlag, sofort entkommt er aus einem hohen Saal mit dunkelgrünen Vorhängen, wo er voll ruhigem Grauen auf seine Hinrichtung wartete.

In die Felder geflohen (über den Telegraphendrähten fliegt ein Vogel, auf dem Bauch ein blutroter Schimmer) stößt der ach so jugendliche zum Tode Verurteilte mit einem körperlich Unbekannten zusammen – und dann passiert es: der Heilige Weg! Eine unüberschaubare Menge strömt vom Koningsplein in den Heilige Weg, entzückt rufend, beinahe singend: »Pater noster! Pater noster!« Und es steht geschrieben: – So strömen sie hinein: Offiziere, Mannschaften, Bürger, Möwen, Wind und europäischer Dampf:


Quid sum miser tunc dicturus

Quum vix justus sit securus …1

Schwitzend vor Erregung schlägt Akelei die Augen auf. Hat er geträumt? Er hat geträumt. Er bleibt noch kurz liegen und springt dann zerzaust aus dem Bett. Suchen, suchen muss er sie! Alles um ihn herum, Stuhl und Tisch, vibriert auf einmal vor Erwartung und Vorahnungen, er stürmt hinaus und rennt über den Hügel zur Eisenbahnlinie. Mit großer Geschwindigkeit kommt der Dieselzug aus den Wäldern heraus. Auf der anderen Seite der Gleise eilt eine große junge Frau herbei, sie ist ganz in Weiß gekleidet, eine Braut, und sie läuft seltsam nach hinten gelehnt, als würde der Wind sie beinahe umwehen. Ist das Marjolein? Ist sie es, die er sucht? Sucht sie ihn? Der Zug brüllt und ist schon ganz nah – sie wird es nicht mehr schaffen –, ängstlich beginnt er zu gestikulieren, doch sie kann offensichtlich nicht warten: Rasch klettert sie zur Oberleitung und begibt sich auf die Kabel, sich krampfhaft daran klammernd. Als der Zug unter ihr hindurchdonnert, verliert sie das Gleichgewicht und fällt schwankend, sich in den Drähten verfangend. Vom elektrischen Schlag getötet; wahrscheinlich hat sie der elektrische Schlag getötet …

Vor Schreck gelähmt wacht er auf. Tot, denkt er. Träume sind schrecklich. »Die Schlafenden sind mitschaffend und mitwirkend an dem, was in der Welt geschieht.« Wer hat das gesagt? Er weicht den Menschen aus, die an ihm vorbeigehen, doch sie treten ihn bereits. Überall sind plötzlich Beine. Schnell steht er auf und wird sogleich inmitten von ihnen mitgerissen. Zwischen ihren Körpern eingeklemmt, von ihrem Geschrei umgeben, muss er mitlaufen, ob er will oder nicht. Vielleicht will er ja doch? Rufen sie etwas auf Deutsch? Die Straße ist eng, aber noch nie war das Wetter so herrlich. Am schönsten ist es, wenn Kriege ausbrechen. In der Ferne ist der Wald. »Auf! Auf!«, brüllt jemand. »Los geht’s zum Walde!«2 Noch nie waren Bäume so dicht belaubt. Plötzlich beginnt er zu keuchen und zeigt auf etwas. »Da!«, ruft er aufgeregt, doch keiner beachtet ihn. Die obere Hälfte der Kronen ist mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, blendend weiß in der Sonne. Tränen schießen ihm in die Augen … es ist so schön, so grün das Grün darunter … Wenig später breitet er in einer leeren Kammer mit kaputten Fenstern die Arme aus. Langsam und gebückt umrundet er den Turmumgang. Er weint noch immer. Die Sonne scheint, aber erleuchtet nichts; Finsternis in der Tiefe. »Wo mag Marjolein nur bleiben«, murmelt er bekümmert …

Pustend und auf seltsame Weise zitternd, schlug Akelei die Decken beiseite und ließ die Luft über seinen Körper streichen. In der Ferne hing noch kurz sein Traum, doch dann verblasste er und war weg. Er zog das Hemd aus und wischte damit über seine verschwitzte Brust. Hier waren seine Haare schon beinahe weiß. Es regnete nicht mehr, und im Zimmer hing ein helles, bleiches Licht. Es war halb neun. Es war immer noch genauso schwül, der Donnerschlag hatte keine Erleichterung gebracht. Akelei – ein offensichtlich kräftiges Kerlchen – stieg aus dem Bett und füllte das Waschbecken.

Während er das klare Wasser höher steigen sah, fühlte er, wie seine Stimmung rasch fröhlicher wurde. Ich werde ein paar Leute einladen, dachte er, es soll ein Fest werden! Er fing an, sich zu waschen, wobei er in den Kiefern einen unerklärlichen Drang verspürte, laut zu lachen, und in einem plötzlichen Anfall von Ausgelassenheit tauchte er auf einmal den Kopf bis zum Nacken ins Wasser. Er bewegte ihn kurz – sanft streichelten die kalten Wellen sein Gesicht. Das Blut begann sich zu stauen, ein starker Druck in seinem Schädel, bald danach begann der Krampf in seinen Lungen … Er dachte: Was, wenn ich jetzt plötzlich gelähmt wäre … Keuchend zog er den Kopf heraus, bekam aber dennoch ein wenig Wasser in den Hals, so dass er husten musste und ihm schwindlig wurde, während er wankend vor dem Spiegel stand. Ketelaar, dachte er, Ketelaar werde ich einladen, obwohl er ein Schaumschläger und Prahlhans ist. Er hat Erfolg im Leben, so wie wohl jeder Erfolg haben kann, man darf ihn deswegen nicht verdächtigen. Akelei prustete los. Er holte tief Luft und lachte lauthals. Irgendwas sagte ihm, dass es nichts mit seiner Fröhlichkeit zu tun hatte. Er bekam leichte Kopfschmerzen und verstummte. Ketelaar also. Wer sonst noch? Zwei Leute sind noch kein Fest. Na los, es musste doch wohl ein paar Leute geben, die er einladen könnte! Während er sich die Zähne putzte, dachte er nach, und dann richtete er sich plötzlich erstaunt auf. Im Spiegel war sein Gesicht, der Schaum auf den Lippen.

»Mensch, Junge, du kennst niemanden.«

Gehetzt fing er an, sich zu rasieren. Die Lachlust war verschwunden, und immer wieder zitterte seine Hand, so dass er sich blutig schnitt. Wiederum strömt das Blut, dachte er und blies den Rasierschaum aus den Nasenlöchern. Es ist schwierig, jemanden zu finden. Da wäre noch Splijtstra, überlegte er wenig später. Haha, natürlich! Splijtstra! Er wird nicht kommen, aber ich lade ihn ein. Mit einem Mal betrübt, vollendete er die Rasur und zog sich an, zwischendurch ein wenig Brot essend. Und Doornspijk, befahl er sich selbst – Doornspijk werde ich ebenfalls einladen. Gott wird mir niemals vorwerfen können, dass ich Doornspijk nicht eingeladen habe. Mein Fest! Das Haus voller Menschen, rauschende Seide, Kristall und Uniformen, lauter Licht und Fröhlichkeit, die Harfen erklingen, das Lachen erschallt! … Zu dem grünbraunen Soldatenhemd, das er trug, band er sich einen hellblauen Schlips mit weißen Punkten um.

Als er seinen Mantel bereits anhatte, betrachtete er sein Zimmer. Es war klein und muffig. Der durchdringende Geruch von alten Menschen, den der Petroleumofen verströmte, hing das ganze Jahr über an den Dingen. Es stank auch nach seinem Schlaf. Er pustete den Staub von der Kommode und bekam sogleich wieder einen Hustenanfall. Plötzlich fing er an, alles schnell aufzuräumen, er strich sein Bett glatt und stopfte den herumliegenden Krimskrams in die Babykommode. Keuchend schaute er sich um.

»Gott verdammt!«, fluchte er dann, trat gegen den Stuhl und verließ rasch das Zimmer, die Tür mit einem Knall hinter sich zuwerfend.

Was soll ich um Himmels willen mit all den Leuten?, fragte er sich auf der dunklen Treppe und blieb auf einer Stufe stehen. (Augenblick, Pollaards konnte er auch einladen!) Seit er hier wohnte, hatte ihn noch nie jemand besucht. Es wird ein großes Fest werden, sagte er zufrieden zu sich selbst – aber warum? Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte. Ketelaar, Pollaards, Splijtstra, Doornspijk. Auf dem Treppenpodest hielt er wieder kurz inne, kniff die Augen spähend zusammen und nickte sehr bedächtig …

»Herr Maurits! Herr Maurits!« – Die Stimme seiner Zimmerwirtin.

Gleich danach kam sie aufgeregt aus ihrer Küche, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine aufgeschnittene Paprika. Obwohl auch schon nahezu grau, hatte sie noch ein außergewöhnlich jugendliches, man wäre beinahe geneigt zu sagen: menschliches Gesicht. Vor allem wenn sie lachte, ein kindlich totalitäres Lachen, ohne Vorbehalt. Doch jedes Mal ging diese Absolutheit plötzlich in einen wehmütigen Ausdruck der Enttäuschung über, oder der Entmutigung, manchmal sogar in ein unverhohlenes Misstrauen. Wem oder was galt es? Vielleicht der Unhaltbarkeit ihres Lachens. Vielleicht ihrem Mann und ihrem Kind, die vor ein paar Jahren – er auf dem Fahrrad, das Kind hinten drauf, die Straßenbahn drüber weg – ums Leben gekommen waren. Die freigewordenen Zimmer hatte sie an Maurits Akelei und an ein Arbeiterehepaar vermietet, das vorige Woche in Urlaub gefahren war, in einen alten deutschen Bunker an der Küste.

»Herr Maurits, ich habe Sie die Treppe runterkommen hören – wissen Sie, was heute für ein Tag ist? Der 20. August 1953, wissen Sie, was das für ein Tag ist?« Sie war nahe an ihn herangetreten.

»Ja, das weiß ich sehr wohl«, sagte er verwundert, »aber woher wissen Sie …«

»Ach, das wissen doch alle, Herr Maurits.«

»Alle? Was für ein Tag ist denn heute?«

»Sie wissen es also auch nicht!«, rief die Frau und sah ihn perplex an. Mit der Hand, in der sie das Messer hielt, zog sie ihn ein wenig beiseite und flüsterte: »Heute ist das Ende der Welt, Herr Maurits …«

»Das …?«

»Das Ende der Welt, Herr Maurits. Heute, am 20. August 1953, enden die Vorhersagen der Großen Pyramide. Es gibt einen Gang in der Pyramide, eine Art Treppe, und jeder Zentimeter entspricht einem …«

»Glauben Sie daran, Frau Henkes?« Er fühlte sich auf einmal wieder gehetzt und wünschte, er könnte weitergehen. Sie senkte den Blick und starrte auf die Punkte auf seiner Krawatte.

»Wenn Sie erlebt hätten, was ich erlebt habe, dann würden Sie auch daran glauben …«

Akelei befeuchtete seine Lippen und schaute auf ihren üppigen Busen.

»Ich glaube, wir sollten so leben, als sei nichts vorhergesagt, gerade dann, wenn wir daran glauben. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, doch ich muss jetzt …« Aber Frau Henkes hielt ihn zurück.

»Sie glauben auch daran!«

»Ich werde um zwölf Uhr spielen.«

»Ja!«, sagte Frau Henkes, auf einmal recht entzückt. »Ja, Sie müssen so schön spielen, wie Sie nur können, schöner, noch schöner, als Sie es je getan haben. Und ich werde Ihnen zuhören, so wie immer. Ich werde hinausgehen, nach oben schauen und Ihnen lauschen. Die ganze Stadt muss Ihnen lauschen, es ist das letzte Mal. Allen müssen die Tränen in die Augen schießen, und sie sollen sich an ihr Leben erinnern, denn heute ist alles vorbei. Das Ruder wird uns aus der Hand genommen, und heute werden wir sehr allein sein, Herr Maurits. Sie müssen alles geben, was in Ihnen steckt. Sie müssen … Sie müssen mit Ihrem Blut spielen, und Ihre Finger … Ihre Finger müssen zu Engelsfingern werden. Und wenn dann die Posaunen des Letzten Gerichts durch den Himmel …«

»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Akelei etwas leiser als zuvor. »Ich werde ein Fest daraus machen, Frau Henkes.«

Jetzt lachte sie: Ihr Mund, ihre Augen, ihr ganzes Gesicht ging in ekstatische Absolutheit über. Sie nickte, vielleicht wollte sie weinen, sie senkte den Blick und betrachtete die Paprika.

»Schauen Sie nur einmal, wie hübsch die Samen hier hängen«, flüsterte sie.

Akelei beugte sich darüber und nickte. Frau Henkes löste ein Samenkorn heraus, steckte es in den Mund und aß es, während sie ihn wieder ansah, auf: von Trauer und Wehmut mehr als erfüllt. Akelei schloss kurz die Augen und stieg die Treppe hinunter.

»Der Nächste bitte«

Auf der Straße fühlte er, dass seine Unruhe weiter zugenommen hatte. Musste er sie auch zu dem Fest einladen? Nein, keine Frauen, es sollte eine Fest für Herren werden. Für Ketelaar, Splijtstra, Doornspijk und Pollaards – und für ihn selbst, ihn, das Geburtstagskind! Vergnügt wollte er sich die Hände reiben, aber er knackte nur kurz mit den Fingern. Er musste jetzt schnell die Gäste einladen, ehe sie andere Verabredungen machten. Die Chance war sowieso schon klein, dass sie noch Zeit hatten. Pollaards zuerst – der würde wahrscheinlich jeden Moment losgehen, um Krankenbesuche zu machen.

Akelei ging rasch weiter und knöpfte den Mantel bis zum Hals zu, obwohl es immer drückender wurde. Der Himmel war fahl und dicht bewölkt, vielleicht um zu verbergen, was da oben vorbereitet wurde. Er wohnte in einem belebten Viertel, mit lauter Lagerhäusern und Transportunternehmen. Ständig musste er in einem Bogen um große Lastwagen herumgehen, die im rechten Winkel zu den Häusern standen. Die Fahrer lehnten sich aus den Seitenfenstern und schauten zu den rufenden Männern, die sie von hinten mit weitausholenden Gesten dirigierten. Irgendwo schlug man mit Hämmern auf Stahl. Überall wurde geschleppt und gebrüllt.

Mit hochgezogenen Schultern und den Händen tief in den Taschen, als tobte ein Schneesturm, ging Akelei schnell weiter. Die zwei Huren in ihrem winzigen Zimmer neben der Schmiede tickten seinetwegen nicht einmal mehr ans Fenster. Irgendwo in seiner Brust hockte angespannt die Unruhe, ein lebendiges Tier, das mit Fingerspitzen seine Organe betastete. Er verspürte den Wunsch, einfach loszulaufen. Wozu ein Fest? Nirgendwo war ein Grund zu entdecken, so weit das Auge reichte – nur Gründe, es zu lassen. Doch dann und wann zitterte kurz ein vergnügliches Lachen in seinen Lippen, wenn er an sein Fest dachte. Es sollte intim sein, aber grandios und unvergesslich! Plötzlich wurde ihm unerträglich heiß, und er knöpfte den Mantel auf. An Pollaards’ Haus war er da schon vorüber. Kurz darauf hielt er an und drehte sich um. Ich darf niemanden einladen, sagte er zu sich selbst – das Fest darf unter gar keinen Umständen stattfinden. Ich bin doch nicht wahnsinnig geworden!

Pollaards, ein kleiner preziöser Mann mit kahl werdendem Schädel, öffnete selbst. Während er mit der Linken die Tür festhielt, hob er die Rechte mit einer graziösen Bewegung, den kleinen Finger, an dem er einen goldenen, ziselierten Ring trug, ein wenig abgespreizt.

»So, so – der Herr Akelei!« Er lächelte erstaunt, aber das Erstaunen war nicht ganz erfreut. »Doch nicht etwa krank? Der Husten wieder?«

Akelei schüttelte den Kopf, lächelte und murmelte etwas. Er wollte … er kam, um … aus persönlichen Gründen.

»O … o …«, sagte Pollaards wie ein kleines Mädchen, »ja … Nun …« Mit hochgezogenen Augenbrauen trat er kurz von einem Bein aufs andere und machte dann eine einladende Geste ins Haus.

Zögernd trat Akelei über die Schwelle und griff nach dem Türknauf.

»Soll ich …?«

»Ja, schließen Sie die Tür ruhig. Ich … Vielleicht nehmen Sie einen Moment im Wartezimmer Platz. Ich sitze gerade noch beim Frühstück.«

Akelei hatte den Kopf nun komplett zwischen die Schultern gezogen, und mit einer Art von Verbeugung, die Nase voraus, verschwand er ins Wartezimmer. Leise schloss Pollaards hinter ihm die Tür.

Ohne sich weiterzubewegen, mit dem Rücken zur Tür, schaute Akelei sich in dem öden Zimmer um. Die Stühle schauten zurück. Neben dem Kamin waren getippte Mitteilungen für Kassenpatienten aufgehängt. Am Fenster hing ein altertümlicher Kupferstich, Julius Cäsars Leiche im Senat darstellend, getroffen von 23