Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter.

Die italienische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel Cinque storie ferraresi bei Giulio Einaudi Editore in Turin.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1964 unter dem Titel Ferrareser Geschichten bei Piper & Co. in München.

Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.

Karnickel

E-Book-Ausgabe 2016

© 1956, 1973, 1974, 1980 Giorgio Bassani

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© 2007, 2016 für diese Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung unter Verwendung eines Screenshots von La lunga notte del’43 (1960) © Italian Wikipedia.
Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN 978 3 8031 4216 0

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2564 4

www.wagenbach.de

Die * beziehen sich auf die Anmerkungen des Übersetzers.

Lida Mantovani

Enfin des années entières s'étant passées, le temps et l'absence ralentirent sa douleur et éteignirent sa passion.

La Princesse de Cleves

1

Zeit ihres Lebens erinnerte sich Lida Mantovani an die Tage vor ihrer Niederkunft. Immer wenn sie daran dachte, überkam sie Rührung. Dabei waren jene Tage keineswegs reich an Ereignissen und Eindrücken gewesen. Einen Monat lang hatte sie in einem Saal des Entbindungsheims gelegen, ganz hinten, am Ende des langen Raums. Durch das Fenster, das auf den Garten ging, sah sie die blanken Blätter einer großen Magnolie. Es war April, doch es war schon warm, und das Fenster stand den ganzen Tag offen. Aber am Ende dieser Zeit hatte sie sogar das Interesse an den schwarzen, wie geölten Blättern des Magnolienbaums verloren. Die Schmerzen setzten erst sehr spät ein; sie begriff und empfand überhaupt nichts mehr wie sonst. Sie war zu einem aufgedunsenen, unempfindlichen Wesen geworden (die Ruhe, die sie umgab, entsprach ihrer inneren Ruhe), das verlassen in einem Krankenhaussaal lag. Sie aß fast nichts mehr. Aber Professor Bargellesi, der in jenen Jahren der Chefarzt des Entbindungsheims war, versicherte ihr, daß es so besser sei.

Am Fußende ihres Bettes stehend, musterte er sie aufmerksam. »Es ist heiß. Wenn du Luft kriegen willst, ist es besser, den Magen nicht zu belasten«, erklärte er, während er sich mit seinen zarten, geröteten Händen über den langen weißen Bart strich, der um den Mund herum voller Nikotinflecken war. »Dick genug bist du ja, wie mir scheint«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

2

Nach ihrer Niederkunft nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang.

Anfänglich hatte Lida im Gedanken an David versucht (die Erinnerung an sein gelangweiltes, unzufriedenes Gesicht verletzte sie: fast nie hatte er das Wort an sie gerichtet und den ganzen Tag auf dem Bett gelegen, Romane gelesen oder geschlafen), sich allein wieder in dem möblierten Zimmer in der Via Mortara einzurichten, in dem sie während des letzten halben Jahres mit David gelebt hatte. Doch als sie nach ein paar Wochen zu der Überzeugung kam, daß sich David nicht mehr blicken lassen würde, und die paar hundert Lire, die er ihr gegeben hatte, so gut wie verbraucht waren, ihr zudem die Milch für das Kind zu fehlen begann, fand sie sich damit ab, zu ihrer Mutter zurückzukehren. So erschien also Lida Mantovani noch im Sommer des gleichen Jahres wieder in der Via Salinguerra. Sie sah die ihr so vertraute kleine Straße wieder, mit den niederen, mit Glasscherben bewehrten Mauern, den armseligen Häuschen und dem Steinpflaster, aus dem allenthalben das Gras herauswuchs. Und dann sah sie das Zimmer wieder, in dem sie ihre Jugendjahre verbracht hatte, den staubigen Holzfußboden und die beiden eisernen Bettstellen. Eigentlich war es ein Kellerraum. (Vielleicht hatte er früher einmal als Kohlenkeller gedient; das Haus war das einzige etwas größere Gebäude in der Via Salinguerra.) Jedenfalls war der Zugang zu diesem Raum komplizierter als nötig. Von dem wie eine Scheune weiten und dunklen Hausflur aus stieg man eine Treppe bis zum ersten Absatz hinauf und machte vor einer kleinen Tür halt. Hatte man ihre Schwelle überschritten, stieß man mit dem Kopf beinahe an die Balkendecke, die sich unversehens über einer Art von Abgrund wölbte. Als Lida dort oben stand, sah sie unten ihre Mutter, die das Gesicht von der Näharbeit hob. In ihrem Blick lag keine Überraschung, nur eine drängende Frage. Das Kind im Arm, stieg Lida langsam die Stufen der Treppe hinab. Sie ging auf ihre Mutter zu und beugte sich nieder, um ihr einen Kuß auf die Wange zu geben. So ruhig, als wäre sie nur ein paar Stunden fortgewesen, erwiderte ihre Mutter den Kuß.

Sehr bald stellte sich die Frage der Taufe.

Als ihre Mutter erfuhr, daß das Kind noch nicht getauft war, bekreuzigte sie sich. »Bist du wahnsinnig?« rief sie.

Während sie aufgeregt erklärte, es sei keine Minute mehr zu verlieren, fühlte Lida, wie die Kraft zum Widerstand in ihr nachließ. Als man ihr im Entbindungsheim das Kind ans Bett gebracht und sie feierlich gefragt hatte, auf welchen Namen es getauft werden solle, da gab ihr ein plötzlicher Entschluß, nichts gegen den Willen Davids zu unternehmen, die Weigerung ein: »Fürs erste auf gar keinen.« Aber warum sollte sie jetzt noch immer Skrupel haben, fragte sie sich. Worauf sollte sie warten? Noch am Abend dieses Tages gingen sie mit dem Kleinen in die Kirche Santa Maria in Vado. Die Mutter ordnete alles an, sie war es auch, die darauf bestand, daß der Knabe den Namen Ireneo erhielt, zum Andenken an einen verstorbenen Bruder, von dessen Existenz Lida noch nie gehört hatte … Die beiden Frauen legten den Weg zur Kirche so eilig zurück, als ob sie sich verfolgt fühlten. Zurück dagegen gingen sie langsam, durch die Via Borgo di Sotto, wo der Laternenanzünder gerade dabei war, eine Gaslateme nach der anderen anzuzünden, und es war ihnen zumute, als hätte sie auf einmal alle Energie verlassen. Sie sprachen kein Wort miteinander. Am nächsten Morgen begannen sie wieder mit ihrer Arbeit. Sie setzten sich ans Fenster, wie sie es gewohnt waren, seit Lida die Grundschule verlassen hatte. Den Kopf über die Näharbeit gebeugt, saßen sie nebeneinander und unterhielten sich über gleichgültige Dinge, wobei die eine der andern dankbar war für ihre Zurückhaltung, die sie davon abhielt, von einer Zeit zu sprechen, die für beide, wenn auch aus verschiedenen Gründen, so schmerzlich gewesen war. Sie fühlten sich jetzt viel enger miteinander verbunden, viel befreundeter als früher. Doch wußten sie genau, daß ihre Harmonie nur unter der Bedingung von Dauer war, daß sie beide von dem einzigen Umstand nicht sprachen, auf dem sie beruhte.

Aber die stärkere von ihnen war stets Lida. Zuweilen konnte ihre Mutter nicht der Versuchung widerstehen, einen Scherz zu machen, eine verhüllte Anspielung zu wagen.

»Ach ja«, seufzte sie etwa, »die Männer sind alle gleich!«

Und sie fügte sogar noch hinzu: »Hast du nicht gewußt, daß die Männer Schürzenjäger sind?«

Sie hob den Kopf von der Arbeit und musterte selbstvergessen Lida. Mager, profiliert, von Angst, Sorge und Entbehrungen verzehrt, wie Lida von ihrem Abenteuer heimgekehrt war, erschien sie ihrer Mutter wie das Spiegelbild ihrer eigenen Jugend. Sie dachte wieder an den Schmied von Massa Fiscaglia, dem Dorf, in dem sie geboren war, an den Schmied, von dem sie vor zwanzig Jahren Lida gehabt hatte. Sie dachte an die Menschen ihres Dorfes, die sie, als sie ihr Kind erwartete, von sich gestoßen und gezwungen hatten, in die Stadt überzusiedeln. Im Grunde waren sie nicht anders gewesen als die Gesellschaft der Stadt, die, nachdem sie sich ihrer Tochter bedient hatte, sie wie einen alten Schuh fortwarf. Und nun stand das Bild des einzigen Mannes in ihrem Leben, mit dem fettigen zerzausten Haar, dem aufgeworfenen, sinnlichen Mund und den trägen Bewegungen (wie bitter hatte sie es stets empfunden, wenn sie etwas davon bei Lida wiederfand!) auch für das von David, dem jungen Mann aus guter Familie, der so lange ein Liebesverhältnis mit ihrer Tochter gehabt hatte, ohne je die Verpflichtung zu fühlen, zu ihr ins Haus zu kommen und sich mit Lida zu verloben. Sie hatte ihn nie kennengelernt und nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Ach, die Männer waren alle gleich, da gab es keinen Unterschied! Aber auch sie und ihre Tochter, die die gleichen Schmerzen erlitten, sich in dem gleichen Kummer verzehrt und die gleiche Ungerechtigkeit erfahren hatten, waren gleich.

Aus diesen einsamen Träumereien erwuchs der alten Frau eine merkwürdige Fröhlichkeit. Eine Art Fieber ergriff sie. Eines Abends nahm sie Lida an der Hand und führte sie vor den in der Schranktür eingelassenen Spiegel.

»Siehst du es?« fragte sie mit erstickter Stimme. Im Zimmer war nichts als das Schnaufen der Karbidlampe zu hören. Lange standen sie so und betrachteten ihre beiden Gesichter dicht nebeneinander in dem trüben Spiegel.

Natürlich spielten sich die Dinge nicht immer so reibungslos ab, nicht immer blieb Lida ruhig und bereit zuzuhören, ohne etwas zu erwidern.

An einem anderen Abend zum Beispiel begann die Mutter, ihre eigene Geschichte zu erzählen. (Es war das erste Mal, und noch vor einem Jahr wäre es unvorstellbar gewesen!) Da bewirkte der Satz, mit dem sie schloß, daß Lida aufsprang.

»Wenn seine Eltern nichts dagegen gehabt hätten«, sagte sie, »hätte er mich geheiratet.«

Ausgestreckt auf ihrem Bett, das Gesicht in den Händen verborgen, wiederholte sich Lida immer wieder diese Worte, hörte wieder den Seufzer des Bedauerns, mit dem sie gesprochen worden waren. Nein, sie weinte nicht, und sie zeigte ihrer Mutter, die ihr nachgeeilt war und sich nun keuchend über sie beugte, ein tränenloses Gesicht und einen Blick, in dem nur Verachtung und Überdruß lagen, als sie sich vom Bett erhob.

Im übrigen waren ihre Anfälle von Unduldsamkeit selten. Wenn sie einmal über sie kamen, geschah es stets so unvermittelt, wie wenn an einem Tag der Windstille plötzlich ein Sturm aufkommt.

Einmal, als ihre Mutter sie mit ihrem Namen rief, wandte sie sich ihr mit einem bösen Lachen zu:

»Lida! Vielmehr Lyda! Und wie wichtig es dir war, daß ich in der Schule meinen Namen mit einem Ypsilon auf die Schulhefte schrieb! Was hattest du dir gedacht, was ich einmal werden sollte, Varietékünstlerin?«

Aber die Mutter antwortete nicht. Sie lächelte. Der Wutausbruch ihrer Tochter führte sie weit zurück in die Vergangenheit, zu Dingen, deren Bedeutung nur sie allein abzuschätzen vermochte. »Lyda!« sprach sie ein paarmal vor sich hin. Sie erinnerte sich an die eigene Jugend. Sie dachte an Andrea, Tardozzi Andrea, den Schmied von Massa Fiscaglia, der ihr Liebhaber gewesen war und der ihr Mann hätte werden können. Sie war in die Stadt übergesiedelt, und jeden Sonntag machte er auf dem Fahrrad den sechzig Kilometer langen Weg, dreißig zu ihr hin und dreißig zurück. Dort pflegte er zu sitzen, wo jetzt Lida saß. Sie meinte ihn noch zu sehen – mit seiner Lederjacke, seinen Flanellhosen und seinem zerzausten Haar! Bis er eines Nachts auf dem Heimweg vom Regen überrascht wurde und sich eine Rippenfellentzündung zuzog. Danach hatte sie ihn nie wieder gesehen. Er war nach Feltre in Venetien gezogen; es war eine kleine Stadt, halbwegs im Gebirge gelegen, und dort heiratete er und wurde Familienvater. Wenn seine Eltern einverstanden gewesen wären und er später nicht erkrankt wäre, hätte er sie bestimmt geheiratet. Was wußte Lida davon, was konnte sie wissen! Nur sie, die Mutter, konnte sich in der Tochter wiederfinden und für beide verstehen, was ihnen geschehen war.

Das war’s: Mitgefühl und Verständnis für Lida haben, ihr verzeihen … Zuweilen hielt Lida mitten in der Arbeit inne, hob die Augen zum Fenster und starrte hinaus. Da gab ihre Mutter die Zurückhaltung auf. Man dürfe nicht gleich verzweifeln, erklärte sie fast fröhlich. Was vergangen war, war vergangen. Sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen, und da es nun einmal da war, mußte man sich um das Kind kümmern. Übrigens, war es nicht das Kind eines feinen Herrn?

Diese letzte, beiläufig gemachte Bemerkung ihrer Mutter rief Lida deutlich wieder David ins Gedächtnis. (Nein, sie würde nicht auf ihn zugehen, wenn sie auf der Straße von weitem einen dicken blauen Stoffmantel mit einem Kragen aus Murmeltierpelz oder einen in der Taille engen Regenmantel erkannte; selbst wenn David plötzlich neben ihr ginge und sie vielleicht mit dem Ellbogen berührte, würde sie mit gesenktem Kopf weitergehen, entschlossen, sich ihm durch nichts bemerkbar zu machen.) Diese kleine Bemerkung ihrer Mutter bewirkte, daß Lida Davids langes, trauriges Pferdegesicht wieder vor sich sah. Sie wollte keinen Pfennig von ihm verlangen, nie ihm zur Last fallen. Was hätte sie ihm auch sagen oder schreiben können? Sie dachte plötzlich daran, was für einen Bart er hatte, als er sich einmal acht Tage lang nicht rasiert hatte. Und diese Hitze in dem Zimmer in der Via Mortara! Er hatte immer nur auf dem Bett gelegen, geschlafen, geschwitzt und Romane gelesen.

Nach dem Abendessen ging für gewöhnlich Lida als erste zu Bett. Während sie und das Kind längst schliefen, blieb das Bett daneben oft bis tief in die Nacht unberührt. Die Karbidlampe, die mitten auf dem noch unabgedeckten Tisch stand, verbreitete rundherum ihr bläulich schimmerndes Licht.

3

Die Via Salinguerra ist eine enge, gewundene Straße. Sie geht von einem ungepflasterten Platz aus, der einst durch den Abbruch einiger Häuser entstanden ist, und sie endet am alten Stadtwall. Man gehe einmal durch diese Straße, und man wird auch heute noch diesen Geruch von Mist, umpflügter Erde und Stall atmen, wird sich von Stille umgeben fühlen (die Kirchenglocken von Ferrara klingen hier anders, wie von ferne), und das alles zusammen ruft einen Eindruck hervor, als ob man sich weit draußen, außerhalb der Stadtmauern, mitten auf dem Lande befände. Und in einem gewissen Sinne ist es auch wirklich so. Denn obwohl die Via Salinguerra in ihrer ganzen Länge innerhalb der Stadtmauern liegt, kann man sagen, daß das Land mit den großen Nutzgärten beginnt, die hinter den niedrigen roten Mauern liegen, die die Straße auf beiden Seiten einfassen und von deren tatsächlicher Ausdehnung die wenigsten in der Stadt eine Vorstellung haben.

Da ist das Brüllen der Rinder, das Gequake der Frösche, Geruch von Gras und Heu und am Abend aus der Feme das Angelusläuten. Diese Laute und Gerüche drangen auch bis in die Kellerwohnung, in der Lida Mantovani mit ihrer Mutter für eine Schneiderei arbeitete. Sie hatten den Kopf über den Stoff gebeugt und erhoben ihn nur, wenn sie ein paar Worte miteinander wechselten oder einen Blick auf die seltenen Passanten warfen – flüchtige Schatten, die sie von unten her sahen, Tritte auf den Kieselsteinen, gleichgültige Mienen, Augen, vom Mittagslicht geblendet.

Und hinter ihnen der Tisch, die Betten, der Schrank und dieses trübselig stimmende Dunkel, das um so dichter wurde, je mehr sich der Blick der Decke näherte; dann die Treppe, die bis zu der kleinen ungestrichenen Holztür führte, und über der Türnische, an einem aus der Wand ragenden Arm aus dünnem Blech, die Glocke. Diese Glocke, mit der Außenwelt durch eine lange Schnur verbunden, deren Ende durch eine Öffnung in der Haustür führte, kündete den beiden Frauen mit einem unvermittelten, schrillen Geläut ihre seltenen Besucher an. Erschrocken fuhren sie dann auf ihren ausgedienten Strohsesseln vor dem Fenster zusammen und wandten sich jäh zur Tür.

Einige Jahre vergingen, und es war anzunehmen, daß noch viele Jahre so vergangen wären, ohne daß es irgendeine nennenswerte Neuigkeit oder Veränderung für sie gegeben hätte, wenn nicht plötzlich das Leben, das die beiden bereits vergessen zu haben schien, sich in der Gestalt eines gewissen Benetti ihrer erinnert hätte. Gemeint ist Oreste Benetti, der in der Via Salinguerra eine Buchbinderwerkstatt besaß und der den beiden Frauen von jeher, wenn auch mehr aus der Entfernung, bekannt gewesen war. Die plötzliche Insistenz, mit der er sie nach dem Abendessen zu besuchen begann, sprach eine zu klare Sprache, zumindest für die Mutter, als daß sie davon nicht sofort wie elektrisiert gewesen wäre. Ja, Oreste Benetti kam wegen Lida … Schließlich war Lida noch jung, sehr jung … Mit einemmal war Lidas Mutter wieder lebhaft, energisch und wie verjüngt. Sie ging im Zimmer umher, fast ohne je an der Unterhaltung zwischen Benetti und Lida teilzunehmen, zufrieden, dabei zu sein und die beiden beobachten zu können, die sich, einander am Tisch gegenübersitzend, unterhielten. Zufrieden, beiseite zu stehen und darauf zu warten, daß ein Wunder Wirklichkeit würde.

Lida führte die Unterhaltung mit dem Gast in einer Art stiller Unterwürfigkeit. Sie musterte seine Erscheinung und fand, daß der große Kopf wohl seinem kräftigen Oberkörper entsprach, aber schlecht zu seiner kleinen Statur paßte. Schließlich fiel ihr Blick auf seine langen Hände mit den knotigen Gelenken, die ineinanderverschränkt auf dem Tischtuch ruhten. Der Buchbinder aber beschwor in seinem Gespräch gern die Vergangenheit. Er sprach Lida davon, daß er sie als Kind gekannt habe, als sie noch »so klein« gewesen sei. Einmal war sie in seinen Laden gekommen und hatte sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, um über den Ladentisch sehen zu können.

»Signor Benetti«, hatte sie mit zartem Stimmchen gebeten, »schenkst du mir ein bißchen Ölpapier?«

»Gern mein Kind. Aber kann ich wenigstens wissen, wofür du es brauchst?«

»Um mein Schulbuch einzuschlagen.«

Er erzählte und lachte. Und wenn er sich auch nicht an eine der beiden Frauen im besonderen wandte, suchten seine Augen doch stets den Blick Lidas. Auf ihre Aufmerksamkeit und ihren Beifall kam es ihm an, und sie antwortete ihm mit einer so zurückhaltenden Liebenswürdigkeit und so ruhigem Anstand, daß er dabei ein ganz neues, noch nie erlebtes Vergnügen empfand. Ohne es zu wissen, traf Lida einen Ton, wie er Benetti nicht willkommener sein konnte.

Der Buchbinder war sehr von sich eingenommen und von seiner Bedeutung durchdrungen, und doch warb er stets von neuem um Anerkennung.

Als er einmal, was selten genug geschah, Lidas Mutter unmittelbar ansprach und sie bei ihrem Taufnamen Maria nannte, tat er es, um ihr das Jahr, in dem sie in die Stadt gezogen war, in Erinnerung zu rufen. Im Winter jenes Jahres hatte eine ungewöhnliche Kälte geherrscht. Die schmutzigen Schneehaufen zu beiden Seiten der Straßen waren noch bis in den April hinein zu sehen gewesen. Das Thermometer war so tief gefallen, daß selbst der Po zugefroren war. »Man denke sich, der Po. Ich sage Ihnen, es herrschte eine sibirische Kälte!«

Er meinte, die weite Eisfläche noch vor sich zu sehen. Zwischen den Uferdämmen war das Wasser vollkommen zum Stillstand gekommen. Er erinnerte an den ungewöhnlichen Anblick, den der Fluß damals bot, mit den beschneiten Dämmen und den vom Schnee halb begrabenen Häusern davor. Gegen Abend kehrten die Fuhrleute, die am andern Ufer des Po wohnten – in Occhiobello, Stienta, Fiesso Umbertiano, Garofolo, Polesella und so fort –, mit ihren leeren Wagen aus Ferrara heim. Sie hatten Zentner um Zentner von Brennholz aus den Sägewerken, die sich inmitten der Pappelwälder zu beiden Seiten des Flusses befanden, in die Stadt gebracht. Mancher führte – vielleicht weil er gewettet hatte – seinen Wagen statt über die eiserne Brücke von Pontelagoscuro über die weite Eisfläche des Flusses. Er bewegte sich langsam vorwärts, immer ein paar Meter von den Pferden, und er hielt dabei die Zügel in der einen Hand auf dem Rücken, während er mit der freien Hand Sägespäne auf die Eisfläche streute, damit die Pferde nicht mit ihren Hufen ausglitten. Dabei pfiff er vor sich hin oder stieß kehlige Schreie aus. Ein Mittel wie ein anderes, meinte Oreste, um warm zu werden und sich und den Tieren Mut zu machen.

»Ich erinnere mich noch«, begann er eines Abends in dem ehrfürchtigen Ton, den er stets annahm, wenn er von Priestern und religiösen Einrichtungen sprach (er war als Waise in einer Priesterschule erzogen worden und hatte sich für Geistliche ganz allgemein eine fast kindliche Verehrung bewahrt), »ich erinnere mich noch, wie uns in diesem berühmten Winter der arme Don Castelli jeden Sonnabendnachmittag nach Pontelagoscuro führte, damit wir den zugefrorenen Po sehen konnten. Sobald wir durch die Porta San Benedetto gekommen waren, gingen wir nicht länger in Reih und Glied, sondern jeder für sich, wie der liebe Gott es ihm eingab. Vierzehn Kilometer zu Fuß – das war keine Kleinigkeit! Don Castelli, der Ärmste, war immer allen voraus, so sehr er auch schnaufen mußte. Er wollte nie, daß wir die Straßenbahn benutzten, nicht einmal für unseren Heimweg. Er erklärte, daß Zufußgehen gesund sei, Appetit mache, und so weiter. Tausend Gründe wußte er anzuführen. Mich hielt er immer in seiner Nähe« – und Benetti blickte Lida, halb scherzhaft, halb väterlich ihr zublinzelnd, mit einem Lächeln an – »er hatte mich gern wie ein Vater.«

»Ich erwartete damals das Kind«, erklärte plötzlich Maria. »Ich fühlte mich in der Stadt wie verloren. Ich konnte weder lesen noch schreiben, und wäre es nicht ihretwegen gewesen« – sie deutete mit dem Kinn auf Lida –, »wäre ich sofort wieder nach Massa Fiscaglia zurückgekehrt. Aber wie konnte ich das tun? Sie wissen, Oreste, wie die Leute auf dem Land sind.« »Eine solche Kälte wie damals hat es danach nur noch 1917 gegeben«, versicherte, seinen Gedanken nachhängend, Oreste. Doch dann, mit einem plötzlichen Aufleuchten seiner Augen erklärte er:

»Aber nein! Im Gegenteil! Nach meinen Erfahrungen war die Kälte 1917 bei weitem nicht so stark. Bei uns im Karst konnte es einem ordentlich heiß werden! Aber nach gewissen Dingen erkundigt man sich besser bei Leuten, die sich im Kriege krank meldeten, bei den Drückebergern, die jeder kennt, und die« – er betonte ironisch die folgenden Worte – »die Front nur von Ansichtskarten kennengelernt haben.«

Die alte Frau, die die Anspielung verstand, setzte eine starre Miene auf. Doch bald darauf gab sie sich wieder ihren träumerischen Erinnerungen an Andrea Tardozzi, den Schmied von Massa Fiscaglia, hin, der wegen seiner Rippenfellentzündung für dienstuntauglich erklärt worden war und am Krieg nicht teilgenommen hatte. Sie dachte an ihn und an sich und an so vieles, was hätte sein können und nicht war. Wenn seine Eltern nicht dagegen gewesen wären und er nicht brustkrank geworden wäre, hätte er sie gewiß geheiratet. 1910 war er nach Feltre im oberen Veneto übergesiedelt und hatte sich dort eine Frau genommen. Er hatte Frau und Kinder – wer weiß, ob er sich überhaupt noch an sie erinnerte.

»Der Schuft, der Schuft …« Ihre Lippen hörten nicht auf, sich zu bewegen, während ihr Gesicht wieder einen weicheren, zärtlicheren Ausdruck annahm.

»Schuft, Schuft, Schuft …«, wiederholte sie ohne Ende. Das einstige Schimpfwort war nach so vielen Jahren zum Stoßgebet einer alten Betschwester geworden, zu einem Geflüster, das nichts mehr bedeutete.

Nachdem er den Abstand, auf den er Wert legte, hergestellt hatte, konnte sich Oreste wieder von seiner ritterlichen Seite zeigen und so höflich sein, wie es seinem wahren Wesen entsprach. Er war aus eigener Kraft geworden, was er war, und er war stolz darauf. Er hatte eine traurige Jugend gehabt, zu deren Lichtpunkten neben wenigen anderen eben die Erinnerungen an die winterlichen Ausflüge gehörten, die er mit seinen Kameraden aus der Priesterschule unternommen hatte. Dann war die Arbeit gekommen, das Handwerk, sein Handwerk. »Wir Handwerker«, sagte er in einem Ton, als wäre es ein Adelstitel. Lida hörte ihm aufmerksam zu. Und er war ihr dankbar, daß sie ihm gegenüber saß, schweigsam, ruhig und darauf bedacht, seinem geheimen Idealbild von einer Frau zu entsprechen.

Oft wurde es Mitternacht über Orestes Reden. Er sprach über alles mögliche, über Religion, Geschichte und Wirtschaft. Häufig ließ er sich zu bitteren Anspielungen auf die antikatholische Politik der Regierung hinreißen. In der ersten Zeit bewegte Lida, ohne deswegen weniger aufmerksam zuzuhören, mit der Fußspitze die Wiege, in der Ireneo bis zum Alter von vier Jahren schlief. Später, als er größer geworden war und sein eigenes Bett hatte (er war ein schwächliches Kind; mit fünf Jahren wurde er von einer langdauernden Infektionskrankheit befallen, die für immer seine Gesundheit schwächte und vielleicht auch seinen Charakter ungünstig beeinflußte), später stand Lida von Zeit zu Zeit auf, trat an das schlafende Kind heran und beugte sich nieder, um ihm die Hand auf die Stirn zu legen.

4

Im Sommer 1928 wurde Lida fünfundzwanzig Jahre alt. Eines Abends, als sie und Benetti an ihren gewohnten Plätzen saßen, wie stets durch den Tisch und die Lampe getrennt, fragte sie der Buchbinder unvermittelt und in allem Freimut, ob sie bereit sei, ihn zu heiraten.

Vor Überraschung zusammenfahrend, sah ihn Lida an. Sie meinte, ihn zum erstenmal richtig zu sehen. Erst jetzt bemerkte sie seine tiefschwarzen, feucht schimmernden Augen, sah sie seine hohe weiße Stirn, über der ein Bogen eisengrauen Haars stand, das er kurzgeschoren trug, nach dem Bürstenschnitt der Soldaten und mancher Priester.

»Wie alt er wohl ist«, fragte sie sich unwillkürlich. »Vielleicht fünfundvierzig, vielleicht fünfzig, vielleicht noch älter …«

Plötzlich überfiel sie ein Gefühl der Angst. Sie wollte ihm antworten, aber sie wußte nicht was. Ratsuchend wandte sie sich ihrer Mutter zu, die bereits zu ihnen getreten war. Aber die pathetische Grimasse Maria Mantovanis konnte ihre Verwirrung nur noch steigern.

»Was hast du denn?« fragte sie wütend, im Dialekt. Der Magen drehte sich ihr um vor Ekel, und sie fühlte, wie der Zorn sie übermannte.

Sie sprang plötzlich auf, stürzte die Innentreppe hinauf, schlug die Tür hinter sich zu und lief auf der anderen Seite die Treppe wieder hinab zum Hausflur.

Endlich auf der Straße angekommen, blickte sie zum Himmel auf. Es war ein prachtvoller Sternenhimmel. Von weitem hörte man die Musik einer Tanzkapelle. Durch die Fensterläden vor dem kleinen Haus gegenüber sickerte ein schwacher Lichtschein. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Sie schmiegte sich ganz an und blickte dabei nach oben, in den Sternenhimmel. Durch die Mauer hörte sie die Stimme Orestes. Er sprach ruhig mit ihrer Mutter. Auch ohne daß sie die einzelnen Worte verstand, genügte der Klang seiner Stimme, sie zu beruhigen und sie sanft zur Rückkehr zu überreden.

Als sie wieder oben auf dem Treppenabsatz erschien, war sie nur noch ein wenig bleich. Während sie die Treppe hinabstieg, wandten ihr Benetti und ihre Mutter, die sich in ihrer Abwesenheit nicht von ihren Plätzen gerührt hatten, die Gesichter zu in Erwartung einer Antwort. Lida zuckte nur leicht die Achseln. Sie ging wieder an ihren Platz, und weder an diesem Abend noch an den folgenden kam einer von ihnen auf das Thema zurück.

Tatsächlich zeigte Benetti von Anfang an, daß er über die Antwort, die er früher oder später von Lida erhalten würde, nicht den geringsten Zweifel nährte. Für ihn war es so, als ob Lida ihre Zustimmung bereits gegeben hätte und sie beide bereits Brautleute wären.

»Man muß vernünftig sein«, erklärte er seufzend, »und ruhig seine Arbeit weitermachen.«

Er wußte sehr wohl, schien er sagen zu wollen, von wem ihr Kind war. Er wußte alles. Er glaubte an die Aufrichtigkeit ihrer jugendlichen Leidenschaft, die sie zur Hingabe, zur Selbstaufgabe getrieben hatte, und er wußte, wie schwer ihr Leben dadurch geworden war. Er hatte Mitleid mit ihr. Auch darum liebte er sie. Doch war seine Leidenschaft nicht so blind, ihn vergessen zu machen (und ihn zu hindern, sie daran zu erinnern), daß sie eine große Sünde, eine Todsünde, begangen habe, von der sie erst an dem Tage, an dem er sie heiratete, losgesprochen würde. Und was hatte sich Lida von ihm gedacht? Hatte sie sich vielleicht vorgestellt, daß es für einen Mann wie ihn, der zu allem andern – er war sich dessen durchaus bewußt! – zwanzig Jahre älter war als sie, eine Liebe außerhalb der Ehe geben konnte? Und eine Ehe außerhalb der katholischen Religion? Als die Erfüllung einer Pflicht, als eine Mission – nur so und nicht anders konnte ein guter Katholik das Leben und folglich auch die Liebe zwischen Mann und Frau auffassen.

In seinen Äußerungen allerdings deutete er die Idee von ihrer Erlösung durch die katholische Ehe immer nur auf Umwegen an, ohne sie je mit klaren Worten deutlich auszusprechen. Um ihr diesen Gedanken nahezubringen – und Lida folgte, ohne je darauf einzugehen, wie hypnotisiert dem hartnäckigen und verwickelten Spiel seiner Andeutungen – genügte es, von Zeit zu Zeit auf die Unruhe und Irrtümer ihrer Jugend anzuspielen und auf die Notwendigkeit, sie in den reiferen Jahren durch eine würdige, heiter-ausgeglichene Lebensführung wiedergutzumachen. Wenn er mit den beiden Frauen am Tisch saß, lenkte er ihre Gedanken immer wieder auf Lidas »Geschichte«, eine Geschichte, die ihnen mit der Zeit immer unwirklicher und skandalöser erschien, die sie jedoch, auch wenn man besser nicht davon sprach, keinen Augenblick vergessen durften. Und darin bestand seine Stärke. Eine Anspielung, ein leiser Wink, nichts weiter. Um Lida davon zu überzeugen, daß fortan nur er noch ihr Leben zu ordnen verstand, sah er kein wirksameres und deshalb erlaubteres Mittel als eben dieses.

Ihre Empfindlichkeit war so wach, ihre Nerven derartig gespannt, daß ein Nichts genügte, um das Gleichgewicht in ihren Beziehungen zu stören. Die Verstimmung, die darauf folgte, hielt lange an.

Eines Tages, um ein Beispiel zu geben, erklärte Oreste, daß er sich tatsächlich als Vater Ireneos fühle. Er hatte sich ein wenig zu sehr von seinem Gefühl hinreißen lassen.

»Wieso? Bist du denn nicht Onkel Oreste?« fragte darauf Ireneo, der nun schon sieben Jahre alt war und sich allabendlich vor dem Schlafengehen die Schulaufgaben von ihm nachsehen ließ.

»Gewiß doch, ich hab’s nur so gesagt. Was denkst du wohl …?« Seine Verwirrung gab Lida ein deutliches und sehr willkommenes Gefühl von ihrer eigenen Bedeutung. Während Oreste weiterhin voller Eifer auf das Kind einsprach, blickten sich Lida und ihre Mutter mit einem Lächeln an.

Orestes Geschenke trugen allerdings viel dazu bei, lieblose und böse Stimmungen zu überbrücken.

Von Anfang an war Oreste sehr freigebig gewesen. Wenn er auch den Frauen zu verstehen gab, daß sie alle drei nach seiner Hochzeit mit Lida in ein neues Haus umziehen würden, in eine kleine Villa vor der Porta San Benedetto, über deren Bau und Erwerb er gerade mit einem Bauunternehmen verhandle, so hatte er desungeachtet in Lidas Wohnung elektrisches Licht legen und die Wände streichen lassen; er hatte Möbel, einen eisernen Ofen, ein Bild und mancherlei Küchengerät angeschafft, nicht zu vergessen zwei Blumenvasen, ganz als ob er es mit der Heirat nicht gar so eilig habe, wenn er auch weiterhin um Lidas Jawort warb. Er war verliebt – das drückte er in Wahrheit mit diesen, zugegeben, häufig sehr praktischen, zuweilen aber auch völlig sinnlosen Geschenken aus. Wenn er sie heiratete, dann, weil er sie liebte. Er hatte noch nie eine Braut gehabt. Weder als junger Mann noch in späteren Jahren hatte er die berauschende Freude gekannt, die eigene Braut zu beschenken. Jetzt, da ihm diese Freude gewährt wurde, hatte er gewiß recht, wenn er nichts übereilen wollte und statt dessen verlangte, daß sich alles langsam und allmählich entwickelte, wie es die gute Sitte vorschrieb.

Er erschien jeden Abend um die gleiche Stunde, pünktlich um halb zehn.

Lida hörte ihn schon von weitem, wenn er noch auf der Straße war. Dann kündigte ihn ein kräftiges Läuten der Türglocke an, und alsbald waren seine gleichmäßigen Tritte auf der Treppe draußen zu hören. Oben angelangt, grüßte er fröhlich von der Höhe des Treppenabsatzes herab:

»Guten Abend, meine Damen!«

Er stieg zu ihnen hinab und trällerte dabei die Arie des Figaro aus dem »Barbier«, bis er auf der Mitte der Treppe abbrach, um ein artiges Hüsteln hören zu lassen. Von diesem Augenblick an war das Zimmer von der Gegenwart dieses kleinen grauhaarigen Mannes erfüllt, der etwas von einem Soldaten und etwas von einem Priester hatte, erfüllt von seiner lebhaften, herzlichen und gebieterischen Gegenwart.

Die Szene seiner Ankunft spielte sich stets in der gleichen Weise ab. Seit Jahren hatte sich nichts daran geändert. Und obwohl Lida sie bis in jede Einzelheit voraussehen konnte, überkam sie jedesmal wieder ein Gefühl stillen Staunens.

Sie erhob sich nicht einmal, um ihm entgegenzugehen. Ach, als einst ein ebenso heftiges Läuten der Türglocke bedeutete, daß draußen vor der Haustür David auf sie wartete, im blauen Mantel mit Pelzkragen, vor Kälte und Ungeduld mit den Füßen auf dem Kies stampfend (niemals hatte er hereinkommen und ihre Mutter kennenlernen wollen!), da nahm sie sich kaum die Zeit, in ihren Mantel zu schlüpfen, ein bißchen Puder aufzulegen und ihre Frisur vor dem Schrankspiegel zu ordnen. Nur einen Augenblick hatte sie dafür übrig, doch genügte er, daß sie im Spiegel hinter sich das graue Haupt ihrer Mutter, klein und blank durch das straff nach hinten gekämmte Haar – das Licht von hinten ließ es fast kahl erscheinen – auftauchen und gleich wieder verschwinden sah.

»Was willst du? Was suchst du hier?« fuhr sie sie dann laut an, sich jäh umwendend. »Soll ich dir etwas sagen? Ich habe genug von dir und von diesem Leben.«

Sie ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu. David wartete nicht gern.

5

Noch zitternd vor Erregung klammerte sie sich an seinen Arm und ließ sich von ihm führen.

Für gewöhnlich gingen sie die Via Salinguerra bis zum Ende und kletterten dann auf den Stadtwall (auf der einen Seite sahen sie die Lichter der Stadt, während auf der anderen die Felder in Dunkel getaucht waren), um den Weg einzuschlagen, der sich dort oben, zwischen einer Doppelreihe dickstämmiger Bäume, dahinschlängelte. Sie gingen rasch und ohne ein Wort miteinander zu sprechen. David hatte zu jener Zeit die Absicht, so bald wie möglich seinen Doktor zu machen. Er hatte sich mit seiner Familie ausgesöhnt, um sich, wie er erklärte, später unter günstigeren Bedingungen wieder von ihr trennen zu können. Deswegen und aus keinem anderen Grunde mußten sie beide wieder »ein bißchen vorsichtig sein« und es, wie am Anfang, vermeiden, zusammen gesehen zu werden. Er fand sich damit in ihrer beider Interesse ab. Es war eine Notwendigkeit. Auch sie mußte das begreifen. Auf diesem Wege ebenso wie in dem kleinen Kino, das ihr Ziel war, würde sie keiner seiner Freunde, kein Bekannter der Familie sehen. Übrigens, war es nicht schöner so? Im Grunde wächst doch die Liebe gerade am Widerstand und am Zwang zur Heimlichkeit …

Wieder vorsichtig sein. Denn davor hatte es eine Zeit gegeben, im Sommer des vorigen Jahres, in der David durchaus keine Angst davor hatte, sich mit ihr zusammen zu zeigen. Damals, in jener wahrhaft märchenhaften, wahrhaft unglaublichen Zeit, sah es wirklich so aus, als ob er mit allem und mit allen brechen wollte. Mit seinem Studium, mit seinen Freunden, mit seiner Familie – mit diesem ganzen langweiligen und heuchlerischen Leben, das er bisher geführt hatte, mußte er einfach Schluß machen! Damals ging er mit ihr in die besten Kinos, und sie saßen am hellichten Tag in den Cafés im Zentrum der Stadt. »Nur du bist mir geblieben«, seufzte er. Den Nachmittag verbrachten sie häufig auf dem Stadtwall, wo sie sich wie die Zigeuner im Gras ausstreckten. Noch im Schlaf hielten sie sich in den Armen und schämten sich nicht. Zuweilen erhob sich David und trat zu einer Gruppe von Müßiggängern, die im Kreise beim Glücksspiel saß. Und während er bei ihnen saß und mechanisch die Karten ausspielte, stand sie hinter ihm und beugte sich nur hin und wieder zu ihm hinab, um ihm einen Rat zu geben. Sie stand hinter ihm, als ob sie ihn beschützen wollte, als müßte sie über ihn wachen … Nur ein paar hundert Meter weit von ihnen lag die Stadt und schlief in der Sonne unter ihren roten Dächern, hinter den angelehnten Fensterläden.

Damals gingen sie nur selten ins Kino. Oft kehrten sie noch einmal in die Anlagen auf dem Stadtwall zurück. Es war warm, verliebte Paare kamen flüsternd vorbei, und auch sie begannen in Erwartung der abendlichen Kühle langsam mit ihrem Spaziergang. Von Zeit zu Zeit buchtete sich der Weg auf einer Seite zu einem weiten, grasbewachsenen Platz aus. Im Mondschein leuchteten die wenigen noch freien Steinbänke, die, am äußeren Rande des Rasens und Walls zugleich stehend, den Umriß des Platzes erkennen ließen, als ob das Licht aus ihnen selber käme. Der Mond verwandelte alles. Die Luft war mild und balsamisch. Selbst von dem weggeworfenen Papier, das ekle Brutstätten von Fliegen bedeckte, wie sich herausstellte, wenn man am Tage mit dem Fuß daran stieß, ging jetzt, wie es im Grase verstreut lag, ein intensives Leuchten aus.

Warum aber wirkte heute alles so ganz anders? Der Weg, den sie jetzt entlangeilten, war der gleiche wie damals, und doch hatten wenige Monate genügt – nur die Zeit, bis es Winter geworden war –, um ihn in einen so unheimlichen Steg zu verwandeln, daß es zum Fürchten war. Der Nebel, der aus den Kanälen aufstieg, die die Felder durchzogen, hatte bereits die freien Plätze neben dem Weg erreicht und sie in Buchten der Finsternis verwandelt, in denen der bloße Anblick der vor Nässe klebrigen Bänke schaudern machte. Und hatte David sie im Sommer nicht einmal gestreift, wenn sie langsam nebeneinander gingen, und hatte er sich ihr, sobald er ihren Blick auf sich ruhen spürte, mit einem traurigen Lächeln zugewandt, so preßte er jetzt (so wenige Monate hatten genügt, daß er sie nicht mehr liebte!) fest ihren Arm an sich, warf keinen Blick auf sie und stieß sie vorwärts, wohin sie nicht gehen wollte. Alles hatte sich verändert, in ihnen und draußen. Alles war erloschen. Sollte sie sich auflehnen, ihm davonlaufen? Unversehens, wie eine Antwort auf ihre Fragen, flammten die Lichter der Piazza Travaglio und der Porta Reno auf, grell, ganz nahe, gleichsam vor ihren Augen. Es war zu spät, um noch Widerstand zu leisten. Da war schon das Kino »Diana« mit den Plakaten neben dem Eingang und der schweren Milchglastür, die David nun mühsam öffnete. Als sich die Türflügel hinter ihnen schlossen, durchschnitten sie die Luft des kleinen Vorraums mit einem erstickten, klagenden Laut. Und dann schob sich Lida, an den Schultern gestoßen, in eine warme, raucherfüllte Höhle.

Es war ein langer, niedriger Saal, beinahe so eng wie ein Korridor. Stumm saßen die Besucher dort zusammengepfercht, und ihre brennenden Zigaretten bildeten leuchtende Punkte im Dunkel. Sobald Lida den Saal betreten hatte, entspannten sich ihre Nerven. Das Summen des Projektionsapparates und das lange blaue Strahlenbündel, das von ihm ausging, hatten für sie, sie wußte nicht warum, etwas Beruhigendes. Sie ging gern ins Kino, und besonders gefielen ihr die Liebesfilme. Manchmal kam in solchen Filmen ein armes Mädchen vor, das keine besondere Schönheit war (sie waren nicht schön, aber oft genügten ein leidenschaftliches, uneigennütziges Herz und ein sympathisches Äußeres, um einen Mangel der Gestalt oder des Gesichts wettzumachen!), ein armes Mädchen, das gerade, als es am wenigsten darauf gefaßt war, von dem reichen, blasierten Herrn geheiratet wurde, dem berühmten Konzertvirtuosen, der sich als Student verkleidet hatte, oder dem inkognito reisenden Fürsten. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf David. Er hatte den Hut abgenommen und seinen Mantel ausgezogen. Im Dunkel erkannte sie den langen dünnen Hals, das mürrische, wie schlaftrunkene Profil und das wellige, von Brillantine glänzende Haar. Sie suchte seine Hand, und David ließ sie gewähren. Zuweilen wandte er ihr das Gesicht zu, um ihren Blick zu erwidern. Er schien jetzt ruhig und gut gelaunt zu sein. Aber plötzlich stieß er ihre Hand zurück und rückte von ihr ab. »Diese Hitze!« stöhnte er. »Man erstickt ja förmlich.« Eingeschüchtert ließ sie ihn in Ruhe und richtete die Augen wieder auf die Leinwand, und nun fand sie David da unten, mitten auf dem großen, grauen Quadrat im Hintergrund des Saales; er hatte zärtliche und leidenschaftliche Augen, er zündete sich eine Zigarette mit behandschuhten Händen an, er tanzte und küßte im Smoking. Und ihr, verloren in der Menge, genügte es, ihm zuzusehen, ihn zu bewundern und aus der Ferne anzubeten. Sie lebte derart in dem Film, daß sie, als sie nach der Vorstellung mit den anderen das Kino verließen und David, ihren Arm pressend, ihr mit unvermittelt zärtlicher Stimme den Vorschlag machte, sie über den Stadtwall nach Hause zu bringen, erschrocken zusammenfuhr. Es war immer wieder ein bitteres Erwachen.

»Es dauert ja kaum länger«, drängte David sie.

»Es ist schon spät. Mama erwartet mich bis zwölf Uhr zurück«, versuchte sie, ihm zu widersprechen. »Außerdem ist es kalt. Der Weg wird naß sein.«

Sie wollte ihm nicht sofort nachgeben und suchte Zeit zu gewinnen.

Vor dem Eingang zum Kino fehlte nie das alte Frauchen im langen grauen Rock, mit dem schwarzen Umhängetuch und den Handschuhen mit halben Fingern, das in die Glut eines kleinen Ofens blies, auf dem Kastanien rösteten. Ob er nicht ein paar geröstete Maronen essen wolle, fragte Lida. Wenigstens würden sich inzwischen die Leute verlaufen haben.

Wieviel schöner wäre es, überlegte sie, wenn sie durch die Stadt nach Hause gingen! Der Nebel war inzwischen so dicht geworden, daß die gelben Lampen der Straßenlaternen kaum noch zu sehen waren. Bei diesem Nebel hätte niemand sie erkannt, selbst wenn sie durch das Stadtzentrum, ja, sogar über den Corso Giovecca geschlendert wären. Weil das Straßenpflaster so glitschig war, wären sie langsam, dicht nebeneinander gegangen, wie richtige Brautleute, und auf den Lippen und Augenwimpern hätten sie den Nebel als laue kleine Tropfen gespürt. David hätte ihr von sich erzählt, von seinem Studium und seinen Zukunftsplänen. Oder er hätte mit ihr über den Film gesprochen, vielleicht, um an ihm Kritik zu üben oder um sich über das Spiel der Hauptdarsteller lustig zu machen, aber was tat’s? Sie würden in ein Café gehen, wo er für sich einen Grappa und für sie einen Anis bestellte: Wohlig betäubt ihren Anis schlürfend, hätte sie sich auf ihr Bett und auf den Schlaf gefreut und wäre glücklich gewesen.

Und doch gab sie ihm am Ende nach.

Kaum hatten sie sich in Richtung Stadtwall entfernt, als in den kleinen Gruppen von Soldaten und jungen Burschen, die noch, eine Zigarette rauchend oder Maronen essend, vor dem Kinoeingang standen, schon Gelächter, Pfiffe und unflätige Worte laut wurden. Es nutzte ihnen nichts, daß sie schneller gingen. Die Entfernung schien die Stimmen nur noch gellender, noch durchdringender zu machen. Pfiffe und Gelächter verfolgten sie bis ins Dunkel, waren wie eiskalte, ekelhafte Hände, die nach Lida greifen, sie unter dem Kleid berühren wollten.

An der ersten dunklen Stelle, auf der ersten Wiese, warf David sie ins Gras. Das Kinn über seiner Schulter gab sie sich ihm mit aufgerissenen Augen hin.

Sie stand zuerst wieder auf. Hatte sie in einem bestimmten Augenblick den plötzlichen Wunsch verspürt, sich mit Gewalt von seinem Körpergewicht freizumachen, ihn zu beißen und ihm wehzutun (David erschlaffte sofort; er sackte mit seinem langen Rücken über ihr zusammen und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie fallen), so geschah es nun, daß ihr Ärger und ihre Wut, die sie zuletzt dazu vermocht hatten, David von sich zu schieben, einer Art von Angst wichen. Sie beeilte sich, Davids Kleidung noch vor ihrer eigenen in Ordnung zu bringen. Wie weit fort war er schon von ihr, wie nichtig war sie ihm geworden! Und doch konnte sie ihm keine Vorwürfe machen … Hatte sie etwa nicht gewußt, welches Ende der Abend nehmen würde? Von dem Augenblick an, als sie vor die Haustür gelaufen war und er sie, fast ohne sie zu begrüßen, am Arm genommen und eilig mit ihr den Weg zum Stadtwall eingeschlagen hatte, von diesem Augenblick an war alles nur allzu klar gewesen.

Sie machten sich wieder auf den Weg.

Wenn David doch etwas sagen, wenn er wenigstens den Versuch machen wollte, dieses furchtbare, sie immer tiefer trennende Schweigen zu überbrücken!

Sie fragte ihn zum Beispiel:

»Wie heißt deine Mutter mit Vornamen?«

Und da David nicht antwortete, gab sie selbst an seiner Stelle die Antwort.

»Teresa«, buchstabierte sie.

War es nicht komisch und rührend zugleich, daß sie ihm solche Fragen stellte und sie sich selbst beantwortete?

»Und Marina«, fragte sie weiter, »wie heißt deine Schwester Marina?«

Sie lachte laut heraus. Dann wiederholte sie:

»Ma-ri-na«, wobei sie wieder wie eine Schülerin, die ihre Lektion aufsagt, das Wort in seine Silben zerlegte.

Er gähnte und beschleunigte den Schritt auf dem von der Kälte hart gewordenen Boden. Aber er begann endlich zu sprechen.