E-Book-Ausgabe 2017

© Juliana Kálnay

© 2017 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © imagebroker/Ingeborg Knol.

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ISBN: 9783803142177

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3284 0

http://www.wagenbach.de/

»Das Haus würde fertig sein,

wenn alles Innenwelt geworden wäre.«

César Aira: Gespenster

Prolog einer Bewohnerin

An dem Tag, an dem meine Mutter von einem vorbeihuschenden Schatten so erschreckt wurde, dass sie auf der Treppe die Kiste mit dem Geschirr fallen ließ und die bunten Scherben über die Stufen sprangen; an dem Tag, an dem mein Vater, vom selben Schatten überrascht, einen Schrei ausstieß, den man angeblich noch drei Straßen weiter hören konnte, und sie beide in das Haus mit der Nummer 29 zogen, wurde ich geboren. Zumindest erzählten sie das, wenn ich sie fragte. Sie sagten: Rita, wie du mit uns in dieses Haus kamst, zwischen Kisten und Scherben. Fragte ich nicht, erzählten sie etwas anderes, aber darum soll es hier nicht gehen.

Damals stand das Haus fast leer. Später zogen weitere Bewohner ein, und es wurden sehr viele. Fast dreimal so viele wie in den letzten Jahren wohnten früher hier. Mit der Zeit wurden es dann wieder weniger. Einfach so.

Als meine Eltern starben, hatte der Rolmar, den später alle den Alten nennen würden, gerade gelernt, vom Balkon heraufzubrüllen, wenn jemand kam. Oder war er erst danach eingezogen? Jedenfalls konnte er irgendwann auch die Fassade hochklettern von unten bis in den obersten Stock und dann durch ein Fenster rein, nur mit einem Strick um den Bauch gebunden, der an der Balkonbrüstung befestigt war.

Trotzdem, wann immer jemand davon erzählen will, was geschah in dem Haus mit der Nummer 29, meint er meist die letzten Jahre. Vielleicht, weil in dieser Zeit mindestens dreimal so viel geschah wie in den Jahren zuvor.

Ich sehe nicht alles, was in diesem Haus vor sich geht. Manchmal sehe ich etwas auf der Straße, da fällt etwas herunter, man hört einen lauten Knall und dann wird es wieder still, bis alle darüber reden. Manchmal sehe ich etwas auf der Straße, wenn es nicht zu kalt ist und ich auf dem Balkon bin, tagsüber.

Ich habe einen Spiegel aufgestellt auf dem Balkon. Einen großen Ganzkörperspiegel mit Rahmen gegen die Wand und parallel zur Brüstung gelehnt. Wenn man hineinschaut, kann man ein Stück von der Straße sehen, ohne sich hinunterzubeugen. Er spiegelt das Sonnenlicht und könnte die Autofahrer blenden, doch bis jetzt ist noch niemand verunglückt.

Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden. Manchmal reden alle durcheinander und fallen sich ins Wort. Und manchmal, wenn etwas geschehen ist, das alle betrifft, frage ich herum und versuche herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Denn alles habe ich nicht gesehen in diesem Haus.

Rita? Bist du es?

Erdgeschoss, rechts: Maias Löcher

Als Maia verschwand, hatten wir uns zuerst nichts dabei gedacht. Maia verschwand des Öfteren. Manchmal auch für längere Zeit.

Schon immer hatte sie gern Verstecken gespielt. Wir fanden sie dann nach langem Suchen in der Badewanne hinterm Vorhang, im Backofen oder in der Waschmaschinentrommel. Später fing sie an, Löcher zu graben. Sie grub Löcher in den Sandkasten, bis sie mit ihren Fingernägeln auf Beton kratzte. Sie grub Löcher in den Garten und setzte sich hinein. Sie grub drüben im Park und draußen hinterm Haus. Sie grub sich mit ihren Händen durch Sand, Schlamm oder Blumenerde. An ihrem Haaransatz klebten am Abend meistens noch Erdkrümel.

Maias Löcher wurden mit den Jahren immer tiefer. Oft setzte sie sich in ihr Loch hinein, deckte es mit Laub oder Zweigen zu und blieb dort, bis wir sie suchten, oder aber bis jemand über sie stolperte. Wir hatten es schon lange aufgegeben, nach ihr zu rufen, wenn sie verschwand. Sie hätte uns nicht geantwortet und wäre ebenso wenig freiwillig aus ihrem Versteck gekrochen. Maia hat fast nie gesprochen, sie brauchte es nicht. Wenn sie etwas mitteilen wollte – und das kam sowieso nur selten vor –, verstanden wir sie auch ohne Worte.

Als der Nachbar verschwand, suchte niemand nach ihm. Aufsehen erregte im Haus allein der Baum, der eines Tages auf seinem Balkon stand. Wir aber suchten lange nach Maia. Am Abend hatten wir sie noch nicht gefunden, und als sie drei Tage später immer noch nicht da war (mehr als zwei Nächte hatte sie bisher nie in einem Loch verbracht), fingen wir an, uns Sorgen zu machen. Wir wussten nicht weiter und taten schließlich das, was wir aus dem Fernsehen kannten: Wir riefen die Polizei, ließen Maias Foto in der Zeitung drucken und hefteten es an Laternenpfähle. Die Polizei brachte Spürhunde mit, die an Maias Wäsche schnüffelten, und wir liefen mit ihnen jedes Fleckchen Grün an den Straßen ab. Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs mit unserer Sorge auch der Suchradius: Längst waren auch die Parks und Gärten der Nachbarviertel durchforstet worden. Blätter und Zweige mit Erdbröckchen hatten sich in unseren Haaren festgeklettet. Von Maia aber fehlte immer noch jede Spur.

Die Kinder im Haus

Die Kinder im Haus sagten, Maia käme dorther, wo es immer Nacht sei. Sie sagten auch, sie hätte die Hände eines Tieres, und wenn sie spreche, müsse man sich die Ohren zuhalten, so schrille Töne gebe sie von sich. Doch darüber konnten wir Älteren nur den Kopf schütteln. Wenn sie wirklich Töne von sich gebe, erwiderten wir, müsste dies in so hohen Frequenzen sein, dass unser Gehör sie nicht mehr wahrnehmen konnte.

Manchmal kamen die Kinder abends mit erdverschmierten Fingern und Fußsohlen nach Hause. Sie sagten, sie hätten mit Maia gespielt. Verstecken nannten sie es. Doch Maia fanden sie dabei nie, und wir konnten uns nicht vorstellen, dass sie jemals nach ihnen suchte.

3. Stock, links: Blütezeit

Nachdem die Saat gepflanzt ist, muss sie regelmäßig gegossen werden, damit sie kräftig und gesund wächst, hatte ich einmal gelesen. Ich schluckte jeden Tag eine Tablette mit einem Glas Wasser herunter. Der Doktor hatte gesagt, nur so könne ich wieder aus mir herauswachsen, nachdem ich mich den ganzen Winter über zu den Kartoffeln in den Keller verkrochen hatte.

Ich nahm meine Tabletten täglich und morgens ein warmes Fußbad – mir war irgendwie nach Wasser unter den Zehen. Als im März meine Fußnägel allmählich grün wurden, hörte ich damit auf. Da alles Schrubben und Feilen nichts half, schnitt ich die Nägel mit einer Gartenschere ab. Manchmal denke ich, ich hätte das besser nicht getan. Sie wuchsen daraufhin kräftiger nach und erinnerten in ihrer Beschaffenheit an pflanzliche Triebe.

Einen Monat später kitzelten mir die längsten Sprossen die Knie, als würde ich durch hohes Gras laufen. Wenn ich nieste, schoss grüner Pflanzensaft aus meiner Nase und aus meinen Ohren wucherte es nur so.

Meine Frau Lina, stolze Besitzerin eines grünen Daumens, die sich schon immer einen Garten mit Laubbäumen gewünscht hatte, stellte mich auf den Balkon. Sie sagte, nur dort bekäme ich genügend Sonne ab. Meine Frau war es auch, die mir täglich Wasser in die Stiefel goss, als im Herbst meine Zehen Wurzeln geschlagen hatten und eine mächtige Baumkrone mir die Sicht versperrte. Sie löste meine Tabletten im Gießwasser auf und summte mir unbekannte Melodien vor, während sie mir die Äste ins Gesicht kämmte. Als ich den Stiefeln zu entwachsen drohte, zerschnitt Lina Leder und Sohle, bevor sie mich in einen wannengroßen Topf pflanzte. Meine Wurzeln konnten wieder atmen. Sie krallten sich in die feuchte Erde, über der meine Frau ein paar Tabletten zerbröselt hatte. Ihre Melodien änderten sich nicht.

Im darauffolgenden Frühling brüteten in meinen Achselhöhlen Rotkehlchen, und im Spätsommer besuchten mich die Kinder aus dem Viertel täglich, um von den Früchten, die ich trug, zu kosten. Nachmittags kochte Lina daraus Marmelade, deren Geruch zum Fenster herausströmte und die ganze Nachbarschaft anlockte. Sie erzählte mir, noch ein paar Tage vor ihrem Verschwinden hätte sie Maia ein Glas geschenkt.

Ich kann mich nicht erinnern, dass in unserer Gegend je ein Baum so beliebt gewesen wäre. Es dauerte nicht lange, da gingen die üblichen Engagierten mit Unterschriftenlisten herum. Ich sollte als Sehenswürdigkeit angemessen ausgeschildert werden. Die Anzahl derer, die mich besuchten, wuchs genauso prächtig wie mein Blattwerk. Bereits im nächsten Frühjahr konnte ich der Besucherschlange bis quer über den Bürgersteig Schatten spenden. Obwohl ich anfangs meine Zweifel gehabt hatte, muss ich zugeben: Der Doktor hat recht behalten. Doch daran, dass ich früher selbst durch die Straßen gelaufen war, konnte sich bald niemand mehr erinnern.

1. Stock, rechts: Was Rita sagte

Rita sagte nicht viel, als Maia verschwand. Sonst hatte sie immer etwas zu sagen, kommentierte alles, was in diesem Haus geschah, auch wenn man nicht fragte. Es war besser, wenn man sie einfach reden ließ. Dann konnte es geschehen, dass Rita Dinge erwähnte, die sonst niemand wusste und von denen auch Rita eigentlich nichts wissen konnte. Manchmal sprach sie in Rätseln, die man nicht verstand. Don, was hast du nur heute für ein Obstgesicht!, rief sie, wenn sie ihn die Treppe hinuntergehen sah, und alle, die es hörten, runzelten die Stirn. Mit ihren Worten kannte sie kein Erbarmen, das sagte vor allem E. Wo denn Don neue Wurzeln geschlagen habe, fragte Rita einmal Lina im Hausflur, und E. spitzte die Ohren (wie er immer die Ohren spitzte, wenn es um Lina ging), und fast konnte man meinen, dass Rita wusste, worum es eigentlich ging, und nur in eine Kerbe schlagen wollte, doch Lina lächelte und erwiderte: in seinem Topf, wo denn auch sonst, und allen, die zuhörten, war es, als würden die beiden in einer geheimen Sprache sprechen.

Rita sagte nicht viel, als Maia fort war, als die Mitglieder ihrer Familie von den vielen Nächten, in denen sie die Grünflächen der Nachbarschaft nach Löchern absuchten, einheitlich dunkle Augenränder bekamen. Löcher seien das Salz in der Suppe, sagte Rita. Sie sagte: Über Löchern wohnen wir. Sie sagte: Einmal nahm ich sie an die Hand und führte sie hinters Haus. Den Namen Maia sprach sie nicht aus und sie erwähnte auch nicht ihr Verschwinden. Es war, als schwiege sie sich Maia zu Ehren darüber aus.

Stattdessen sagte sie anderes, und vieles davon verstanden wir nicht. Sie sagte: Linas Marmelade. Sie sagte: Es ist kalt geworden, mach doch einer ein Feuer irgendwo. Sie sagte: Es ist kalt geworden, ich sollte wieder anfangen zu stricken, bevor es noch kälter wird.

Und dann schlug sie die Wohnungstür hinter sich zu, und ein paar Tage lang sah man sie noch nicht einmal von ihrem Balkon im ersten Stock herunterblicken, wie sie es sonst so oft tat.

4. Stock, links: Geister

Sie waren eingezogen, ohne dass jemand sie dabei gesehen hatte. Manche behaupteten zwar, spätabends sei ein Umzugswagen durch die Straße gefahren und morgens hätten noch Kartons im Treppenhaus gestanden, doch die Wills selbst waren niemandem aufgefallen.

Wenn sich die Wills über ihr Balkongeländer beugten, könnten sie auf die Krone des Baumes hinabblicken, der auf dem Balkon unter ihnen wuchs. Schon bald würde er auch den Will-Balkon überwuchern. Aber niemand hatte die Wills je auf ihrem Balkon gesehen. Eigentlich hörte man sie immer nur. Deshalb wusste man, dass sie da waren. Besonders nachts hörten die chronisch Schlaflosen im Haus Stimmen aus der obersten Wohnung und Lärm, als würden Möbel verrückt. Manche meinten, das Licht gehe bei den Wills in kurzen Abständen an und aus, doch den Zeugenaussagen der chronisch Schlaflosen wurde im Allgemeinen nicht viel Vertrauen geschenkt. Eher glaubte man denen, die behaupteten, sie hätten morgens den Mantelzipfel eines Wills um die Ecke wehen sehen oder das Absatzklackern einer Will im Treppenhaus gehört. Wie viele Mitglieder zum Will-Haushalt zählten, wusste niemand. Auf dem Briefkastenschildchen stand nur Will, in schlichten Blockbuchstaben. Manche vermuteten, dass sie auch eine Katze hatten, warum, konnte allerdings keiner genau begründen.

Bald waren die wildesten Theorien darüber im Umlauf, wie die Wills aussahen, vor allem aber, welcher Beschäftigung sie nachgingen. Man war sich einig, dass es sich um nichts Rechtschaffenes handeln konnte: Schmuggler, die nachts mit dem Lichtschalter Morsesignale sendeten, Ex-Mafiosi in einem Zeugenschutzprogramm oder Geldfälscher mit einer großen Druckerpresse, die sie nur nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Schrank holten, aufbauten und in Betrieb nahmen.

Einige Bewohner wollten ihre Vermutungen bestätigt wissen und begannen, das Treppenhaus zu überwachen. Irgendwann mussten die Wills sich doch sehen lassen. In einer Tabelle wurden Türspion Dienste eingetragen. Das funktionierte ziemlich gut, irgendjemand war immer zu Hause, und seit bei Lina ein Baum auf dem Balkon wuchs, gingen sowieso ständig Besucher ein und aus, also wurde es auch nicht langweilig, das Lauschen auf Schritte. Manche stellten sich sogar abwechselnd vor Briefkästen und Eingangstür. Ein Stuhl, eine Decke, eine Thermoskanne mit Kaffee. Vormittags kam der Briefträger. Abends schaute oft noch eine Zeitung aus dem Will-Briefkasten heraus. Für die Nachtschichten wurden bevorzugt die chronisch Schlaflosen eingeteilt. Doch am Morgen war der Briefkasten der Wills immer geleert, und nachts hörte man weiter aus ihrer Wohnung die Stimmen und das Möbelrücken, ohne dass jemand die Wills gesehen hätte.

Nur von Maia hieß es, einmal habe sie einen der Wills im Keller getroffen. Sie sagte aber nicht, wie er ausgesehen oder ob er sie angesprochen hatte. Und auf Nachfragen schaute sie einen nur stumm mit ihren zusammengekniffen Augen an. Ihre Familie bat darum, Maia in Ruhe zu lassen, und damit war die Sache erledigt.

Nach ein paar Wochen schließlich schlug einer vor, unter einem Vorwand bei den Wills zu klingeln, vorzugeben, irgendwas zu verkaufen oder eine Befragung durchzuführen, am Ende tat es niemand.

Es gab Themen, die die Bewohner der Nummer 29 gerade mehr beschäftigten: Drüben suchten sie nach Maia. Ob sie wirklich einmal einen Will gesehen hatte und ob dieses zufällige Treffen womöglich gar mit ihrem Verschwinden zu tun hatte, darüber vermied man zu sprechen, wenn Maias Familie in Hörweite war. Trotzdem versuchten Einzelne noch ab und zu, die Post aus dem Will-Briefkasten zu fischen. Dabei flatterte, neben den nichtssagenden, an Familie Will adressierten Umschlägen des Elektrizitätswerks, auch Maias Vermisstenmeldung heraus. Mit hastigen Handgriffen wurde alles wieder in den Briefkasten gestopft.

Als manche daraufhin beschlossen, heimlich in die Will-Wohnung einzusteigen, schien Linas Balkon dafür eine gute Möglichkeit zu bieten. Es sollte nachts geschehen, um weniger Aufsehen zu erregen. Lina selbst war wenig überzeugt von der Aktion, doch schließlich ließ sie sich überreden, Wohnung und Balkon für eine Nacht zu öffnen. Einige hatten Seile mitgebracht, andere ihre gesamte Bergsteigerausrüstung. Für die beste Idee hielt man es jedoch, auf den Baum zu steigen und dann über die dicksten Äste hoch bis zum Will-Balkon. Der Leichteste war zugleich der Mutigste. Doch beim Versuch, von einem der Äste auf den Balkon zu springen, brach der Ast ab, und der eben noch so Mutige fiel mit einem lauten Ächzen – es schien fast, als käme das Ächzen direkt aus dem Baum – zurück auf Linas Balkon. Diese schnaubte wütend, scheuchte alle hinaus. Als sie die Tür schloss, hatte sie eine Gießkanne in der Hand. Die chronisch Schlaflosen erzählten später, in dieser Nacht habe man nicht nur die Wills gehört, sondern auch Lina, die sich an ihren Baum schmiegte und dabei sang.

Nachdem Maia aber nicht zurückkehrte und die Polizei regelmäßig durch die Straße fuhr, hörte man von den Wills nichts mehr, und ein paar Wochen später hing ein Schild mit Maklertelefonnummer am Balkongeländer. Niemand hatte gesehen, wie es aufgehängt worden war.

Auf dem Boden

Nachdem die Wills verschwunden waren, stand ihre Wohnung lange Zeit leer. Du warst der Einzige im Haus, der sich dorthin wagte. Manche hielten sie sogar für verflucht. Vielleicht zu Recht.

Wenn ich dich fragte, was du dort oben suchtest, sagtest du: die Ruhe. Du könnest dich auf den Holzboden legen, die Arme weit ausgebreitet, nach oben schauen und nichts sehen als die Deckenbalken, und aufstehen, dich um die eigene Achse drehen und nichts sehen als Wände. Nur weiß sei es um dich herum, bis auf den Boden, von den Wills oder ihren Möbeln nicht eine Spur.

Du hast erzählt, dass du manchmal, wenn du so da oben lagst, einschliefst. Wenn du dann aufwachtest, riebst du dir den Staub von Nase und Mundwinkeln. Staub, das sei das Einzige, was dort an das Verstreichen von Zeit denken ließ.

Es gab Tage, an denen dachtest du daran, dass die Wohnung einmal vermietet werden würde und du dann nicht mehr hochkommen könntest. An diesen Tagen erzähltest du nicht viel, also lehnte ich meinen Kopf an deine Schulter und sagte auch nichts. An anderen Tagen dachtest du, dass, wenn dir hier etwas zustoßen würde, Monate vergehen könnten, bis dich jemand fände. Obwohl man nach dir suchen würde wie nach Maia. Ich glaube, nur deshalb hast du überhaupt angefangen, mir von da oben zu erzählen.

Wir standen auf dem Bürgersteig, genau dort, wohin nachmittags der Schatten von Linas Baum fiel. Du fragtest mich, ob ich noch wüsste, wie du dir einmal beim Versuch, auf den Will-Balkon zu klettern, den Arm brachst. Natürlich. Du hast geglaubt, der Baum hätte dabei geächzt, und als sie dir den Verband abgenommen hatten, fühlte sich die Haut auf deinem Arm auch ein bisschen wie Rinde an. Du hast mir erzählt, dass du dich seit deinem Sturz eigentlich nur dort oben so richtig wohlfühlen würdest. Erklären wolltest du das nicht.

Man hielt dich immer für besonders mutig. Toni macht den ersten Schritt und dann ziehen die anderen nach, haben sie immer gesagt. Aber ich wusste, wenn es um Worte ging, warst auch du mal feige. Gabst lieber vor, nichts gehört zu haben. Als gäbe es dazu auch gar nichts zu sagen. Ich glaube, als du mich das erste Mal geküsst hast, tatest du es nur, um nicht zu antworten, um mich zum Schweigen zu bringen, damit ich nicht weiter fragte, warum du dich mit deinem Bruder gestritten hattest. Das war auf der Wiese hinterm Haus, du rochst nach feuchtem Gras und süßem Kaugummi. Später konnten wir gar nicht damit aufhören. Versteckten uns im Aufzug und, wenn es dunkel wurde, im Hauseingang, während deine Mutter schon zum Essen rief. Meine hat nie gerufen.

Überrascht hat es niemanden, das mit uns. Hängen aneinander wie die Früchte am Baum, haben sie über uns gesagt, schon von klein auf. Kaum aus der Wohnungstür raus, hatten wir den gleichen Weg, zum Spielplatz, zur Schule. Am ersten Tag nach den Ferien nahmst du mich bei der Hand die Treppen runter.

Die Treppen rauf hast du meine Hand nicht genommen, dieses eine Mal, als du sagtest, ich solle doch mitkommen in die Will-Wohnung. Ich wollte zuerst nicht, aber dann habe ich doch zugestimmt. Ich habe mich aber nicht wohlgefühlt da oben. Na gut, wir waren ungestört, aber der Raum so ganz ohne Möbel, der harte Boden und der Staub, der sich in meine Haare legte. Wenn es ganz still war, bildete ich mir sogar ein, jemanden singen zu hören. Eine Frauenstimme. Du hast nur den Kopf geschüttelt.

Danach wollte ich dir nie wieder in diese Wohnung folgen. Langsam glaubte ich den Gerüchten und misstraute deiner Besessenheit. Beinahe täglich suchtest du nun die Ruhe dort oben. Seltsam, dass dich nie jemand dabei erwischte, wie du dort einstiegst. Ich hatte fest vor, mein Versprechen zu halten, und begleitete dich nicht mehr. Aber an dem Tag, als du nicht zum Essen kamst und man mich fragte, ob ich nicht wüsste, wo du stecktest, wusste ich, wo ich zu suchen hatte.

Flur, horchend

Irgendwas stimmt da nicht.

Du meinst die Wohnung da oben?

Genau, die im Vierten.

Diese wo früher die Wills?

Das war ja schon komisch mit denen.

Sich so zu verstecken.

Überhaupt diese Wohnung.

Ständig jemand ein- und wie der ausgezogen.

Ja, davor die Grans und die Lovo und davor … ich weiß nicht mal mehr, wie die hießen.

An die erinnere ich mich gar nicht.

Sind ja nur kurz hier gewesen, wie alle anderen auch. Nie länger als zehn oder zwölf Monate hat dort jemand gewohnt, zumindest nicht, seit ich zurückdenken kann.

Warum eigentlich?

Haben manche Wohnungen so an sich.

Ob du weißt, wem grad-

Nicht mehr vermietet worden, das habe ich mitbekommen. Die von der Immobilie müssten noch den Schlüssel-

Jemand finden müsste man, jemand Vertrauenswürdiges.

Ob du sie denn nicht haben willst?

Du brauchst doch mehr Platz.

Ach, ich weiß nicht. So richtig wohl ist mir ja auch nicht bei dem Ganzen.

Irgendwo im Treppenhaus: Die rostfarbene Tür

Als ich klein war, hatte ich die Angewohnheit, im Treppenhaus rauf und runter zu rennen, bis meine Mutter nach mir rief. Sie musste mich dann wieder einfangen. Manchmal entwischte ich ihr auch, ohne dass sie es merkte. Dann lief ich eine Weile im Treppenhaus auf und ab, bis jemand auf mich aufmerksam wurde und mich zurück in die Wohnung brachte. Huch, sagte meine Mutter dann, huch, da bist du ja wieder. Und als ich das nächste Mal verschwand, merkte sie es trotzdem nicht.

Einmal landete ich plötzlich vor einer rostfarbenen Tür. Ich kann im Nachhinein nicht sagen, ob ich die Treppen hinauf oder hinunter gegangen war, geschweige denn, ich welchem Stock ich mich befand. Aber ich denke, es kann nicht allzu weit oben gewesen sein, im zweiten oder dritten Stock vielleicht. Was ich wusste, war, dass ich diese Tür noch nie zuvor gesehen hatte. Eine Tür in der Farbe von Rost, das wäre mir doch aufgefallen! Ich streckte meinen Arm aus und drückte die Klinke hinunter.

Es war nur ein schmaler Raum. Länglich, ein Flur beinahe. An einer der Wände war ein Fenster. Es stand offen, dachte ich zunächst, sah das auf dem Boden liegende Laub, das der Wind wohl hineingeweht hatte. Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich die dazwischenliegenden Scherben. Kein Wunder, dass es hier so kalt war. Trotzdem ging ich weiter in den Raum hinein, hörte die Scherben unter meinen Schritten knirschen. Unter den Blättern raschelte es. Käfer, dachte ich, Spinnen, dachte ich, kleines Getier, bei einer Schnecke würde es knacksen.

Ich vermutete am anderen Ende des Flures eine weitere Tür und wollte sehen, was sich hinter ihr verbarg. Es war ein sehr langer Flur, und ich hatte die Tür noch nicht erreicht, da hörte ich ein Geräusch. Ein dumpfes Poltern. Etwas sehr Großes, Schweres, das umfiel, umgestoßen wurde gar. Und obwohl sich in diesem Raum gar nichts befand, das ich hätte umstoßen können, erschrak ich und rannte zurück. Hinaus aus dem Raum und durch die rostfarbene Tür, die hinter mir zufiel. Die Treppen hinauf oder hinunter, ich kann mich nicht erinnern.

Ich erinnere mich aber, dass ich einmal, vielleicht war es wenig später, vielleicht war auch etwas Zeit vergangen, meine Mutter nach einer Tür im Haus fragte, die zu einem langen Flur führte. Sie sah mich verwundert an und schüttelte den Kopf, sowas hätten wir hier nicht.

Nie wieder bin ich auf den Raum gestoßen. Ein paarmal habe ich nach der Tür gesucht, doch sie war nicht zu finden.

Ich habe bisher mit niemanden darüber gesprochen.

4. Stock, rechts: Kasi

Niemand darf von Kasi erfahren. Niemand darf erfahren, dass ich Kasi in meinem Bidetbecken halte. Sie würden das nicht verstehen mit Kasi. Sie würden mich für verrückt halten. Sie würden mir Kasi wegnehmen. Sie würden wer weiß was mit ihm anstellen. Ihn ins Labor mitnehmen, an ihm versuchen, bis er daran zerbricht. Sie würden mich festnehmen, einweisen, wegsperren. Niemand würde mir glauben, und dann könnte ich ihm erst recht nicht mehr helfen.

Niemand darf erfahren, dass ich Kasi in meinem Bidetbecken halte. Eigentlich habe ich ihn ja in meiner Toilettenschüssel gefunden. Ich habe Kasi gefunden und nicht geklaut oder entführt oder … Kasi ist zu mir gekommen. Kasi lag eines Morgens in meiner Toilette und hat mich angelächelt.

Dort konnte er natürlich nicht bleiben. Ich wollte nie, dass Kasi etwas zustößt. Wissen Sie, ich habe nie Kinder gehabt. Ich hatte noch nicht einmal einen Hund. Kasi war wie ein Sohn für mich. Ich habe ihn in meiner Toilettenschüssel gefunden und er hat mich angelächelt, und da wusste ich, er würde ein Sohn für mich sein. Und dann habe ich ihn in mein Bidet gesteckt.