Cover Image

 

Sabine Klewe

Schattenriss

Kriminalroman

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

 

 

© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-3150-0

Für Nina, die mich auf die Idee brachte.

1

 

Grabsteine strahlen immer eine solche Beschaulichkeit aus. Katrin betrachtete die Schwarzweißabzüge, die sie gerade fixiert, gewässert und zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie war am Vorabend auf dem Südfriedhof gewesen. Das ganze Wochenende lang hatte es geregnet, aber gestern, am Montag, war es dann endlich trocken geblieben, und nachmittags kam sogar ein wenig die Sonne heraus. Der immer noch drohend dunkle Himmel mit den schweren Wolken und das fahle Abendlicht hatten für eine stimmungsvolle Atmosphäre gesorgt.

Katrin schritt langsam die Reihe Fotos ab. Mit kritischem Blick begutachtete sie ihre Arbeit. Schmale Wege, säuberlich gepflegte Blumenbeete und hohe, alte Bäume. Die tief stehende Sonne bewirkte, dass die blassen Schatten der Steine wie transparente Leichentücher über den Gräbern lagen. Ein Bild war ein wenig kitschig, ein einzelnes steinernes Kreuz im Sonnenlicht, daneben ein verwilderter Rosenbusch, üppig blühend. Das würden sie mit Sicherheit wählen. Fremde suchten oft gerade die Fotos aus, die Katrin eigentlich ein wenig zu überladen fand.

Ihr selbst gefiel ein anderes Bild besonders gut. Sie hatte es ganz zum Schluss noch aufgenommen, wenige Minuten bevor der Friedhof schloss. Sie hatte Fotoapparat und Stativ bereits wieder in der Tasche verstaut und war auf dem Weg zum Ausgang, als ihr dieses besonders schöne Motiv ins Auge stach. Also hatte sie die Kamera noch einmal herausgekramt und sich auf den Rasen gekniet, um die richtige Perspektive zu erhalten. Ihr linkes Knie war im regennassen Gras feucht und schmutzig geworden. Aber es hatte sich gelohnt. Die Aufnahme war wunderschön. Eine Reihe etwas älterer, grauer Grabsteine, dahinter eine Gruppe windschiefer, junger Birken. Auf dem vordersten Stein befand sich zuoberst eine kleine Figur. Sie stand etwas seitlich verdreht, war offensichtlich schon einmal heruntergefallen und ohne große Sorgfalt wieder hingestellt worden. Es handelte sich um einen Engel, die Hände zum Gebet gefaltet, von dessen linken Flügel ein Stück abgebrochen war. Sie hatte eine Gegenlichtaufnahme gemacht, und die Sonne strahlte die Statue von hinten an, sodass es aussah, als wäre sie von einer Aura aus Licht, einem bleichen, hauchdünnen Heiligenschein umgeben.

Katrin knipste die Lampe aus und ging in die Küche. Sie hatte noch nicht gefrühstückt. Jetzt schüttete sie eine Portion Müsli in eine Glasschüssel, gab Milch dazu und stellte sie auf den Tisch. Rupert strich laut schnurrend um ihre Beine und sah sie mit großen, bettelnden Augen an. Sie musterte den Kater mit strengem Blick, danach kramte sie seufzend ein zweites Schälchen aus dem Schrank und füllte es mit Trockenfutter aus einem Pappkarton. »Hier, du alter Bettler. Du tust gerade so, als hättest du heute noch nichts gehabt.«

Sie hockte sich auf den Boden und strich ihm sanft über das orangebraune Fell. Dann goss sie sich einen Becher Kaffee ein. Bevor sie sich an den Tisch setzte, schaltete sie den kleinen Fernseher auf der Arbeitsplatte an.

Es lief gerade eine Zeichentrickserie für Kinder. Danach begannen die Regionalnachrichten. Katrin hörte kaum zu. Sie überlegte, was sie heute alles zu erledigen hatte. Sie musste den Verlag wegen des Kalenders anrufen, die Rechnung für den Auftrag von letzter Woche schreiben, und dann konnte sie am Nachmittag ihrer Mutter die Abzüge vom Friedhof vorbeibringen.

Lauter lästiger Kleinkram. Nicht das, wovon sie geträumt hatte, als sie beschloss, Fotografin zu werden. Sie hatte sich ausgemalt zu reisen, die Welt mit ihrer Kamera zu entdecken und für spannende Bildbände exotische Länder zu erforschen. Sie hatte sich auf Safaris in Zentralafrika gesehen, in der beschaulichen Stille eines indonesischen Tempels oder in den winkeligen Gassen einer pulsierenden Metropole. Vielleicht würde man ihre besten Aufnahmen sogar irgendwo ausstellen und sie würde Preise dafür bekommen. Aber aus ihren Träumen war nichts geworden, zumindest bisher nicht. Stattdessen saß sie in Düsseldorf fest, knipste Kalenderbilder oder Hochzeiten und ergatterte hin und wieder mal einen Auftrag von einer Zeitschrift.

Rupert sprang auf den Tisch. Er hatte sein Schälchen bereits geleert und jetzt schlich er laut schnurrend um Katrins Müsli. Sie griff nach dem Kater und platzierte ihn energisch auf dem Boden.

»Du weißt genau, dass du hier oben nichts zu suchen hast. Und lass das Theater. Mehr gibt es nicht.«

Rupert äugte vorwurfsvoll zu ihr hoch, während sie versuchte, so ungerührt wie möglich ihr Frühstück zu beenden und dabei mit einem Auge die Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen.

Plötzlich hielt sie inne und fixierte den Bildschirm. Langsam ließ sie den Löffel sinken. Die Kamera schwenkte über eine Reihe Gräber. Südfriedhof. Genau dort war sie gestern Abend gewesen. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

»Es handelt sich um die Leiche eines etwa sechzehnjährigen jungen Mädchens, das bisher noch nicht identifiziert werden konnte. Die Polizei bittet um Hinweise, die Aufschluss über die Identität der Toten geben können.« An dieser Stelle wurde ein Foto der Leiche eingeblendet, grobkörnig und dunkel. Das Gesicht mit den geschlossenen Lidern wirkte ausdruckslos und starr. Katrin schauderte. Ob das Mädchen ermordet worden war? Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Das dort auf dem Bildschirm hätte genauso gut ihr Gesicht sein können. Sie war am Tatort gewesen. Gestern Abend. Vielleicht hatte der Mörder schon irgendwo gelauert und auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Dann erschien die Sprecherin im Studio. Sie verlas die Telefonnummer der zuständigen Polizeidienststelle. Während sie sprach, wurde im Hintergrund eine Aufnahme des Tatorts gezeigt.

Katrin legte die Fernbedienung auf den Tisch. Sie starrte auf das kleine Fernsehgerät, als wollte sie das Bild in sich einsaugen. Das Stück Friedhof war mit rotweißem Plastikband abgesperrt, auf der rechten Seite parkte ein Polizeiwagen und der Rücken einer Person versperrte den Blick auf die linke Bildhälfte. Trotzdem erkannte sie die Stelle sofort. Die Reihe alter Grabsteine, die windschiefen Birken. Es war fast identisch mit ihrem eigenen Foto. Nur der kleine Engel mit dem abgebrochenen Flügel fehlte.

 

Hauptkommissar Klaus Halverstett stieg aus dem Auto und betrachtete die einförmige Reihe blaugelb gestrichener, trister Mietshäuser. Wie jedes Mal, wenn er solche trostlosen Wohnblöcke sah, dachte er mit Erleichterung an sein eigenes Zuhause. Er lebte in einem weiß verputzten, spitzgiebligen Häuschen in Gruiten, einem kleinen Ort, der auf den Hügeln oberhalb des Neandertals thronte, wo die Luft nach frisch gemähtem Gras roch und er die Nachbarn beim Namen kannte. Halverstett schlug die Wagentür zu und schloss ab. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Er seufzte. Er hasste sie, diese ersten Besuche bei den Hinterbliebenen. In all den Jahren seines Berufslebens hatte er sich nicht daran gewöhnt. Er hatte sich an den Anblick der Leichen gewöhnt, an ihre hässlichen, oft entstellten Körper. Aber angesichts des Schocks und der Trauer von Eltern, Geschwistern oder Ehepartnern fühlte er sich jedes Mal hilflos und befangen.

Gott sei Dank hatten ihm diesmal zwei Kollegen den schwierigsten Teil der Arbeit abgenommen. Vierundzwanzig Anrufe waren innerhalb von wenigen Minuten nach der Ausstrahlung des Fotos in den Regionalnachrichten eingegangen. Neunzehn Anrufer hatten den gleichen Namen genannt: Tamara Arnold, eine fünfzehnjährige Schülerin aus Eller. Sie war nicht als vermisst gemeldet. Die Kollegen hatten der Mutter das Foto gezeigt und sie hatte ihre Tochter identifiziert.

Klaus Halverstett ging die Häuserzeile entlang. Familie Arnold wohnte in Nummer dreiundfünfzig. Der Türöffner summte unmittelbar nachdem er geklingelt hatte. Er wurde bereits erwartet. Dieter Arnold empfing ihn an der Tür. Er war groß, schlank, grau meliert und trug einen hellen Anzug, Hemd und Krawatte. Er wirkte gefasst und nickte nur kurz, als der Polizeibeamte sich vorstellte. In der Wohnung roch es nach angebrannten Zwiebeln und einem stark parfümierten Putzmittel. Dieter Arnold führte Halverstett durch eine vollgestellte Diele mit schweren Eichenmöbeln. Es war vollkommen still. Der dunkle, weiche Teppich schluckte sogar den Schall ihrer Schritte. Sie betraten ein kleines, helles Wohnzimmer. Die Mittagssonne strahlte durch die Fenster. Eine ausladende Couchgarnitur mit Blumenmuster nahm fast den gesamten Raum ein. Über den Rückenlehnen der zwei Sessel und des Sofas hingen runde, weiße, offensichtlich selbstgehäkelte Deckchen und auf dem Marmortisch in der Mitte stand ein Gesteck aus blassrosa Plastiknelken. Gegenüber den beiden Fenstern befand sich eine massige mahagonifarbene Schrankwand. Alles war aufgeräumt und peinlich sauber.

In der Mitte des Sofas saß Sylvia Arnold. Sie hockte auf der vorderen Kante, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt und die Beine fest zusammengeklemmt. Ihr Blick ruhte auf ihren Händen, die flach auf dem engen, beigefarbenen Rock lagen. Auf dem Kragen ihrer lindgrünen Bluse, die sich straff um ihren fülligen Oberkörper spannte, war ein kleiner, hässlicher Fettfleck. Um den Hals trug sie eine schmale, goldene Kette mit einem schlichten Kreuz. Sylvia Arnold blickte nur kurz auf, als ihr Mann mit dem Polizeibeamten das Zimmer betrat. Dieter Arnold bot Halverstett mit einer Handbewegung einen Platz an. Der Polizist setzte sich auf einen der Sessel und suchte nach Worten, als Sylvia Arnold plötzlich anfing zu sprechen.

»Sie ist öfter Mal über Nacht weggewesen. So ist das heute. Ich hab das damals natürlich nie gedurft. Aber Tamara hatte ihren eigenen Kopf. Sie hat nur gemacht, was sie wollte. Die anderen Mädchen dürfen das auch, hat sie gesagt. Wir konnten sie ja nicht einsperren. Außerdem ist sie nie länger weggeblieben. Immer nur für eine Nacht.«

Sie verstummte so plötzlich wie sie angefangen hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte ununterbrochen auf ihre Hände, die immer noch schwer, wie versteinert, auf ihren Oberschenkeln lagen.

»Es tut mir Leid, Frau Arnold. Ich weiß, dass meine Kollegen schon hier waren, aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« Halverstett räusperte sich. »Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?« Er blickte fragend von einem zum anderen.

»Am späten Nachmittag gestern. So gegen sechs oder sieben. Sie hat gesagt, dass sie noch mal weg muss und dass sie noch nicht weiß, wann sie wiederkommt.« Dieter Arnold sprach leise, beinahe tonlos. Er war abwartend stehen geblieben, jetzt setzte er sich zu seiner Frau. Er zupfte eine unsichtbare Fluse von seinem Hosenbein. »Ist es wahr, dass man sie auf dem Friedhof gefunden hat?«

»Ja, auf dem Südfriedhof. Auf einem Grab. Wo waren Sie, als meine Kollegen mit dem Foto hier waren?«

»Arbeiten. Sylvia hat mich angerufen und ich bin sofort nach Hause gekommen.«

Halverstett holte sein Notizbuch aus der Jacketttasche.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?« Er sah Dieter Arnold an.

»Ich bin Sachbearbeiter. Bei einer Versicherung. Meine Frau arbeitet im Krankenhaus, in der Wäscherei. Heute hat sie sich allerdings krank gemeldet. Migräne.« Er schwieg einen Augenblick und musterte konzentriert den Teppich. Dann fragte er kaum hörbar:

»Wie ist es passiert?«

»Ihre Tochter hatte aufgeschnittene Pulsadern. Wir müssen von Selbstmord ausgehen. Mehr kann ich im Augenblick leider noch nicht sagen.«

Dieter Arnold hob den Kopf. In seinem Blick lag ungläubiges Entsetzen. Sylvia Arnold starrte weiterhin ausdruckslos auf ihre Hände. Nur ein leichtes Zucken in den Fingern verriet, dass sie Halverstetts Worte genau gehört hatte.

»Das kann nicht sein! Warum sollte unser Kind sich umbringen? Sie hat es gut gehabt, hat alles bekommen, was sie wollte. Sie hat sich nicht umgebracht, nicht unser Mädchen.« Dieter Arnold schüttelte heftig den Kopf. Dann fixierte er Halverstett. In seinen Augen lag Empörung und eine Spur von Panik.

»Sie hat sich nicht umgebracht«, wiederholte er beinahe trotzig, »dazu hatte sie gar keinen Grund.«

Er ergriff die linke Hand seiner Frau und drückte sie. Sylvia reagierte nicht. Halverstett hakte nach.

»Vielleicht gab es ja etwas in der Schule. War Tamara eine gute Schülerin? Oder hatte sie irgendwelche Schwierigkeiten? Hatte sie vielleicht einen Freund?«

»Tamara war sehr begabt. Ihre Lehrer haben große Hoffnungen auf sie gesetzt.«

Plötzlich fing Sylvia Arnold wieder an zu sprechen.

»Ihr fiel alles so leicht. Schon als kleines Mädchen. Sie hat so schnell begriffen. Ihre Lehrerin in der Grundschule, Frau Winter, hat immer gesagt, aus Ihrer Tochter wird mal was ganz Großes. Tamara ist sehr begabt, hat sie gesagt. Sie konnte all diese komplizierten Dinge in Mathe und so, und dabei hat sie kaum was dafür getan. Sie war ein gutes Kind.«

»Ist sie denn gern zur Schule gegangen?«

»Ja natürlich. Sie war eine vorbildliche Schülerin. Außerdem mochte sie Frau Winter besonders gern.«

»Und in letzter Zeit?«

Sylvia Arnold schwieg. Ihr Mann antwortete an ihrer Stelle.

»Sie hat ein paar Mal blau gemacht. Nicht sehr oft. Das ist doch normal in dem Alter. Sie ist fünfzehn – «, er stockte, »ich meine, sie war fünfzehn. Da hat man andere Dinge im Kopf.«

»Was für andere Dinge?«

»Was weiß ich, Freundinnen, Kino, Klamotten. Was Mädchen in dem Alter halt so interessiert.«

»Hatte sie Freundinnen?«

»Keine besonders engen, glaube ich. Sie war eine Einzelgängerin.« Dieter Arnold zögerte. Sein Blick wanderte unruhig zwischen Halverstett und der Hand seiner Frau hin und her, die er immer noch fest umschlossen hielt. »Aber sie war nicht unbeliebt bei den anderen«, fügte er dann hastig hinzu.

»Sie war ein gutes Mädchen.« Sylvia Arnold fuhr mit der rechten Hand über ihren Rock und glättete eine Falte. Ihre Finger zitterten ein wenig. Dann räumte ihr Mann ein:

»Sie war ein wenig verschlossen in letzter Zeit. Hat immer diese komischen Klamotten getragen und …«

»Was für komische Klamotten?«

Dieter Arnold suchte nach Worten. »Alles schwarz und in Leder und so merkwürdige Ketten und Armbänder. Und einmal, da hatte sie diese Handschellen im Zimmer liegen.«

»Handschellen?«

»Ach, das war nichts.« Sylvia Arnold hob zum ersten Mal den Kopf, seit Halverstett den Raum betreten hatte. Ihm fiel auf, dass sie einmal sehr hübsch gewesen sein musste. Ihr Gesicht war anziehend und ihre dunklen Augen blickten ihn ausdrucksvoll an. Ihr Doppelkinn und die unvorteilhafte, toupierte Frisur ließen sie allerdings älter wirken als sie tatsächlich war. »Das ist im Moment modern mit diesen Handschellen. Sie tragen sie als Schmuck, verstehen Sie? Tamara hatte sie am Gürtel hängen, ein oder zwei Mal. Aber dann hat sie es gelassen. Es wäre ihr zu albern, hat sie gesagt. Kinderkram.«

Hauptkommissar Halverstett stand auf. »Ich würde gern einen kurzen Blick in Tamaras Zimmer werfen, bevor ich gehe. Danach werde ich Sie heute nicht weiter belästigen. Aber ich muss Sie bitten, morgen früh aufs Präsidium zu kommen. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, Ihre Tochter noch persönlich zu identifizieren. Außerdem muss Ihre Aussage protokolliert werden.«

Katrin stieg in ihren Wagen und fluchte leise. Der Fahrersitz fühlte sich immer noch feucht an. Das Verdeck ihres Golf Cabrio war undicht. Den ganzen Winter über hatte sie damit Ärger gehabt, aber sie war zu bequem gewesen, den Schaden reparieren zu lassen. Im April war es sehr trocken gewesen, so- dass sie die Reparatur wieder und wieder verschoben hatte. Aber nach diesem fürchterlich verregneten Wochenende war das Sitzpolster natürlich wieder völlig durchnässt. Gestern auf der Fahrt zum Friedhof hatte sie daran gedacht und sich ein Handtuch auf den Sitz gelegt. Katrin seufzte, kletterte wieder aus dem Wagen und breitete ihre Jacke aus, bevor sie sich erneut setzte.

Es gab keinen Besucherparkplatz. Also stellte sie ihr Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Eingang einer Tierarztpraxis ab. Neugierig studierte sie das dunkelrote Backsteingebäude. In der Hand hielt sie einen großen, braunen Umschlag. Unzählige Male schon war sie hier vorbeigekommen, aber noch nie hatte sie das Polizeipräsidium betreten. Der Eingangsbereich wirkte schlicht und ein wenig heruntergekommen. Der graue Linoleumboden sah schäbig aus und die Empfangstheke war alt und abgenutzt. Es dauerte eine Weile bis der Polizeibeamte begriffen hatte, dass es nicht um die Identifizierung der unbekannten Leiche ging.

»Wir haben die Identität des Mädchens mitt-lerweile festgestellt, aber vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Es geht um etwas anderes. Ich bin eine Zeugin. Ich war auf dem Friedhof.«

Die Augen des jungen Mannes weiteten sich, dann griff er hastig zum Telefon. Katrin biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte sich anders ausdrücken sollen. Sie war keine Zeugin. Sie hatte überhaupt nichts gesehen. Sie hatte lediglich keine Lust gehabt, dem Polizeibeamten umständlich die Sache mit dem Foto zu erklären.

Eine junge Frau kam und führte sie in die zweite Etage. Sie klopfte an eine Tür und öffnete.

»Das ist die Zeugin«, rief sie in den Raum hinein, bevor sie wieder davoneilte.

Katrin begutachtete das helle, kahle Büro. Zwei große Schreibtische standen einander gegenüber in der Mitte des Zimmers und auf der Fensterbank kümmerten ein paar krumme Kakteen vor sich hin. Katrin hatte erwartet, dass die Wände mit jeder Menge Tatortfotos, einem riesigen Stadtplan und anderen wichtigen Notizen vollgeheftet sein würden, wie in einem der zahlreichen Fernsehkrimis. Aber der Raum sah nüchtern und ordentlich aus wie ein ganz normales Büro. Ein Mann stand von seinem Platz auf und trat ihr entgegen. Er war ungefähr fünfzig, hatte eine kräftige Statur und einen leichten Bauchansatz. Er drückte kurz ihre Hand.

»Hauptkommissar Halverstett. Das ist meine Kollegin, Frau Schmitt.« Er zeigte auf eine rothaarige Frau um die dreißig, die in irgendwelche Papiere vertieft an dem anderen Schreibtisch saß. Sie nickte nur schwach in Katrins Richtung, aber sie sagte nichts. Halverstett deutete auf einen schlichten Holzstuhl. Als Katrin sich gesetzt hatte, blickte er sie erwartungsvoll an.

»Sie haben etwas auf dem Friedhof beobachtet?«

»Nein, eigentlich nicht.«

Sie merkte, wie sich das Gesicht des Polizeibeamten enttäuscht verzog. Frau Schmitt zog nur kurz die Augenbrauen hoch.

»Ich wusste nur nicht, wie ich es Ihrem Kollegen gegenüber ausdrücken sollte. Ich bin Fotografin. Ich habe Bilder gemacht. Auf dem Friedhof. Gestern Abend, kurz bevor abgeschlossen wurde. Ich war genau an der Stelle, wo – am Tatort.«

Sie öffnete den braunen Umschlag, nahm das Foto heraus und legte es auf den Schreibtisch.

»Wenn Sie dieses Bild mit Ihren Tatortfotos vergleichen, wird Ihnen auffallen, dass etwas fehlt.«

Frau Schmitt blickte jetzt überrascht von ihren Papieren hoch, reckte sich vor und starrte auf das Foto. Der Kommissar griff nach einem Stapel von Aufnahmen, die auf der Ecke seines Schreibtisches lagen und suchte sie durch. Dann legte er das entsprechende Foto neben Katrins.

»Der Engel fehlt«, erklärte sie ihm. »Sehen Sie die kleine Figur oben auf dem Stein?«

Halverstett sah von einem Foto zum anderen. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert.

»Wann, sagen Sie, haben Sie diese Aufnahme gemacht?«

»Gestern Abend, so gegen kurz vor sieben.«

»Merkwürdig. Haben wir die Liste von der Spurensicherung? Ist da die Rede von einem Engel?« Er blickte fragend zu Frau Schmitt.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre mir aufgefallen. Aber vielleicht haben die Kollegen sich nichts dabei gedacht, dass da eine Steinfigur auf dem Boden lag. Ist schließlich ein Friedhof.«

Halverstett wandte sich wieder an Katrin.

»Haben Sie sonst irgendwas beobachtet oder jemanden gesehen?« Katrin schüttelte den Kopf. »Es war niemand in der Nähe, als ich dort fotografiert habe. Der Friedhof sollte ja auch jeden Augenblick schließen.« Der Polizeibeamte nickte. »Wir gehen zurzeit von Selbstmord aus. Daher glaube ich nicht, dass diese Sache von Bedeutung ist. Vielen Dank, trotzdem. Meine Kollegin, Frau Schmitt, wird Ihre Aussage aufnehmen. Das Foto behalten wir für alle Fälle.«

Zwanzig Minuten später verließ Katrin Kommissar Halverstetts Büro. Sie fühlte sich ernüchtert und enttäuscht. Die Polizei hatte ihre Entdeckung nicht für besonders wichtig gehalten. Sie kam sich fast ein wenig lächerlich vor. Vermutlich hatte sie zu viele Krimis gelesen. In erfundenen Geschichten spielte immer jede Kleinigkeit ein Rolle. Aber im wirklichen Leben war alles viel banaler. Ein Selbstmord also. Und sie hatte sich schon fast selbst in der Gewalt eines unbekannten Mörders gesehen. Wie lächerlich! Sie hatte wirklich zu viel Phantasie.

Katrin hastete den Korridor entlang. Auf dem Treppenabsatz stieß sie unvermittelt mit einem Mann zusammen. Er rannte einfach in sie hinein, klammerte sich sekundenlang an ihren Schultern fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und grinste sie unverschämt an.

»Hoppla, das ist ja gerade noch mal gut gegangen!«

»Können Sie nicht ein bisschen aufpassen?«

Der Mann grinste. Seine blauen Augen funkelten aufreizend. Er trug ein schmuddelig wirkendes, schwarzes Hemd und über der Schulter hing eine braune Ledertasche, die so aussah, als besäße er sie seit mindestens zwanzig Jahren.

»Bedauere, schöne, junge Frau, doch das Leben ist zu kurz, um alles mit Ruhe zu erledigen. Aber vielleicht haben Sie ja heute Abend Zeit. Dann gehen wir zusammen was trinken und ich entschuldige mich in aller Form für mein unmögliches Benehmen.«

Er zog auffordernd die Augenbrauen hoch und grinste immer noch.

»Das könnte Ihnen so passen. Vielen Dank, aber ich habe mit Sicherheit etwas Besseres vor.« Katrin drehte sich empört um und marschierte die Treppe hinunter.

»Falls Sie es sich überlegen. Mein Name ist Manfred Kabritzky,« rief der Mann ihr hinterher. »Ich arbeite beim Morgenkurier. Sie können mich jederzeit anrufen.«