Über das Buch

Polen vor den richtungsweisenden Parlamentswahlen im Oktober 2019: Emilia Smechowski, Deutsche und Polin, porträtiert ein zerrissenes Land.

Lange glaubten wir im Westen: Polen ist frei und demokratisch, ein junges europäisches Land im Start-up-Modus. Dann wählte die Mehrheit rechtskonservativ — und unser Bild zerbrach. Für Emilia Smechowski ist Polen Heimat — eine Heimat, die sie als Kind verließ und in die sie nun zurückkehrt, um dort zu leben, als Bürgerin des Landes. Sie beschreibt eine zerrissene Nation: Der Riss geht durch die Familien, er ist präsent, wenn beim Sonntagsessen über Politik gestritten oder geschwiegen wird. Smechowski erzählt vom Alltag voller Widersprüche, sie spricht mit Politikern wie Bauern, um zu verstehen: Was ist seit 1989 passiert, dass so viele Menschen nicht mehr an den Wert der Freiheit glauben?

Emilia Smechowski

Rückkehr nach Polen

Expeditionen in mein Heimatland

Hanser Berlin

Inhalt

Der Riss

Geruch der Fremde

Zwei Feinde

Sprachen und Zungen

Fast an der Grenze Europas

Land des Wettbewerbs

Am Tisch

Frauenleben

Ein Bürgermeister kämpft

Kleine Geschichte des Kapitalismus

Gott ist groß

Am Strand

Ordnung

Hashtag Erasmus

Polnische Mädchen

Matka Polka

Himmel und Hölle

Eine katholische Jüdin

Führen IN Auschwitz

Ein Traum in Rot-Weiß

Grenzerfahrung

Geruch der Heimat

Eine Woche Fernsehen

Dorota aus meinem Block

Mama, warum weinst du?

Danksagung

Für Ada

Der Bürgermeister ist tot. Das Land ist zerrissen. In stillem Hass geht das Leben weiter. Ich packe meinen Koffer und den meiner Tochter. Ich verlasse das Land, in dem ich geboren wurde und in das ich zurückgekehrt bin für ein Jahr.

Wir verabschieden uns von der Kita. Ein letztes Mal gehen wir Pierogi essen. Unsere Freunde fragen, ob wir traurig seien. Dabei wirken sie selbst ein bisschen so. Manche sagen, wer weiß, wann wir uns wiedersehen, vielleicht kommen wir auch nach Deutschland, vielleicht reisen wir aus. Was, wenn die Regierung im Herbst wiedergewählt wird? Andere sagen: Ihr kommt schneller zurück, als ihr denkt. Das Meer wird euch fehlen.

Sie haben Recht, das Meer wird uns fehlen. Ich schließe unsere Wohnung in Danzig ab und stehe mit Kind und Koffern auf der Straße, die penibel gefegt ist — und dennoch liegt alle paar Meter irgendwo Hundekot. Vielleicht, denke ich, ist das der letzte Widerspruch, der mir begegnet in diesem Jahr, in diesem Land voller Widersprüche. Was nehme ich mit aus Polen? Und wie wird es weitergehen?

Es fing so gut an mit diesem Land. Vor dreißig Jahren ging von Polen die Kraft aus, die Europa wieder einte, wie kein anderes kämpfte das Land für Freiheit und für Demokratie. Nun versteht die Welt Polen nicht mehr. Und die Polen verstehen sich selbst auch nicht unbedingt. Die Menschen, die uns durch das Jahr begleitet haben, unsere Freunde und Familie, die Babysitterin, die Tanzlehrerin, der Nachbar, stehen auf unterschiedlichen Seiten, als wäre zwischen ihnen ein unüberwindbarer Graben. Der Hass ist eher gewachsen als zurückgegangen. Und jeder glaubt, die andere Seite sei schuld. Die anderen hätten Polen zugrunde gerichtet oder seien dabei, es zu tun.

Wie konnte es so weit kommen? Was ist passiert, dass so viele Polen nicht mehr an den Wert der Freiheit glauben?

Der Riss

Der Kellner bringt das Schnitzel, das hier kotlet schabowy heißt, dazu kleine Kartoffeln und Krautsalat, ein kleines Bier, es ist früher Abend, kurz hinter Posen — oder Poznań? Die Sonne senkt sich hinter den weiten Feldern, vom Winter ganz kahl, noch drei Stunden etwa, dann erreicht der Zug Danzig. Oder Gdańsk.

Es ist März 2018, und so geht sie los, meine Reise ins Land der Widersprüche.

In den vergangenen Jahrzehnten habe ich nicht viel von Polen mitbekommen. 1988 war ich mit meinen Eltern nach Deutschland ausgereist. Plötzlich lebte ich in Westberlin, meine Freunde in Polen sah ich nicht mehr. Ich weiß nicht, wie sie die Wende erlebt haben und wie es ihnen in den Jahren danach erging. Polen wurde für mich zu einem Land der Sommerferien und Weihnachtsfeste, der viel zu kurzen Besuche bei meiner Oma. Ein Land, dem ich mich immer irgendwie verbunden fühlte und das mir gleichzeitig fremd war. Ich hatte keine Ahnung, wie es den Menschen dort ging. In welche Richtung sich das Land bewegte.

Auch von dem Riss, von dem alle sprechen, weiß ich nicht viel. Schon 1989 sei er ganz leicht zu spüren gewesen und mit den Jahren immer tiefer geworden. Und als die Polen im Herbst 2015 eine nationalkonservative Regierung wählten, habe der Riss sich zum Graben erweitert. Auf der einen Seite lebten die Polen, die den Wandel von einem unfreien, kommunistisch regierten Land in eine moderne, liberale Republik erfolgreich mitgemacht hatten, die sich für Europa und andere Kulturen begeisterten, die in den Urlaub nach Ägypten oder Spanien flogen und dafür zu Hause Rad statt Auto fuhren, die Sushi und vegane Burger aßen und ihre Kinder beim Capoeira beklatschten.

Auf der anderen Seite des Grabens lebten die Polen, die all das vielleicht auch wollten. Die sich ebenfalls nach Offenheit und Freiheit gesehnt hatten, bei denen aber auf dem Weg dahin irgendwas schiefgegangen war. Sie wurden arm und arbeitslos, sie konnten ihre Kredite nicht abbezahlen, sie lebten auf dem Land und kamen dort nicht weg. Sie schauten Fernsehserien, die in der Großstadt spielten. Sie sahen ihre Landsleute, die so anders waren als sie selbst. Sie, die Abgehängten, hatten das Gefühl, nicht zu genügen.

Die Menschen schämen sich dafür bis heute, doch zur Scham kam die Wut darüber, nicht gesehen zu werden. Die PiS sah sie. Und sie gab ihnen das Gefühl, gehört zu werden. Prawo i Sprawiedliwość heißt die Regierungspartei, Recht und Gerechtigkeit. In Polen würde es wieder gerecht zugehen, versprach sie den Menschen, das Land würde zu sich selbst finden, zu Stolz, Mut und Eigensinn. Sie versprach auch Kindergeld. Und die Menschen wählten sie. Unterm Strich zwar nur jeder fünfte Pole, denn die Wahlbeteiligung lag bei 51 Prozent. Aber nach der Wahl musste das ganze Land mit dem Ergebnis leben.

Ich schaue aus dem Fenster. Draußen ziehen Kühe vorbei, Bahnhöfe, an denen kein Zug mehr hält, riesige Supermärkte an Ortseingängen. Wie geht es den Menschen in Polen? Wie leben sie, und wie gespalten sind sie wirklich? Streiten sie sich auf der Straße darüber, ob das Verfassungsgericht nun machtlos sei oder nicht? Oder schweigen sie lieber? Haben sie über der Frage, wer welche Partei wählt, Freundschaften aufgegeben oder Ehen? Ziehen sie sich in ihre eigenen vier Wände zurück, oder gehen sie raus auf die Straße?

Das werde ich versuchen herauszufinden. Ich will sehen, wie es um die Opposition bestellt ist. Wie es den Bauern im ärmeren Osten geht. Wie es ist, wenn die Rechten durch Warschau marschieren. Wie selbstbestimmt die polnischen Frauen leben und ob es eigentlich noch Juden gibt in Polen. Ich will verstehen, ob der Riss wirklich so klar verläuft zwischen Stadt und Land, Reich und Arm. Woran es liegt, dass eine Gesellschaft plötzlich in zwei verschiedene Richtungen läuft. Und: Werde ich es schaffen, meine Freundin aus Kindertagen zu treffen, die eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes geworden ist?

Sie und ich verbrachten unsere ersten Kinderjahre im selben Plattenbau in Wejherowo, einer Kleinstadt bei Danzig, die ich nicht grauer und hässlicher in Erinnerung haben könnte. Die Schlangen vor den Geschäften, die Westpakete, die Teppichstange draußen auf dem Hof, der gleichzeitig unser Spielplatz war. Es sind schöne Erinnerungen.

Nun, dreißig Jahre später, bin ich wieder da. Und werde gemeinsam mit meiner Tochter dreißig Kilometer von meinem Geburtsort entfernt wohnen: in Danzig. Zwei Koffer, zwei Rucksäcke, ein Jahr, viele Reisen. Das ist der Plan. Mit einem festen Kindergarten, einer Dauerkarte für Bus und Tram, einem Bibliotheksausweis. Mit einem polnischen Konto und Ärger mit den Nachbarn. Mit Übernachtungsbesuchen und frischem Fisch am Strand.

Es ist nicht so, dass ich in den vergangenen dreißig Jahren gar nichts von Polen mitbekommen habe. Ich verfolgte, wie das Land der EU und der Nato beitrat. Ich sah die Filialen von KFC und McDonald’s aus dem Boden sprießen. Ich hörte, wie prächtig sich die Wirtschaft entwickelte, wie das Land aufholte. Polen war, von außen betrachtet, eine europäische Erfolgsgeschichte, der Primus unter den neuen Mitgliedsstaaten der EU. Die Polen waren die Ersten, die 1989 den Kommunismus zu Fall brachten. Und während der Finanzkrise 2008 die Einzigen, die mit Wirtschaftswachstum glänzten, als andere Länder am Abgrund standen. Polen ging es gut.

Nun sind die Polen auch die Ersten in Europa, in deren Land eine rechte Partei allein regiert.

Vielleicht, denke ich, hat der Westen den Riss im Osten lange einfach nicht sehen wollen. So wie er grundsätzlich sehr ungern Richtung Osten schaut. Der Westen habe Angst, nach Osten zu schauen, weil er nicht wisse, ob er da seine Vergangenheit sehe oder seine Zukunft, sagte mal ein Bekannter zu mir. Das verunsichere ihn, also lasse er es lieber bleiben. Ich finde, da ist etwas Wahres dran. Es war bequemer, nicht so genau hinzusehen und die polnische Erfolgsgeschichte zu erzählen, ohne Widersprüche, ohne Probleme. Nun geht das nicht mehr.

Wenn es stimmt, dass die Gegenwart — in Europa, in Amerika — geprägt ist vom Konflikt zwischen Globalisierung und Rückzug ins Nationale, zwischen den Befürwortern und den Gegnern offener Grenzen, zwischen demokratischer und autoritärer Herrschaft, dann ist Polen so etwas wie die Avantgarde. Populistische Tendenzen gibt es überall in Europa, doch nirgendwo sonst hat es eine rechtskonservative Partei zur absoluten Mehrheit gebracht. Und einen Kurswechsel vorgenommen, der einer 180-Grad-Wendung gleicht. Kann Polen auch das Land werden, in dem ein solcher Kurswechsel korrigiert wird?

Bisher sieht es danach aus, als würde die dobra zmiana, der gute Wechsel, wie die PiS ihre Politik nennt, für die Partei funktionieren. Sie liegt seit Beginn ihrer Amtszeit in den Umfragen vorn. In den vergangenen Jahren hat sie willfährige Richter ernannt, sie hat reihenweise Journalisten und Journalistinnen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgetauscht und die Lehrpläne der Schulen ändern lassen — die Kinder sollen wieder mehr über nationale Helden lernen.

In Nachtsitzungen peitschte die PiS neue Gesetze durch. Wie die Fidesz-Partei in Ungarn bekennt sich auch die PiS formal zur Demokratie. Das Bekenntnis verschafft der Partei den Raum, nach und nach den Staat umzubauen, die Pressefreiheit, die Informationsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit einzuschränken. Ihr Ziel ist es, systematisch die Elite des Landes zu ersetzen, unter dem Vorwand, die alte bestünde vor allem aus Postkommunisten. Sie will die Justiz schwächen zugunsten der Exekutive.

Für die PiS und ihren Chef Jarosław Kaczyński wird der Staat nicht durch die Gesamtheit aller Bürger legitimiert. Sondern durch eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Werte und eine Geschichte teilen. In ihrer Logik sind diejenigen, die sich gegen die PiS stellen, nicht Teil der Nation. Sie sind »Polen der schlechteren Sorte« — eins der berühmten Zitate von Kaczyński.

Das klingt, als befände sich das Land im Bürgerkrieg, und tatsächlich treibt die PiS die Spaltung der Bevölkerung bewusst voran. Gerade in den ländlichen Gebieten im Osten, von Ökonomen oft Polen B genannt, hat sich ein regelrechter Hass auf die vermeintlich arroganten, elitären Großstädter aufgestaut. Diese wiederum, Polen A, blicken fast mit Abscheu auf »die Abgehängten«.

Nicht nur Polen, auch Länder wie Frankreich, Ungarn, Italien und die USA haben uns mittlerweile daran erinnert, dass Demokratie keine Impfung ist, die wir einmal verabreicht bekommen, um fortan für alle Zeiten gegen autoritäre Bestrebungen immun zu sein. Wir müssen um sie kämpfen. Nur welche politische Kraft in Polen sollte das tun?

Die Opposition ist zersplittert und zerstritten. Im Sejm, dem Parlament in Warschau, sitzt zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine linke Partei mehr — die Linke hatte es im postkommunistischen Polen schon immer schwer. Die liberal-konservative Bürgerplattform, abgekürzt PO, die bis 2015 die Regierung stellte, ist im Sejm zwar noch vertreten, aber sie hat es nach dem Machtverlust nicht geschafft, für einen Neuanfang zu sorgen.

Und ich? Ich war lange nicht mehr in Polen zu Hause, ich bin Gast in meiner Heimat. Heimat — was ist das überhaupt? Je öfter ich darüber nachdenke, desto weniger weiß ich es. Ist es ein Ort, ein Gefühl oder eher eine Person, eine Familie? Ein Geruch wie feuchter Waldboden, ein Gericht wie Barszcz, die Rote-Beete-Suppe, oder eher Musik wie das traurig-schöne polnische Weihnachtslied von Frédéric Chopin?

Habe ich einen unveränderbaren Kern in mir? Oder wird mich dieses Jahr in Polen zu einer anderen machen? Werde ich mich irgendwann in diesem Jahr, irgendwo in diesem Land auf eine Art zu Hause fühlen?

Geruch der Fremde

Ich liege auf einem Klappsofa, das nicht meins ist, unter einer dünnen Wolldecke, in zerschlissener Bettwäsche, die auch nicht mir gehört. Und vor allem nicht so riecht. Was hat es auf sich mit diesem Geruch der Fremde, der einem immer erst mal die Luft zum Atmen nimmt? Ich ziehe mir die Decke bis ans Kinn und will die Luft anhalten. Weichspüler, irgendwas mit Blumen, darunter der Geruch von feuchtem Keller. Hat die Bettwäsche dort gelagert? Über Jahre womöglich? Mein Vermieter, der uns in der Wohnung empfangen hat (»Hier die Schlüssel, bitte schön, ach, und ein paar Möbel sind kaputt, aber da kümmere ich mich drum.«), hat auch seinen Dunst von Zigaretten und altem Schweiß dagelassen. Mir ist leicht übel, ich frage mich, wann ich zuletzt etwas gegessen habe. Im Zug. Das Schnitzel im Speisewagen. Das war vor sechs Stunden. Ich will heulen und schlafen, beides klappt nicht, stattdessen drehe ich mich zur Seite und beobachte meine Tochter.

Ihr Oberkörper hebt und senkt sich, ihr Atem geht gleichmäßig, ab und an seufzt sie, hell und leicht gesungen, wie nur Kinder seufzen. Sie verströmt eine unschuldige Ruhe, ich streiche ihr vorsichtig über die weichen Ärmchen. Den Tag, der in unserem alten Zuhause begonnen hat und in unserem neuen endet, 600 Kilometer weiter östlich, scheint sie wesentlich besser gemeistert zu haben. Ich zwinge mich, die Augen zu schließen, ich warte auf den Schlaf. Stattdessen legt sich mir ein Stein auf die Brust.

Ich könnte gerade genauso gut in Timbuktu sein. So fremd fühlt sich alles an. Und so ungelenk fühle ich mich. Als müsste ich erst üben, eine Polin zu sein, in Polen zu sein. Ich setze mich auf und starre an die Wand mit den überdimensional großen Aktgemälden, an die der Mond Muster wirft. Unser Vermieter ist Künstler. Über dem Sofa, auf dem wir noch gemeinsam schlafen, weil das Kinderbett erst in ein paar Tagen kommt, hängen Kohlezeichnungen: Frauenskelette, an deren ausgemergelten Brüsten Säuglinge saugen, die ebenfalls ausgemergelt sind. Genau das Richtige für ein Kinderzimmer.

Am nächsten Morgen rüttelt mich meine Tochter sanft wach. Ich stehe auf, sauge, putze, stelle fest, dass es sich bei den kaputten Möbeln um den Esstisch und einen Kleiderschrank handelt, die bei der ersten Berührung einfach in sich zusammenfallen. Ich hänge die toten Frauen mit den halbtoten Babys ab und lasse die Akte an den Wänden.

An unserem ersten Wochenende lassen wir uns treiben. Es ist kalt Anfang März, obwohl die Sonne scheint. In Schal und Mütze halten wir Ausschau nach einem Spielplatz. Wir stellen fest, dass die Spielplätze in unserem Viertel hinter Zäunen stehen und zu Kindergärten gehören. Wir drücken uns gegen die Eisenstäbe, »die Rutsche ist bestimmt schnell, oder?«, fragt meine Tochter. Am Ende finden wir doch noch ein paar Spielgeräte, dazwischen Matsch, der irgendwann sicher mal Rasen war: direkt an der größten Straße Danzigs, der Aleja Grunwaldzka. Viele große Straßen in Polen heißen so, nach der Schlacht bei Grunwald, oder auf Deutsch: Tannenberg. Eine wichtige Schlacht — eine, die die Polen ausnahmsweise gewonnen haben.

Wir wissen noch nicht, dass es in Polen keinen Flaschenpfand gibt. Dass die Ansage in der Tram manche Stationennamen singt, an der Oper beispielsweise. Dass die Ticketpreise so günstig sind, dass sich Schwarzfahren eigentlich nicht lohnt. Ich frage mich, was wir hier machen. Wir sind da, aber wir sind noch nicht angekommen. In einem Neuanfang liegt einfach keine Würde.

Wir kaufen ein, Nudeln, Tomatensoße, saure Gurken. Wir finden keinen Apfelmus, dafür schmeckt der Kakao laut meiner Tochter »voll komisch«. Ich muss lachen, weil meine Schwester und ich uns früher ähnlich echauffierten über die polnische Schokolade, die so seltsam metallen schmeckte.

Wir stellen uns beim Nachbarn vor. Als ich ihm die Hand gebe, schaut er mich etwas komisch an. Ich bin unsicher. Bin ich ihm zu sehr auf die Pelle gerückt? Plötzlich fällt mir ein, was mir der Vermieter gestern noch sagte: »Ihr Nachbar ist okay, ein Taxifahrer. Wenn er allerdings nachts laut Musik hört, rufen Sie mich an, dann hat er wieder Drogen genommen und eine Prostituierte bei sich.«

Ich miste die Wohnung aus. Die Küchenschränke sind voll mit altem Zeug, verschrumpelten Schwämmen, Zwiebeln, von denen ein übler Geruch ausgeht, Kartoffeln, deren Triebe fast einen Meter lang sind. Ich packe alles in Müllsäcke, verlasse die Wohnung und suche die Mülltonnen. Am Haus stehen keine. Ich laufe die Straße runter, nicke einer älteren Frau zu, die den Gehweg fegt, ein paar Meter weiter steht ein Eisentor halb offen, ein altes Sofa, ein Klo, ein paar Bretter aus Spanholz liegen herum, dahinter ein kleiner Verschlag mit verschiedenen Mülltonnen. Papier, Glas, Restmüll. Die Polen trennen also. Allerdings liegt der Müll hier überall. In den Tonnen, neben den Tonnen, vor den Tonnen. Als ich meine Säcke dazustelle, sehe ich weiter hinten einen Schlafsack auf dem Betonboden liegen. Schläft hier jemand?

Auf dem Weg zurück in die Wohnung nicke ich wieder der Frau zu, die fegt. Bei jemandem vorstellen will ich mich jetzt lieber nicht mehr.

Zwei Tage später, an einem Montagmorgen, beginnt unser polnischer Alltag. Als meine Tochter und ich die Straße betreten, ist schon halb Danzig unterwegs, dabei ist es gerade mal sieben Uhr dreißig. Als würde der Tag hier früher beginnen als in Deutschland, als richteten sich die Menschen eben doch nach der Sonne, die hier im Osten früher aufgeht. Oder ist das noch ein Relikt aus dem Sozialismus? Die Bürozeit beginnt in den meisten Firmen um acht Uhr, in manchen schon um sieben Uhr, die Kitas öffnen entsprechend. Wir wurden angehalten, auf jeden Fall vor acht da zu sein, denn dann bekämen die Kinder Frühstück.

Wir laufen mit leerem Magen durch den Matsch. Wir wollten unser polnisches Jahr im Frühling beginnen, aber wie in Deutschland täuscht der März hier nur vor, Frühlingsbeginn zu sein. In den ersten Tagen regnet und schneit es, dann wieder zeigt sich der Himmel in klarem Meerblau, winterlich kalt ist es durchgehend. Außerdem zieht und windet es überall.

Meine Tochter zerrt mich die Straße runter. Wirklich runter, denn wir wohnen in Wrzeszcz, auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von alten, schönen Villen und einem Wald. Es ist das Viertel in Danzig, das nach dem Zweiten Weltkrieg noch am besten erhalten war — neunzig Prozent der Stadt lagen 1945 in Trümmern. Unser Haus wurde 1890 erbaut, nur ist es mit seinem apricotfarbenen Anstrich nicht so schön wie die anderen hier. Die Farbe erinnert mich an die Tapete in meinem deutschen Kinderzimmer. An den Versuch, etwas Toskana in ein Berliner Mittelstandsleben zu bringen. Wieder fegt die Frau den Gehweg. Oder immer noch?

»Sehen Sie, wie sauber es hier ist«, hatte mein Vermieter gesagt, als ich die Wohnung ein paar Wochen vor unserem Einzug besichtigt hatte. Und dann hinzugefügt, als Verkaufsargument quasi: »Hier in Polen gibt es keine Flüchtlinge.« Meinte er das mit »sauber«? Ich war so verblüfft, dass es mir zunächst die Sprache verschlug. Sollte ich etwas sagen, jetzt schon? »Also, wenn Sie das so sehen: Ich bin auch geflüchtet.« Er schaute mich erschrocken an, ich glaube, er ahnte schon, worauf ich hinauswollte, dieses Aussiedler-Ding, in Polen kennt das jeder. Jedenfalls schwieg er daraufhin. Die Wohnung bekam ich trotzdem.

Meine Tochter und ich biegen nun in die Jaśkowa Dolina ein, vorbei an »Manhattan«, dem ersten Einkaufscenter Danzigs, und vorbei an dem Gebäude, in dem Anfang der Neunziger der erste McDonald’s der Stadt eröffnete, heute ist dort ein angesagtes Restaurant. Als wir das erste von unzähligen Malen in diesem Jahr die Aleja Grunwaldzka an den drei Ampeln überqueren, fragt meine Tochter, was das für ein Piepen sei. Ich sage, das sei für Blinde, damit sie wissen, wann sie gehen und wann sie stehen sollen. Langsames Piepen bei Grün, schnelles Piepen, wenn es bald rot wird. Und als wir durch einen Tunnel laufen, unter Gleisen hindurch, rattern Züge über uns hinweg. »Schau«, sage ich, »diese Gleise haben uns hierhergeführt. Von Berlin nach Danzig.«

Ich hatte nicht erwartet, dass der Anfang sich real anfühlen würde. Aber auch nicht, dass es so wenig geben würde, woran ich anknüpfen könnte. Das Jahr liegt wie ein leeres Gefäß vor mir, das erst gefüllt werden muss. Ich bin neu hier, eine Anfängerin ohne Routine. Wie aufregend aber auch — als würde ich in Slow Motion leben und zugleich im Zeitraffer.

Wir sind schon in der richtigen Straße, irgendwo hier muss es sein. Die Häuser in Wrzeszcz, das ist mir schon aufgefallen, haben eine Besonderheit: kleine Vorbauten aus Holz, Veranden, die ein bisschen an die amerikanischen Südstaaten erinnern. Wir haben auch so eine. Eine Veranda, komplett verglast und ungeheizt — sie muss noch warten, bis sie bewohnt werden kann.

Die Kita ist im Hinterhaus der Nummer 36, und als wir gerade durchs Tor gehen wollen, fällt mir das Haus linker Hand auf. Soll das ein Witz sein? Eine Ironie des Alltags? Direkt neben der Kita meiner Tochter, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, sitzt der »Bund der deutschen Minderheit«. So steht es vorn auf der Fassade, in schwarz-rot-goldenen, fast schon verblassten Lettern. Ich will da nicht rein, ich will in Polen nicht deutsch sein. Aber was bin ich dann?

Um kurz vor acht betreten wir den Gruppenraum der Bienen, eine blonde Frau mit freundlichem, offenem Gesicht läuft auf meine Tochter zu, »Dzień dobry«, sagt sie, »schön, dass du endlich da bist!« Und als sie mich fragt, womit meine Tochter denn gern spiele, und ich antworte, ach, mit allem eigentlich, Lego, Puppen, Autos, da ruft die Erzieherin: »Das ist ja wunderbar! Wir haben hier noch ein anderes Mädchen, das mit Autos spielt.«

In den Kitas in Deutschland verbrachten wir jeweils die ersten Wochen damit, unser Kind mit den neuen Räumlichkeiten, den neuen Kindern und neuen Erziehern vertraut zu machen. Eingewöhnung nannte sich das, langsam, sanft und plüschig. Als ich in der Danziger Kita anrief, um zu erfragen, wie denn dort die ersten Wochen ablaufen würden, sagte man mir: »Was meinen Sie mit ablaufen? Sie kommen am ersten Tag, lassen Ihr Kind bei uns und holen es am Nachmittag wieder ab.«

Und so kommt es dann auch. Während ich noch darüber nachdenke, was ich tun soll, wenn mich meine große Kleine nicht gehen lässt, wenn sie mein Bein umschlingt, anfängt zu schreien, gibt sie mir schon einen Kuss, schubst mich über die Türschwelle — eine Angewohnheit aus der Berliner Kita — und winkt mir nach. Sie ist in einer fremden Stadt, in einem fremden Land. Sie kennt weder die anderen Kinder noch die Erzieherin, sie spricht noch nicht mal deren Sprache. Und doch läuft sie nun voller Elan in ihre Gruppe. Meine mutige Tochter.

Vielleicht, denke ich, als ich wieder die Straße betrete, wird sie mir hier mehr helfen können als ich ihr. Auf dem Weg zurück in die Wohnung, nach drei Tagen in Polen, kann ich endlich heulen.

Zwei Feinde

Ich laufe durch Danzig, durch diese historische Stadt. Hier griffen die Deutschen am 1. September 1939 Polen an, drüben auf der Westerplatte. Der Zweite Weltkrieg begann. Hier auf der Werft gründete sich die Gewerkschaft der Solidarność, die sich dem kommunistischen Regime entgegenstellte. Jeder Pole weiß das.

Und heute? Die Polen lieben Danzig, die Danziger lieben Danzig noch mehr. So liberal! So offen! Die sozialen Medien, Facebook, Twitter, Instagram, sind voller Lokalpatrioten, die Videos mit Kamerafahrten durch die Stadt teilen: Danzig bei Nacht, Danzig bei Sonnenaufgang, Danzig bei Nebel. Ähnlich wie die Hamburger, die ebenfalls einen Hafen haben, einen Strand und Wind und Nieselregen, glauben auch die Danziger von sich: Wir wohnen in der schönsten Stadt der Welt!

Wo soll ich anfangen? Mit wem sprechen? Würde man Deutsche fragen, an welche bedeutende Person sie zuerst denken, wenn es um Polen geht, dann fiele vermutlich ein Name besonders häufig: Lech Wałęsa. Welche Rolle er aber genau spielte, auf dem polnischen Weg zur Freiheit, das wüssten wohl nur die wenigsten. Soll ich also mit ihm beginnen? Wałęsa wohnt noch immer in Danzig.

Spreche ich mit Polen über Polen, gibt es eine Aussage, die ich immer wieder höre, seit Jahren schon. Wer auch immer versucht, mir die aktuelle Lage im Land zu erklären, sagt: Das, was heute hier passiert, geht zurück auf die Wendejahre. Wer verstehen will, warum Polen so gespalten ist, muss verstehen, was damals geschah.

Ein Jahr nachdem meine Familie und ich Polen verließen, brach der Kommunismus zusammen, das Regime gab auf, das Land war frei. Ein Umbruch, der das Leben aller Polen veränderte. Und der für immer zwei Männer aneinanderband, in Konkurrenz, dann Verachtung, dann Hass. Sie werden sich wohl bis zu ihrem Tod nicht voneinander lösen können. Es ist eine unglaubliche, fast unwirkliche Geschichte.

Es ist das Jahr 1989. Vertreter der Gewerkschaft Solidarność und der Regierung verhandeln über die Zukunft des Landes. Es ist die Sternstunde von Lech Wałęsa, der als Elektriker die Streiks auf der Danziger Werft angeführt hatte — und nun wesentlich dazu beiträgt, dass die Revolution in Polen unblutig verläuft. Der Spiegel, die New York Times, der Guardian — alle berichten. Polen rückt in den Fokus der Weltöffentlichkeit.

Zwei stehen am Rand des Geschehens und schauen zu. Sie sind zwar Mitglieder der Solidarność, der eine sogar ein Assistent von Wałęsa, aber sie wollen mehr. Wałęsa hält sie auf Abstand. Er traut ihnen nicht ganz. Es muss in diesen Wochen gewesen sein, dass sie einen Pakt schließen: Irgendwann werden sich alle wundern. Dann werden sie dieses Land regieren.

Es sind die Brüder Kaczyński.

Lech ist mittlerweile tot, gestorben 2010 bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk. Jarosław aber hat die Agenda der Zwillinge zu Ende gebracht: Er regiert nun das Land, allein, als Drahtzieher. Die offiziellen Machthaber lässt er auf der politischen Bühne wie Marionetten tanzen. Jarosław Kaczyński ist zum Schattenherrscher Polens geworden. Offiziell nur Parteichef ohne Regierungsamt, hat er loyale Vertraute als Präsident und Premierminister installiert.

Sein Erfolg besteht nicht nur in sozialen Reformen wie dem Kindergeld oder dem herabgesetzten Rentenalter. Er hat eine Erzählung geschaffen: von einem Polen, das sich von den Knien erhebt. Das sich widersetzt, dem Westen, der EU, das sich nicht für blöd verkaufen lässt. Er gibt an, das »Polnische« in Polen stärken zu wollen, was für ihn vor allem heißt: Familie, Glaube, Nation. Es ist eine kulturelle Revolution von oben.

Eine Revolution, die neue Helden schafft: Sein toter Bruder Lech sei einen Märtyrertod gestorben, der Flugzeugabsturz, bei dem alle 96 Insassen ums Leben kamen: ein Attentat. Das ist Kaczyńskis Wahrheit. Dass eine Untersuchungskommission von einem Unfall und von dichtem Nebel spricht, interessiert ihn nicht. 

Eine Revolution, die alte Helden stürzt: Als Lech Wałęsa 2016 ankündigte, den Widerstand unterstützen zu wollen, tauchten plötzlich Dokumente auf, die seine Arbeit als Spitzel im kommunistischen Geheimdienst beweisen sollten. Wałęsa spricht von einer Fälschung. Die Solidarność, die er einst prägte, hat an Bedeutung verloren, es gibt sie kaum mehr.

Die Wende jährt sich 2019 zum dreißigsten Mal. Noch immer lässt diese Zeit die Polen nicht los. In diesem Punkt sind sich ausnahmsweise alle einig: Damals, sagen sie, begann die Spaltung des Landes. Damals begann auch der Hass zwischen Lech Wałęsa und Jarosław Kaczyński.

Zwischen einem, der 1983 den Friedensnobelpreis bekam und stur sein kann wie ein Kleinkind, und einem, der im Verborgenen das Land regiert, aber noch immer im Haus seiner Mutter wohnt.

Wałęsa und Kaczyński sind typische Polen: voller Widersprüche. Sie sind grundverschieden, der eine spricht ständig von einem liberalen, freien Polen, der andere baut an einem zentralisierten, autoritären Staat. Der eine kann sich kaum fünfzehn Minuten am Stück konzentrieren, der andere liebt Sachbücher. Doch sosehr sie sich in Politik und Bildung unterscheiden, so sehr ähneln sie sich privat. Wałęsa und Kaczyński, zwei Männer, zwei Einzelgänger, die Polens Politik in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben wie kaum jemand anders, sind beide alt und einsam. Sie sind beide klein und untersetzt. Sie gelten als störrisch, herrisch und beratungsresistent, sie sind schnell beleidigt und fühlen sich oft nicht ernst genommen. Ihre Mitarbeiter haben Angst vor ihnen. Wer sie näher kennt, sagt: Vielleicht sind sie deshalb zu Erzfeinden geworden. Sie ähneln sich zu sehr.

Beide beanspruchen für sich, im Sinne Polens zu handeln oder gehandelt zu haben. Das ist seit vielen Jahren der Kern ihres Streits: Kaczyński wirft Wałęsa vor, bei den Verhandlungen am Runden Tisch zu viele Kompromisse mit den kommunistischen Machthabern eingegangen zu sein. Wałęsa wirft Kaczyński vor, die Demokratie im Land und damit auch sein, Wałęsas, Erbe zu zerstören.

Wałęsa und Kaczyński haben noch eine Gemeinsamkeit: Sie mögen keine Journalisten. Journalistinnen vielleicht noch weniger. Ich versuche es trotzdem. Über das Jahr verteilt schreibe ich Jarosław Kaczyński mehr als ein Dutzend E-Mails mit der Bitte um ein Gespräch. Es kommt keine Antwort.

Lech Wałęsa zu treffen scheint zunächst einfacher. Sein Bürochef antwortet zwar unfreundlich, aber an einem Tag im April bittet er mich in Wałęsas Büro.

Es ist fast frühlingshaft, endlich schlägt sich die Sonne durch, als ich mich an einem Mittwochmorgen Richtung Danziger Werft aufmache. Ein paar Stationen mit der Tram, die Aleja Grunwaldzka entlang, über die Gleise der Stadtbahn, wo ich von der Brücke aus die Kräne sehen kann — die Wahrzeichen von Danzig. Für die Industrie ist die Werft unbedeutend geworden, aber noch immer der ganze Stolz der Stadt. Dann stehe ich vor einem Gebäude aus braunrotem Beton, der an Rost erinnern soll, an das Schweißen von Metall, an harte Arbeit. Das Solidarność-Zentrum wurde 2014 eröffnet, ich mag die helle Eingangshalle voller großer Pflanzen, man kann hier guten Kaffee trinken und sich die Solidarność-Ausstellung ansehen — genau da, wo 1980 die Arbeiter auf der damaligen Leninwerft streikten.

Ich fahre in den zweiten Stock. Raus aus dem Fahrstuhl und nach links, das hatte mir der Mitarbeiter noch geschrieben. Ich klopfe an eine Tür, ein Mann schiebt sich heraus, schließt die Tür leise hinter sich und sagt dann: »Hallo, wer sind Sie?«

Ich nenne meinen Namen und sage, dass ich gekommen sei, um mit Lech Wałęsa zu sprechen.

Der Mann wirkt etwas verwirrt. »Ach ja«, sagt er nur, dann mustert er mich. Denkt er nach? »Okay«, sagt er. »Sie dürfen reinkommen. Aber denken Sie daran: Erwähnen Sie nicht Ihren Namen und woher Sie kommen, dieses ganze Blabla interessiert ihn nicht. Stellen Sie gleich Ihre erste Frage. Wir haben nicht viel Zeit. Ich gebe Ihnen zwanzig Minuten.«

Und während ich darüber nachdenke, wie ich meine Fragen, sauber aufgeschrieben auf vier DIN-A4-Seiten, in zwanzig Minuten stellen und vor allem Antworten darauf bekommen soll, während ich mich frage, warum ein Mann, der seit Jahrzehnten quasi in Rente ist, nicht mehr als zwanzig Minuten für ein Gespräch aufbringen kann, öffnet sein Mitarbeiter die Tür und weist mir stumm den Weg.

Der Raum ist groß, in der rechten Ecke steht ein großer Tisch. Ich kann es nicht fassen: Lech Wałęsa hat tatsächlich einen Schraubenzieher in der Hand. Er bearbeitet damit ein Gerät, das wie ein altes Telefon aussieht. Es wirkt wie eine Pose, ein Klischee: der Elektriker hinter dem Schreibtisch des Staatsmannes. Er beachtet mich nicht, und so setze ich mich auf das Sofa neben dem Tisch und beobachte ihn.

Wałęsa trägt eine militärgrüne Weste, wie ein Freizeitangler sieht er aus. An seiner Brust steckt sein Markenzeichen, eine Brosche der heiligen Mutter Gottes. Er trug sie auch zu Zeiten des Kommunismus, als die Kirche von den Machthabern unterdrückt wurde und die Parteibonzen an ebenjener Stelle ihr Parteiabzeichen hatten. Lech Wałęsa werkelt weiter, ab und an brummt er etwas, das vielleicht dem Gerät vor ihm gilt. Er hebt nicht den Kopf.

Politologen, die sich viel mit ihm beschäftigt haben, sagen, Wałęsa sei eigentlich nie Politiker geworden, sondern immer Elektriker geblieben. Er, der von 1990 an sogar fünf Jahre lang Präsident der neugegründeten Republik Polen war, sei das Praktische, Zupackende, auch Unreflektierte nie losgeworden.

Als er 1991 Queen Elizabeth II besuchte, blieb er ebenfalls Elektriker. Es heißt, Wałęsa soll den schlechten Zustand der königlichen Steckdosen bemängelt haben. Unklar ist, ob sein Englisch zu schlecht war oder die Queen seine Warnung für einen Scherz hielt. Klar ist: Ein paar Monate später brannte ein Flügel des Palastes wegen schadhafter elektrischer Leitungen aus.

Wałęsa ist, was viele Politiker nur vorgeben zu sein: einer aus dem Volk. Er entstammt nicht einer Elite, er war, zu Beginn jedenfalls, keiner der Oberen, denen die Polen aus Prinzip misstrauen.

Er wurde 1943 in Popowo geboren, einem Dorf, das damals zu Westpreußen gehörte. Nach der Grundschule ging er auf eine elektrotechnische Berufsschule und arbeitete später als Elektromechaniker. Er galt als durchschnittlich begabt.

1967 begann er als Elektriker auf der Danziger Leninwerft. Zwei Jahre später heiratete er, mit seiner Frau Danuta bekam er insgesamt acht Kinder. Heute hat er zu ihnen kaum noch Kontakt. Seine Frau, die ihr komplettes Leben damit verbracht hat, ihrem Mann den sprichwörtlichen Rücken freizuhalten, veröffentlichte vor ein paar Jahren ihre Memoiren. Sie verkauften sich besser als die ihres Mannes, alle wollten wissen, wie es war, mit Lech Wałęsa verheiratet zu sein. Wałęsa habe ihr die ehrlichen Worte in der Öffentlichkeit nicht verziehen, heißt es.

Und so sitzt Lech Wałęsa die meiste Zeit des Tages in diesem Büro im zweiten Stock des Solidarność-Zentrums. Mehrmals am Tag schreibt er etwas auf Facebook und Twitter, fast immer haben seine Posts mit der aktuellen Regierung zu tun, fast immer liest er Kommentare wie diesen hier: »Kommen Sie zurück, Herr Präsident. Nur Sie können uns noch helfen.«

Wenn Lech Wałęsa nicht in seinem Büro sitzt, reist er durch Polen und die Welt. Und erzählt seinem Publikum von früher. Davon, wie das war damals mit den Streiks und der Revolution.

1970 schon trat Wałęsa dem illegalen Streikkomitee der Werft bei. Der Streik wurde von der Polizei niedergeschlagen, achtzig Mitarbeiter kamen dabei ums Leben, Wałęsa wurde zu einem Jahr Haft verurteilt. 1976 verlor er seine Arbeit, weil er den Getöteten ein Denkmal errichten wollte. Als die Werftarbeiter im August 1980 noch einmal streikten, soll Wałęsa auf eine Mauer geklettert sein, er wurde daraufhin zum Streikführer berufen. Und der »Polnische August« wurde legendär.

Was dann folgte, hatte es im Ostblock nie zuvor gegeben: Arbeiter in ganz Polen folgten ihren Danziger Kollegen und legten die Arbeit nieder. Lech Wałęsa erkämpfte eine Einigung mit der Werft und gründete die Gewerkschaft Solidarność mit. Das Besondere an der Solidarność war ihre Kraft, das Land zu vereinen. Die intellektuelle Elite hatte erkannt, dass sie die Arbeiter niemals würde anführen können, die Arbeiter wussten, dass die Struktur, die die Elite mitbrachte, unerlässlich war. Aus dem Zusammengehen der beiden erwuchs eine einzigartige Kraft. Eine Kraft, die im heutigen Polen fehlt.

Als Lech Wałęsa 1983 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, reiste seine Frau für ihn nach Oslo. Wałęsa hatte Angst, nicht wieder einreisen zu dürfen, seit zwei Jahren herrschte in Polen Kriegszustand, also blieb er im Land. Und organisierte fünf Jahre später, 1988, erneut einen Streik, der schließlich zu den Gesprächen am Runden Tisch führte.

Nun, dreißig Jahre später, sitzt er da, wo er früher seine Arbeit niederlegte, auf dem Gelände der ehemaligen Leninwerft. Mittlerweile sind fünf Minuten vergangen. Soll ich weiter warten? Etwas sagen? Ich habe Block und Aufnahmegerät herausgeholt, Wałęsa werkelt immer noch. Sieben Minuten wird es noch dauern, der Mitarbeiter und ein weiterer Kollege haben sich an einen Tisch am anderen Ende des Zimmers gesetzt. Vier Menschen in unterschiedlichen Ecken des Raumes, alle schweigen. Die Szene erinnert an eine Theaterbühne, auf der die Schauspieler leise ihre Positionen einnehmen, bevor sich der Vorhang hebt.

Dann, ganz plötzlich, steht Lech Wałęsa auf, geht die zwei Meter zum Sessel mir gegenüber, lässt sich hineinfallen, schaut mich zum ersten Mal an — oder schaut er durch mich hindurch? Er gibt mir nicht die Hand, er wünscht mir keinen »Guten Tag«, er sagt zwei andere Wörter: »Erste Frage.«

Die Zeit läuft.

»Herr Wałęsa, wie war das damals …«

»Was weiß ich, wie das damals war.«

»Was denken Sie über …«

»Hören Sie, gute Frau. Ich denke erst mal gar nichts. Ich bin hier nicht zum Denken, ich denke an gute Luft oder Vögel, an sonst nichts. Aber ich sage Ihnen Folgendes …«

Es ist nicht leicht, mit Lech Wałęsa zu sprechen. Über Historisches will er höchstens dozieren, jede private Frage wehrt er ab, und spricht man ihn auf die Gegenwart an, lässt er einen nicht ausreden.

»Ich glaube, dass es gar nicht so schlecht ist, dass Leute wie die von der PiS oder auch Trump in den USA an die Macht gekommen sind. Das zeigt ja auch: Die Menschen sind auf der Suche. In Amerika, in Frankreich, in Polen, überall. Nun sind wir wirklich gezwungen, Lösungen zu finden. Lösungen gegen den Rechtsruck und den Nationalismus. Und man muss ehrlich sagen: Wir haben bisher noch keine gefunden.«

Warum, denken Sie, sind die Polen so gespalten? Wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland? Welche Lösung gäbe es, um das Land zu vereinen? Wen sehen Sie an der Spitze der Opposition? Würden Sie es vielleicht sogar lieber selbst machen?

Auch auf diese Fragen reagiert Lech Wałęsa genervt. Er hält lieber Monologe. »Warum über Polen reden? Die ganze Welt ist doch in der Krise gerade. Keiner hat eine Lösung gefunden für das 21. Jahrhundert. Wir in Polen haben uns 1989 getraut, wir haben einen Sprung gemacht. Aber nun fragen wir uns: Wer sind wir heute? Was sind die europäischen Fundamente in unserem Land? Wir wollen den Kommunismus nicht zurück, sind aber auch nicht mit dem Kapitalismus zufrieden.«

Wie fast alle Polen sagt auch Wałęsa »Kommunismus«, wenn er von der Volksrepublik Polen spricht, vom realsozialistischen Staat bis 1989.

Dass viele Polen »nicht zufrieden« sind mit dem Kapitalismus, liegt natürlich auch an Lech Wałęsa. Er prägte maßgeblich die Politik der Nachwendezeit mit, in der in Polen die Marktwirtschaft eingeführt wurde, ohne wie in Deutschland das Attribut »sozial« zu führen. Aber über seine Zeit als aktiver Politiker möchte Wałęsa auch nicht reden.

Die Zeit der Präsidentschaft ist seine Achillesferse. Sosehr er während der Wendezeit von seinen Landsleuten und dem Rest der Welt auf ein Podest gestellt wurde, so schnell fiel er herunter, als er auch ganz offiziell Politik machte. Was auf der Werft noch charmant gewirkt hatte, seine direkte Art, seine Ungeduld, sein Draufgängertum, funktionierte bei Staatsbanketten nicht mehr. Wałęsa saß plötzlich in Warschau. Er hasste die Stadt und zerstritt sich mit vielen seiner Mitarbeiter. Seine Beliebtheit sank auch in der Bevölkerung, 1995 wurde er nicht wiedergewählt.

In diesen Jahren begann Jarosław Kaczyński langsam aus der Deckung zu kommen. Immer wieder hatte er kritisiert, dass die Verhandlungen am Runden Tisch, die sein Rivale innerhalb der Solidarność, Lech Wałęsa, geführt hatte, gescheitert seien. Er sprach von einem Kuhhandel zwischen der damaligen Elite der demokratischen Opposition und den Postkommunisten.

Dabei sagen viele Experten, dass Wałęsa mit dem Runden Tisch richtiggelegen hatte. Dass die Bevölkerung überfordert gewesen wäre, hätte sie nicht nur die harten marktwirtschaftlichen Reformen überstehen, sondern auch noch den Kampf ausfechten müssen, die Zeit des Kommunismus aufzuarbeiten. Doch die Geschichte des Elektrikers, der sich hatte unterbuttern lassen, der nicht genug rausgeholt hatte für das Land, war machtvoll. Sie rührte an den Minderwertigkeitskomplex der Polen: Wieder einmal waren sie zu kurz gekommen, wieder hatten sie sich von Fremden, in diesem Fall der von den Sowjets installierten kommunistischen Regierung, bestimmen lassen.

Kaczyński ließ sich Zeit, seine Erzählung vom geknechteten Polen und seinen Verrätern auszuarbeiten. Teil dieser Erzählung ist »Bolek« — der Deckname eines inoffiziellen Mitarbeiters des Geheimdienstes, verzeichnet auf Listen, die schon Anfang der Neunzigerjahre veröffentlicht wurden. Lech Wałęsa bestreitet bis heute, »Bolek« gewesen zu sein, doch 2017 bestätigten Graphologen den Verdacht. Auch wenn Historiker einschränken, dass er wahrscheinlich nicht aus ideologischen Gründen gehandelt habe, sondern unter Zwang stand.

Der alte Held stürzte, es öffnete sich Raum für einen neuen.