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Jan V. Wirth
Heiko Kleve

Die Ermöglichungsprofession

69 Leuchtfeuer für
systemisches Arbeiten

2019

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe: »Systemische Soziale Arbeit«

hrsg. von Heiko Kleve

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © peppi/panthermedia

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0309-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8198-9 (ePUB)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 69115 Heidelberg

Tel. + 49 6221 6438 - 0 Fax + 49 6221 6438 - 22

info@carl-auer.de

Inhalt

Einleitung

Philosophie

1Natürlich ist eine Soziale Arbeit ohne Philosophie möglich, nur: wozu?

2Postmoderne bedeutet nicht, dass alle Perspektiven gleich brauchbar sind, sondern bedeutet die konstruktive Nutzung der Ambivalenz, die beim Gewahrwerden unterschiedlicher Perspektiven entsteht.

Wirklichkeit

3Die Welt ist nicht, wie sie scheint, und vor allem ist sie praktisch nie so, wie sie noch sein könnte.

4Sozialarbeiter/innen agieren sinnvoll, wenn sie gezielt zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit pendeln. Hier ist der Doppelte Blick der Sozialen Arbeit angesiedelt.

Konstruktion

5Wollen Sie zusehen, wie die Welt entsteht, dann beobachten Sie die Beobachter/innen beim Beobachten.

6Hinterfragen Sie Ihre Unterscheidungen, und Sie werden sehen.

7Wahrheit bleibt immer Wahrheit des so beobachtenden Systems.

8Probleme sind nicht einfach da, sondern sie entstehen, weil wir die »Dinge« so verknüpfen, dass Probleme »entstehen«.

9Das Zuhause ist nicht nur ein Ort, sondern darüber hinaus ein Gefühl, das auf Beziehungen beruht.

Wissen und Nichtwissen

10Wir wissen erst, was wirklich möglich ist, wenn es möglichst wirklich wird.

11Wir wissen nicht, was wir nicht wissen – und nicht einmal das wissen wir zu nutzen für die vielen Gestaltungsmöglichkeiten, die in jeder Beziehung angesiedelt sind.

12Wenn mir jemand sagt, er wisse nicht, sage ich ihm, dann sind wir schon zu zweit.

13Die professionelle Herausforderung des praktischen Handelns besteht nicht im Mangel an Wissen, sondern in der Akzeptanz und der Gestaltung des Nichtwissens, das mit jeder Beziehung einhergeht.

14Wenn Sie sagen, Sie wissen, meinen Sie damit, dass Sie wissen, dass es auch anders sein könnte?

Ambivalenz und Umgang

15Wir können die Ambivalenz nicht abschaffen, indem wir sie ausblenden; wir können nur mit ihr umzugehen lernen.

16Die Ambivalenz von Ambivalenz ist, dass Ambivalenz fallweise entweder eine erwünschte oder eine unerwünschte Mehrdeutigkeit bezeichnet.

17Ambivalenz sollte in die Liste der wichtigsten Bildungsgüter aufgenommen werden.

Haltung

18Es gibt mindestens zwei bedeutende Tage im Leben von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen: Der eine Tag ist der, an dem sie es werden. Der andere Tag ist der, an dem sie erkennen, warum sie es geworden sind.

19Postmodern zu sein bedeutet, sich immer wieder neu selbst festzulegen unter vielen immer auch anders möglichen Werten.

20Die ersten Hilfebedürftigen sind wir selbst.

21Haltung bezeichnet eine Selbstfestlegung des Handelns nach normativen Einstellungen.

22Professionalisierung beginnt mit der dreifachen Antwort auf die Frage: Wozu?

23Postmodern zu arbeiten bedeutet, renitent zu bleiben gegenüber vereinfachenden Komplexitätsreduktionen.

Kommunikation

24Uns beunruhigen nicht die Leute oder Dinge, sondern die Kommunikationen, die sich auf diese Leute oder Dinge beziehen.

25In der Sozialen Arbeit geht es genauso wenig um den einzelnen Menschen, wie es in der Musik um die einzelne Note geht.

26Carpe colloquium!

27Missverständnisse sind das nötige Salz in der Suppe der professionellen Alltagskommunikation.

28Wir sind, was wir geworden sind, weil unsere Beziehungen zu anderen so sind, wie sie von uns zusammen gestaltet werden.

Handeln

29Handeln macht klug. Reflektieren macht klüger.

30Es gibt keine guten Handlungen, sondern lediglich Deutungen von Handlungen als gute.

31Handeln Sie nach der Maxime, durch die Sie zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz für professionelles Handeln werde.

32»Verwahrlosung« wird üblicherweise auf unsere Nutzer/innen bezogen. Ohne Theorien und Methoden aber »verwahrlosen« wir als Fachkräfte.

33Wenn die nächsten Nutzer/innen hereinkommen, sollten wir die letzten bereits vergessen haben.

34Helfen ist praktisch nicht schwer. Es verkompliziert sich allerdings durch den Eigensinn der Beteiligten.

Lebensführung

35Wer Inklusion für die Lösung hält, hat das Problem nicht verstanden.

36Wenn Sie entscheiden können, weshalb machen Sie sich dann Sorgen? Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie sich gerade nicht anders entscheiden können, weshalb machen Sie sich dann Sorgen?

37Die häufigste Zumutung, die Menschen widerfährt, ist die Vereinfachung ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungsimpulse.

38Hilfsbedürftigkeit informiert darüber, dass die Möglichkeiten, die mit jeder Lebenslage einhergehen, aktuell nicht eingeblendet oder nicht genutzt werden können.

39Das heutige Schulsystem ignoriert die Komplexität seiner gesellschaftlichen Aufgaben: Systemisch passender wäre nicht nur MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), sondern auch GIVE (Gesellschaft, Inklusion, Verbundenheit, Empathie).

Systemisch arbeiten

40Die Grenzen unserer Begriffe sind die Grenzen unseres Begreifens.

41Der Ausgangspunkt jeder Ausgrenzung ist die Kategorisierung oder – wie wir auch sagen könnten –: das Denken in Arretierungen.

42Systemisches Arbeiten bedeutet, Probleme und Lösungen aus vielen Perspektiven zu betrachten (mehrperspektivisches Vorgehen), fachliche Grenzen zu überschreiten (transversales Vorgehen) sowie Unterschiede im Denken, Fühlen und Handeln anzuregen und die weitere Entwicklung zu beobachten (differenztheoretisches Vorgehen).

43Will sich jemand von Neuem mal sehen, braucht er/sie nur fünf Schritte zu gehen.

44Die Praxis verhält sich zur Theorie wie die See zur Seekarte.

45Wollen Sie systemisch arbeiten, bauen Sie Sozialsysteme auf, in denen wertschätzend kommuniziert wird. Verstärken Sie das Fundament mit Antworten auf die Frage, welche wechselseitigen Erwartungen aufeinander ausgerichtet werden. Konstruieren Sie mit den Nutzern und Nutzerinnen das Haus ihres zukünftigen Soziallebens, und richten Sie drum herum einen Garten voller Ideen ein. Nach dem Einzug: Reisen Sie zügig ab!

46Auch eine systemische Soziale Arbeit, die eindeutige Bewertungen von »richtig« und »falsch« relativiert, erlaubt die Feststellung von Fehlern.

47Wir nehmen Abstand von Theorien biologischer Veranlagung, um menschliches Verhalten zu erklären, und betrachten die sozialen Kontexte, die Verhalten sinnhaft rahmen und herausfordern.

Methoden

48Es ist ihre Anwendung, die aus Theorien Methoden macht.

49Die erste Aufgabe von Beratung ist es, Phänomenen den passenden Namen zu geben.

50Die Begriffe »Anamnese«, »Diagnose« und »Intervention« sind Blendwerk. Das Wesentliche Sozialer Arbeit liegt im Schatten: der transformierende Dialog.

51Wenn Sie glauben, die Lösung zu kennen, sind Sie Teil des Problems.

52Das Instrument im Koffer von Sozialpraktikern und -praktikerinnen ist nicht das Stethoskop der Mediziner, der Fragebogen der Psychologen, das Theaterglas der Soziologen oder das Teleskop der Philosophen, sondern das Kaleidoskop.

53Auch eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit einem ersten Schritt. Nur … weshalb sollten wir so weit zu Fuß gehen?

54Veränderungen sind leicht, solange sie einen nicht (zufällig) selbst betreffen.

55Die eindrücklichste Intervention ist die Person der professionellen Fachkraft selbst.

56Probleme sind keine Hindernisse, die wir zu bewältigen haben, sondern Wegweiser, die versuchen, uns etwas aufzuzeigen: die passenden Pfade für die Lebensführung.

Fähigkeiten

57Das eine zugleich für das andere halten zu können ist eine besondere Fähigkeit von postmodernen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

58Neue Perspektiven entstehen nicht zwischen Gleichdenkenden, sondern zwischen Andersdenkenden. Die Kunst ist es, sie nicht wieder zu zerstören.

59Differenzakzeptanz meint in ihrer anspruchsvollen Form: ein Nein als Chance zu akzeptieren.

60Das Leben wird leichter, wenn wir seine Komplexität akzeptieren.

61Wir sind begeistert davon, wie Menschen ihr Verhalten verändern, wenn sie bemerken, dass wir sie dazu für fähig halten.

Macht

62Der Unterschied zwischen »einfachen« und »schwierigen« Klienten und Klientinnen besteht darin, dass die einen zu vielem »Ja« sagen, während die anderen zumeist sagen: »Ich denke darüber nach.«

63Soziale Arbeit fordert nicht nur Veränderung, sie ist im besten Falle selbst Veränderung.

64Evidenz heißt das neue Brecheisen in der Sozialen Arbeit, das dazu dient, ihre Ambivalenzen endlich zu bezwingen.

65Gesprächsführung mithilfe eines standardisierten Fragebogens ist kein Zeichen von Professionalisierung, sondern ein fachliches Armutszeugnis.

66Die vierte Kränkung des Menschen nach Kopernikus, Darwin und Freud stammt von Luhmann. Sie besteht in der Erkenntnis, dass der Mensch sich nicht durch die in ihm gleichsam angelegte Intelligenz und Tugendhaftigkeit selbst hervorbringt, sondern seine gesamte Existenz und Identität verschiedenen sozialen Systemen in seiner Umwelt verdankt.

Vielfalt

67Werte orientieren uns wie Sterne am Himmel; es gibt jedoch viele davon.

68Sozialer Wandel beginnt nicht mit einem zustimmenden Ja, sondern mit einem kritischen Nein.

69Wissenschaftliche Theorien und Methoden mit festen Regeln mögen das Richtige sein für Leute, die sich nicht trauen, ohne Anweisung zu denken und zu handeln. Soziale Arbeit dagegen braucht Theorien und Methoden, die die Vielfalt des Denkens und Handelns fördern.

Literatur

Über die Autoren

Einleitung

Systemische Ansätze sind in der Praxis der Sozialen Arbeit inzwischen Allgemeingut. Und die postmoderne Perspektive hat sich in der sozialarbeiterischen Theorielandschaft etabliert. In diesem Buch werden systemische und postmoderne Ansätze vereint. Mit »postmodern« ist für uns kein eindeutiger gesellschaftlicher Zustand beschrieben, sondern eine bestimmte Gemüts- und Geisteshaltung. Mit dieser Haltung können wir uns auf eine soziale Welt einstellen, die uns zunehmend vielfältig und unübersichtlich erscheint. Es geht uns darum, eine ganz bestimmte persönliche und berufliche, eben eine »postmoderne« Haltung zur Welt, der Lebensführung, zur sozialberuflichen Praxis und zu uns selbst einzuüben. Mit dieser Haltung unterbreiten wir sozialprofessionellen Fachkräften ein Angebot, damit sie in ihrer sozialen Tätigkeit passender mit Phänomenen wie Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit umgehen können. Denn welche Theoriebrille wir dabei auch aufhaben, stets hängen Gebrauch und Nutzen dieser Brille insbesondere von der Haltung derjenigen ab, die sie sich aufsetzen.

Lebensführung ist heute widersprüchlicher als je zuvor in der Geschichte der Gesellschaft. In Situationen von Unübersichtlichkeit und Vielheit erleben wir diffuse und widersprüchliche Gefühle, nehmen teil an herausfordernden Kommunikationen oder haben mit Nichtwissen umzugehen. Es geht immer wieder darum, grundsätzliche oder bestimmte Entscheidungen in einem oder mehreren Lebensbereichen zu treffen. Die Aspekte, die diese Entscheidungen beeinflussen, sind nie gänzlich und abschließend analysierbar, sie liegen möglicherweise im Verborgenen oder ändern sich von Moment zu Moment. Und die Wirkungen der Entscheidungen können nicht vorhergesehen werden, sondern produzieren nicht selten zahlreiche Überraschungen. Und obwohl die Verhältnisse unser Verhalten in verschiedener Weise und Form beeinflussen, ja sogar prägen, werden den Individuen die Folgen ihrer Entscheidungen höchstpersönlich zugerechnet.

Diese knapp beschriebene Erfahrung des postmodernen Lebens teilen sowohl die Professionellen in der Sozialen Arbeit als auch die Nutzer/innen sozialarbeiterischer Dienstleistungen miteinander. Die »postmoderne Lebensführung«, ein Thema, das in diesem Buch durchweg aufscheint, dient uns als »Gegenstand« der Theoriebildung, die dabei entstehenden »Probleme« als Bezugsproblem für sozialprofessionelles Arbeiten. Die Lebensführung hat sowohl eine persönlichindividuelle als auch eine beruflich-professionelle Seite. Beide Seiten werden hier eingeblendet: die private Seite bezüglich der Nutzer/innen Sozialer Arbeit, die beruflich-professionelle Seite bezüglich der sozialprofessionellen Fachkräfte. Diese Seiten werden vor allem mittels der systemischen Theoriebrille in den Fokus gerückt.

Mit dem systemischen Ansatz, wie etwa mit der Theorie biopsychosozialer Systeme in der Tradition von Niklas Luhmann, lässt sich das postmoderne Leben von Sozialprofessionellen und der Nutzer/innen Sozialer Arbeit recht präzise beschreiben und erklären. Jenseits der vielen empirischen Einzelbeispiele und Fälle, die wir mit unseren »Leuchtfeuern« auch anbieten, können wir mit der systemischen Theorie Muster erkennen und Abläufe analysieren, die uns ohne diese Theorie nicht so differenziert in den Blick kommen würden.

Allerdings ist der Zugang zum systemischen Fachwissen mühselig, geht er doch mit der Notwendigkeit einher, sich durch ausgearbeitete Theorien mit zahlreichen kompliziert klingenden Fachbegriffen und verschachtelt wirkenden Beschreibungen und Erklärungen hindurchzuarbeiten. Auch in diesem Buch, in den von uns zusammengestellten »69 Leuchtfeuern«, können wir den Lesern und Leserinnen diese Mühe nicht ganz ersparen. Dennoch bieten wir einen etwas anderen Weg, sich in das Gebäude der systemischen Praxis und der postmodernen Sozialarbeitstheorie hineinzubewegen und sich darin umzusehen.

Insbesondere Jan V. Wirth hat seit dem Jahre 2012 zahlreiche Aphorismen geschrieben, die er aus seiner Tätigkeit als Berater und Praxisentwickler gewonnen hat. Sie boten das Material und den Ausgangspunkt dafür, gemeinsam mit Heiko Kleve die vorliegenden »69 Leuchtfeuer« auszuformulieren, ihren Sinn auszuarbeiten und zunächst im Blog »Reduzierte Komplexe« des Carl-Auer-Verlags in ihrer Wirkung bei potenziellen Lesern/Leserinnen zu testen. Angespornt durch den regen Diskurs im Blog, in dem die »Leuchtfeuer« munter diskutiert, verworfen, neu interpretiert und von uns umkonstruiert wurden, entwickelten wir die Ideen und Erfahrungen weiter, die wir anfänglich mit ihnen verbanden.

Mit dem vorliegenden Band können Sie sich nun die zentralen Ansätze des postmodern-systemischen Ansatzes in der Sozialen Arbeit in einer bisher nicht präsentierten Weise aneignen. Ausgehend von einem knappen Handlungsmotto, werden aktuelle Probleme der Sozialen Arbeit und ihrer Nutzer/innen ausgebreitet und mit Lösungsansätzen verknüpft, die für uns das spiegeln, was systemisches Denken in unserer aktuellen Lebenswirklichkeit ausmacht. Dabei fußen unsere Ausführungen auf der These, dass Soziale Arbeit ein anspruchsvolles Geschehen ist, das Fachkräfte handelnd, fühlend und denkend gestalten und verantworten müssen, eben mit »Kopf, Herz und Hand« (Pestalozzi). Alle »Leuchtfeuer« enthalten damit nicht nur theoretisches Wissen (Kopf), sondern auch wertbasierte Einstellungen (Herz) und methodische Anregungen (Hand). Dies alles, zusammen genommen, erscheint uns für eine Sozialprofession passend, die sich über ihre eigenen Ansprüche zunehmend Rechenschaft abzulegen versucht.

Die von uns entworfene Ermöglichungsprofession will nicht Lösungen für Probleme anbieten, sondern Möglichkeiten zu Entwicklung, zu Wachstum und zu einem sinnhaften Leben. Die Arbeitsweise, die hier entfaltet wird, bezieht sich auf eine Wirklichkeit, die veränderungswürdig sein kann und für die Möglichkeiten zu entfalten sind. Inwiefern diese Möglichkeiten auch Lösungen sind und wann sie es gegebenenfalls werden, sei dahingestellt. Sie sind Möglichkeiten, wenn Veränderungen als solche bezeichnet werden. Lösungen beziehen sich auf Probleme. Selbst diese Problemorientierung scheint uns problematisch. Unsere radikal möglichkeitsorientierte psychosoziale Begleitung und Unterstützung bezieht sich weder auf Lösungen noch Probleme, sondern auf Wirklichkeit und Möglichkeit, auf Bewahrenswertes und Verändernswürdiges.

Die drei Grundsätze von Ermöglichungsprofessionen lauten:

Respektieren Sie eindeutig scheinende Wirklichkeiten.

Wenn Sie Mehrdeutigkeiten erkennen, thematisieren Sie sie auf positive Weise.

Wenn Sie Möglichkeiten sehen, machen Sie mehr davon.

Einen Ratgeber mit einfachen, rein praktischen Lösungen für alle bieten wir nicht an. Brauchen wir nicht gerade solche Lösungen, die uns viel Spielraum zum je passenden und angemessenen Handeln lassen? Dies gilt angesichts der Vielfältigkeit und Einzigartigkeit von Lebenssituationen und -problemen. Oder auch für die Arbeit mit je einzigartigen Personen und Familien mit ihren auf den ersten Blick ähnlich scheinenden, auf den zweiten Blick jedoch teils ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen. Bedenken wir: Je kleiner der Handlungsspielraum ist, den der allseits so beliebte ganz konkrete Ratschlag noch lässt, desto größer ist das Risiko, dass er bereits im nächsten Moment nicht mehr ausreicht bzw. passt. Daher sind uns wichtig nicht das voreilige Urteil, der schnelle Blick, die oberflächliche Analyse, sondern das Erfassen der Mehrdimensionalität der Phänomene, wir könnten auch sagen: ihre Durchdringung, auf die es mehr als früher ankommt.

Das Lesen muss nicht unserer Nummerierung und Systematisierung folgen, sondern kann ganz nach den individuellen Interessen der Leser/innen geschehen. Egal, mit welchem »Leuchtfeuer« begonnen wird, klar wird sicherlich schnell, dass Soziale Arbeit etwas ist, das in der modernen Bewertung oft als problematisch erschien, aus der postmodernen Perspektive jedoch als großer Gewinn wirken kann: eine kaleidoskopische Angelegenheit.

So möchten wir am Ende des Vorwortes allen Lesern und Leserinnen eine anregende und spannende Lektüre wünschen, die hoffentlich ebenso viel aktionale, emotionale und kognitive Energie freisetzt, wie sie von uns beim Schreiben der »Leuchtfeuer« eingesetzt wurde. Nicht zuletzt dann, wenn sich dieser Ausgleich im Geben und Nehmen vollzieht, hat das Buch sein Ziel erreicht.

Jan V. Wirth und Heiko Kleve
im Herbst 2018

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Hallo, liebe Leser und Leserinnen,

Sie kennen uns noch nicht, aber das wird sich ändern! Wir sind nämlich das Dream-Team der sozialen Praxis. Warum wir so heißen? Och, das ist einfach. Wie unser Name schon sagt: »Dream«, das ist Englisch und heißt »Traum«. Denn wir sind das Team, von dem manche Sozialpraktiker/innen unter Ihnen noch träumen.

Wir arbeiten richtig gut zusammen, weil wir uns in unseren Persönlichkeiten ergänzen können, uns und den Nutzern und Nutzerinnen aufmerksam zuhören und uns Zeit nehmen für gemeinsame kritisch-konstruktive Reflexion, Entwicklung und Weiterbildung (ja genau: innerhalb der Arbeitszeit!).

Selbstverständlich haben wir regelmäßig externe Supervision, kollegiale Intervision und Fallberatungen im kleineren Kreis. Und seit einiger Zeit stellt jede/r von uns während der Teamgespräche sogar ein neues Fachbuch vor, das selbstverständlich zuvor gelesen wurde. Das ist unser Literaturzirkel, in dem wir uns abschließend fragen, wie wir das Gelesene gebrauchen können. Das wird ja auch vielleicht Ihre erste Frage sein, wenn Sie das Buch lesen.

Wenn Sie jetzt noch nicht neidisch werden, warten Sie, warten Sie! Das war ja noch nicht alles. Wir haben eine Leitung, die uns fragt, wie sie sich selbst oder die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit noch verbessern kann, soweit das in ihrer Macht steht. Ist das nicht professionell? Ja, und ohne sie wären wir auch nicht da, wo wir jetzt sind.

Zugegeben, bis wir so weit waren, war es weder ein leichter Weg, noch wird dieser Zustand wie von selbst ewig andauern. Es gilt immer wieder, mit Humor und Fachlichkeit, mit Teamfähigkeit und Abgrenzung, mit altem und neuem Wissen die Kommunikation zu erneuern und dadurch in ihrer Beweglichkeit zu stabilisieren. Sie nennen es Glück? Ja, warum nicht. Wir nennen es lieber Erfolg durch Fachlichkeit und Persönlichkeit, denn wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden.

Jetzt aber einen guten Einstieg in das Buch. Mal sehen, wie es Ihnen gefällt. Melden Sie sich gerne bei den Autoren: Erst durch Feedback werden wir zum Crack! So, auf dann, wir sehen uns spätestens am Ende dieses Buches wieder!

Beste Grüße, Ihr Dream-Team

Philosophie

1 Natürlich ist eine Soziale Arbeit ohne Philosophie möglich, nur: wozu?

Mit der Thematisierung von Philosophie in der Sozialen Arbeit verbinden wir mehrere Absichten, die sich einander ergänzen: Zunächst wollen wir mit dem Philosophieren nicht nur die Welt und die in ihr beobachtbaren Widersprüche erkennen, sondern uns vor allem darüber Rechenschaft ablegen, wie Erkennen, etwa das berühmte Sich-selbst-Erkennen, überhaupt möglich ist.

So können wir z. B. während des Sehens nicht sehen, wie wir sehen – systemtheoretisch formuliert: Die Beobachter/innen können beim Beobachten nicht gleichzeitig beobachten, wie sie beobachten. Damit sie die Art und Weise ihres Beobachtens im Nachgang einblenden, damit sie reflektieren können, brauchen sie Strukturen, etwa Fall- und Teambesprechungen sowie Supervisionen. Als Beobachter/innen brauchen wir außerdem bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten – ganz ähnlich denen, die zum Philosophieren benötigt werden. So geht es etwa darum, Widersprüche zu erkennen, konstruktiv nachzufragen, dialogisch zu argumentieren und auszuhandeln, das eigene Handeln zu reflektieren und nicht zuletzt: kritisch zu überdenken.

Beim Philosophieren stoßen wir absichtsvoll auf Phänomene, an denen das unter Handlungsdruck stehende Erkennen scheitert. Das Philosophieren bezieht sich grundsätzlich, so können wir sagen, auf das Beobachten – die empirische Wissenschaft hingegen auf das Beobachtbare.

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Wenn das eindeutige Erkennen unmöglich ist, sind wir auf das Nachdenken und Bedenken angewiesen.

Üblicherweise wird Theorie als Entwerfen, Konstruieren und Planen gedacht – hingegen Praxis als Handeln, Arbeiten und Herstellen. Das ist eine theoretisch zwar nachvollziehbare, aber praktisch nicht weiterführende Beobachtung. Im Lichte des Gesagten begreifen wir nämlich das Philosophieren als das reflexiv-kritische Element sozialer Tätigkeiten, ohne das weder das Handeln noch das Entwerfen eine umfassende Bedeutung für die Praxis bekämen.

Insofern meint Philosophieren für uns, zu lernen, zu beobachten, wie wir eigentlich beobachten, um daraufhin passend handeln zu können. Es heißt zugleich auch zu lernen, mit dem Nichtwissen umzugehen, das daraus folgt, dass das Selbsterkennen (Selbstbeobachten) weder in Gänze gelingt noch zu einem Ende findet. Wie sich dieses Philosophieren in praktischer Absicht zur Wirksamkeit entfaltet, bleibt für die Soziale Arbeit als angewandte Wissenschaft ein überaus wichtiges Thema.

Weiterhin bietet uns die Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen, etwa als Tugend- und Diskursethik, äußerst wertvolle Ideen dafür, über das Ziel der Sozialen Arbeit nachzudenken und zu reden, nämlich wie ihre Nutzer/innen dabei unterstützt werden können, jeweils ein gelingenderes Leben zu erreichen. Philosophie sagt uns jedoch nicht, wie das Leben Einzelner beschaffen sein sollte oder welche Ziele oder Entwürfe wir verfolgen sollten. Als Diskursethik gibt uns die Ethik jedoch nachvollziehbare Anhaltspunkte, plausible Orientierungen, anerkennenswerte Richtschnüre und Verfahren dafür, zu sehen, dass das »gute Leben« nicht ein für alle Mal fixiert und entworfen werden kann, sondern dass es in einer gemeinschaftlichen Lebenspraxis sowohl reflexiv besprochen als auch praktisch hergestellt werden muss. Die Maßstäbe dafür haben wir stetig zu prüfen, gemeinsam zu diskutieren und womöglich auch zu beherzigen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ohne die Möglichkeit der Teilnahme an diesen philosophischen Kommunikationen könnten wir weder erkennen, wie Erkennen möglich ist, noch kämen wir zu einer wenigstens vorläufigen gemeinsamen Auffassung darüber, was lohnenswerte Ziele der Lebensführung für uns sein könnten. Das hieße womöglich, wir müssten uns als Sozialarbeitende in jedem Morgengrauen aufs Neue mit der gleichen Frage beschäftigen: Wozu?

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Praxiseinsatz

Was bedeutet uns das Nachdenken im Team? Woran erkennen andere, dass wir ein zum Nachdenken fähiges Team sind? Von welchen Werten gehen wir in unserem Leben aus? Was kennzeichnet für uns ein »gutes« Leben? Welche Merkmale hat wohl eine »gelingende« Lebensführung?

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Praxisempfehlung

Menschen geben ihrem Leben in unterschiedlicher Weise Bedeutung. Sie bewerten es – sehr eigenständig. Unsere Aufgabe ist es, die Vielfalt der Werte zu achten, aber dennoch für unsere auf die Menschen- und Sozialrechte bezogenen Grundprämissen einzustehen. Dafür haben wir diese Rechte zu bedenken. Nehmen Sie sich Zeit.

2 Postmoderne bedeutet nicht, dass alle Perspektiven gleich brauchbar sind, sondern bedeutet die konstruktive Nutzung der Ambivalenz, die beim Gewahrwerden unterschiedlicher Perspektiven entsteht.

Der Diskurs der Postmoderne steht regelmäßig kurz vor seinem Ende. Sein Pluralismus und sein Relativismus böten offene Türen für verschiedene Kritiken. Wir wollen hier die Pro- und Kontraargumente nicht aufwärmen, sondern erläutern, warum die postmoderne Theorie und Haltung nach wie vor sehr brauchbare Anregungen für die Soziale Arbeit bieten.

Insbesondere Jean-François Lyotard hat die These aufgestellt, dass in der heutigen Gesellschaft das Wissen sein festes Statut verliert und postmodern wird. Die drei »großen Erzählungen« der Moderne, nämlich die Hermeneutik (das Sinnverstehen), die Dialektik (verstanden als zielgerichtete Entwicklung des menschlichen Geistes und der Gesellschaft) und die Emanzipation (die Befreiung des Menschen von natürlichen und sozialen Zwängen), haben sich als nicht realisierbar erwiesen: Hinsichtlich der Hermeneutik zeigen sich die Unabschließbarkeit und Kontingenz des Verstehen; bezüglich der Dialektik offenbart sich eher eine Ambivalenz der Geistes- und Gesellschaftsentwicklung, dass nämlich Fortschritte auch mit Rückschritten bzw. Lösungen mit neuen Problemen einhergehen; und die Idee der Emanzipation wird damit konfrontiert, dass der Gewinn von Unabhängigkeit neue Abhängigkeiten herausfordert.

Im Rahmen unseres systemischen Verständnisses wollen wir »Postmoderne« als Prozessbegriff mit Entwicklungsfähigkeit nutzen. Wir agieren postmodern, wenn wir uns von einer autoritär agierenden Wissenschaft abkehren und die Geltungsansprüche einer Rationalität im Singular bzw. der Vernunft oder des gesunden Menschenverstandes grundsätzlich infrage stellen.

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Wir nutzen deshalb, wann immer möglich, Verfahren, die transparent, dialogisch, mehrperspektivisch, beteiligungs- und vernetzungsfördernd ablaufen.

Das Infragestellen der einen Vernunft hat praktisch die Konsequenz, verschiedene Formen der Rationalität anzuerkennen und ergebnisoffen miteinander fruchtbar zu machen.

Die von uns bevorzugte postmoderne Ermöglichungsprofession versucht nicht, widerspruchsfreie Sozialtheorien aufzustellen bzw. mit eindeutigen Selbstbeschreibungen von Gesellschaft und Individuen zu arbeiten, sondern verweist auf einen wissenschaftspraktischen Rahmen für dialogische Arbeitshaltungen und beteiligungsfördernde Verfahren sowie auf wissenschaftliche Thesen unter Beachtung ihrer sozialen Bedingtheit und Konstruktion. Sie anerkennt die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen und Denkweisen nicht nur zum Schein, um sie etwa unter den Deckmänteln aufrichtiger Fürsorge oder realistischer Wissenschaft zu homogenisieren oder auf eine einheitliche Linie zu bringen. Die postmoderne Ermöglichungsprofession hat keine Universallösungen parat, denn ein solches Ideal wäre ja wieder Ausdruck und Vehikel für nicht postmoderne Zielsetzungen.

Unser Ansatz liegt demgegenüber im konstruktiven Umgang mit der hier angedeuteten Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich zahlreiche Formen der individuellen und sozialen Gestaltung von Lebenswelten und Lebensverläufen entwickeln und etablieren. Zudem geht es um die Anerkennung von Ambivalenz als unumgängliche Erscheinungen in nahezu allen Bereichen des sozialen und individuellen Lebens sowie in den Theorien, Haltungen und Methoden der Sozialen Arbeit.

Die Leuchtfeuer dieses Buches sind durchzogen und eng verflochten mit der Bestimmung von Ambivalenz als Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Möglichkeit im Medium von Sinn. Diese Ambivalenz kann jedoch nie aufgelöst, sondern nur weiter verschoben werden. Denn wie jede Beobachtung einen blinden Fleck zur Voraussetzung hat, produziert jede Sinnverwendung Ambivalenzen, ohne die sie keine wäre. Ambivalenzen sollen demnach nicht allein als Problem, sondern vielmehr als Lösungen bewertet werden. Wenn Nutzer/innen keinen Zugang zur Ambivalenz ihres Handelns haben, verfügen sie mit Blick auf ihre Probleme nicht über die Möglichkeit der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit.

SinnaufstellungenSinnsysteme in ihrer psychosozialen Bezogenheit und vorläufigen Verknüpfung