Über das Buch

Ein vielschichtiges, zutiefst inspiriertes literarisches Porträt über die rätselhafte Straßenfotografin Vivian Maier. Christina Hesselholdt schreibt den ersten Roman über diese radikal unabhängige Frau.

Als sie im Jahr 2009 stirbt, ist Vivian Maier eine einsame, verarmte Frau, die praktische Männerschuhe bevorzugte und skurrilerweise ständig eine Kamera bei sich trug. Kurz darauf avanciert sie posthum zur genialen Straßenfotografin: In ihrer Wohnung findet man einen riesigen Bilderschatz — an die 200.000 Fotos hat Vivian Maier über die Jahre aufgenommen, die meisten davon jedoch nie entwickelt. Wer war diese Frau, und was hat sie dazu bewogen, ein fotografisches Werk zu schaffen, ohne es je sichtbar zu machen? In Vivian geht Christina Hesselholdt der Faszination dieses Mysteriums nach. Ihr Roman ist ein vielschichtiges, zutiefst inspiriertes literarisches Porträt einer radikal unabhängigen Frau.

Christina
Hesselholdt

Vivian

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Hanser Berlin

Have you the Heart in your Breast — Sir — is it set like mine — a little to the left —

Emily Dickinson

ERZÄHLER (ich bin’s, der klappert … wenn ich den Deckel anhebe, um nachzusehen, ob die Charaktere schon kochen).

Eines schönen Tages, am vierten Donnerstag im November des Jahres 1929, sie hatten sich noch nicht scheiden lassen, soeben war ein Truthahn aus dem Ofen geholt worden und lag nun auf dem Küchentisch. Maria, die vom Land kam, konnte so klingen wie einer, wenn sie wollte, sie machte über den Truthahn hinweg das Truthahngeräusch, um ihre Tochter Vivian und ihren Sohn Charles — auch Carl genannt — und ihren Ehemann Charles zu erheitern, und vielleicht auch die Schwiegereltern, die Carl mitgebracht hatten, denn er wohnte bei ihnen, und der Truthahn wurde mit jedem Mal lächerlicher. Sie lebten erst so kurz im Land, dass die Einhaltung all dessen, was dieser Feiertag an Cranberrysoße und Pumpkin Pie diktierte, eine Möglichkeit bot, sich an Amerika zu klammern, der große Truthahn war Amerika … an diesem schönen Tag also klopfte es bei Familie Maier an der Tür. Es war der kleine, einst so penible Herr Julius Hauser, der Bruder von Oma Maria, Vivians Großmutter väterlicherseits, der stets seine Pantoffeln in einer Papiertüte mitzubringen pflegte, um sich vor kalten Fußböden zu schützen, inzwischen aber vollkommen verlottert war. »Füll Wasser in die Zinkwanne«, rief Charles Maier seiner Frau Maria Jaussaud Maier zu (Jaussaud, ihr eigener französischer Nachname, der seit der Hochzeit als Zwischenname fungierte, bebte vor Erwartung, erneut die Hauptrolle zu spielen), »ehe du wieder sauber bist, kommst du uns nicht ins Wohnzimmer, Hauser«, sagte Charles zu Julius, und Vivian sah, dass ihr Vater keine Lust hatte, ihn anzufassen, und nach einer sauberen Stelle an seiner Jacke suchte, doch es gab keine saubere Stelle, und mit einer Miene des Ekels (die Oberlippe zur Nase geschürzt, die Mundwinkel nach unten strebend) nahm er ihn mit zwei Fingern am schmutzverschmierten Kragen (verschmiert von Erbrochenem und dem Dreck der Gosse, in der er im Suff gelandet war und vermutlich auch die Nacht verbracht hatte, ein Wunder, dass ihm nichts zugestoßen war) und zerrte ihn in die Küche, wo Vivians Mutter bereits das Wasser erhitzte. Sie schlossen die Küchentür, aber kurz darauf drückte Vivian lautlos die Klinke herunter und schob die Tür einen Spalt weit auf. Julius saß in der Zinkwanne, der Vater schrubbte ihm den Rücken, während die Mutter in einem Topf auf dem Herd seine Kleidung wusch, ein Ärmel streckte sich grüßend empor, doch sie stieß ihn wieder nach unten. Die Küche war voller Dampf, es roch nach gekochten Eingeweiden, Julius’ Gesicht und Oberkörper waren rötlich, Vivian wusste, dass er als Fleischer arbeitete oder gearbeitet hatte (in einem Hotel, vielleicht bedeutete das lediglich, dass er für das Fleisch zuständig war, aber darüber dachte sie nicht nach, sie war erst drei Jahre alt), und deshalb mochte sie ihn nicht leiden. Sie hätte schwören können, dass nur ihr eines Auge durch den Spalt sichtbar war, und dieses eine Auge musste zusehen, immer weiter zusehen, und es sah, wie Julius in der großen Wanne geschrubbt wurde, und Julius Hauser sah plötzlich das Auge im Spalt und rief: »Nur hereinspaziert, meine Kleine«, ihre Mutter wandte sich mit dem tropfenden Kochlöffel vom Herd ab, ihr Vater versetzte Hauser mit der Badebürste einen Schlag auf den Kopf und brüllte auf Deutsch, er sei ein Teufel.

Als Charles Maier zum zweiten Mal mit der Bürste auf Hauser einhieb, erhob sich dieser aus der Wanne, er drohte auszurutschen und griff in der engen Küche ins Leere, und wie es genau zuging, konnte so schnell niemand sehen, aber jedenfalls fiel der Truthahn zu ihm in die Wanne. »Sollen wir dich auch schrubben«, grölte er und nahm das große, goldene Karamell zwischen die Beine (und hier ist man herzlich eingeladen, die Szene aus diesem einen Fellini-Film vor sich zu sehen, den Titel habe ich vergessen, wo eine Gruppe Jungs ein paar Hühner fängt, die sie dann bumsen oder so tun, als ob, jeder Junge presst sich ein flügelschlagendes Huhn gegen den Unterleib, und die schlagenden Flügel sehen aus wie Propeller, die die Körper der Jungen antreiben), doch dann traf ihn ein weiterer Bürstenhieb, und er zog den Truthahn aus dem Dunkeln und reichte ihn Maria. Sie stand mit einem Handtuch bereit und nahm ihn entgegen, als wäre er ein Kind, das aus den Wellen steigt und schnell abgetrocknet werden muss, aller Hohn war nun Fürsorge gewichen, der Gedanke an die große Depression wieder allgegenwärtig, es war ein ungeheuer teurer Truthahn.

Julius Hauser durfte nicht mitessen, obwohl er wieder ganz sauber war, und Vivian war der Appetit auf den Truthahn vergangen, weil er zwischen den Beinen des Fleischers gesteckt hatte, wo sie ein wenig runzelige Haut baumeln sah, als er aus der Wanne stieg, aber ihre Mutter, am 11. Mai 1897 in den französischen Alpen geboren, sagte zu Vivian Dorothea Theresie Maier, 1926 in New York City geboren, dass sie ihn abgespült habe und Vivian davon essen müsse, während Karl (in Amerika Charles) Wilhelm von Maier, 1892 in Österreich geboren, die Gelegenheit zum Streit ergriff und erwiderte, das müsse sie keinesfalls, »dann bleibt eben mehr für uns übrig«, und kurz darauf sagte er beileibe nicht zum ersten Mal in dieser Ehe zu Maria, sie wisse nicht, was ein Mann sei, womit er darauf anspielte, dass sie nie einen Vater gehabt hatte, denn der, Nicolas Baille hieß er, war nach Amerika durchgebrannt und irgendwo tief im Westen Viehhirte geworden, nachdem er, selbst gerade mal siebzehn Jahre alt, Marias sechzehnjährige Mutter geschwängert hatte. Worauf sie sagte: »Und ich, die erlaubte, dass mein Geburtstag auch mein Hochzeitstag wurde, ließ das eine Unglück ins andere wuchern.«

Der Streit lieferte Charles Maier an jenem Tag einen Vorwand zum Trinken, und da Julius Hauser ohnehin schon frischgeschrubbt auf einem Küchenstuhl saß, konnte er Charles genauso gut ein bisschen Gesellschaft leisten, und sie stimmten gemeinsam österreichisch-ungarische Trinklieder an, während der Rest der Familie — als da waren, neben Maria und Vivian und ihrem sechs Jahre älteren Bruder: Charles’ Eltern, seine Schwester Alma und deren Mann, Josef Korsunsky aus Kiew, jetzt als Seidenhändler unter dem Namen Joseph Corsan in Manhattan, und Vivians Großmutter mütterlicherseits, Oma Eugénie, eine französische Sterneköchin, die in allen großen Häusern gearbeitet hatte; alle Gäste waren Einwanderer und schufteten schwer, auch jene, die schon ein hohes Alter erreicht hatten — bereits im Laufe des Streits eingetroffen war, um vom Truthahn zu essen. Im Wohnzimmer herrschte ein ebensolches Gedränge wie in diesem Absatz, aber jetzt ist die ganze Versammlung, wenn schon nicht eingeführt, dann doch immerhin namentlich erwähnt worden, und das hoffentlich, ohne jemanden zu vergessen. Da saßen sie also alle um den Esstisch herum und lauschten ihrem Vater, Sohn, Ehemann, Bruder, Schwiegersohn Charles Maier, wie er nebenan in der Küche immer betrunkener wurde. Seine Eltern und Marias Mutter stießen einen österreichisch-ungarischen Seufzer nach dem anderen aus und hoben immer wieder mechanisch die Arme und sagten, der österreichische Metzgersköter und die französische Katze hätten einander nie heiraten dürfen. Indem sie peinlich darauf achteten, stets nur die eigenen Kinder zu kritisieren und schlechtzumachen, nie die der anderen, gelang es den beiden Großmüttern, eine lebenslange Freundschaft zu pflegen — über den Irrsinn der übrigen Familie hinweg.

»Ich verspüre keinerlei Bedürfnis, diesen Trunkenbold je wiederzusehen«, sagte Maria Hauser von Maier über ihren Sohn, »er ist ein nutzloses Subjekt.«

»Meine Tochter ist faul und bösartig«, erwiderte Eugénie Jaussaud.

»Carl und Vivian dagegen …«, sagte Maria Hauser.

»Ja, um die würde ich kämpfen wie eine Löwin«, sagte Eugénie.

Tags darauf trennte sich Maria zum Gott weiß wievielten Mal von Charles und ließ den Namen Maier zurück, als sie ging. Und ihren Sohn überließ sie den Schwiegereltern, bei denen er bereits mehrere Jahre gewohnt hatte, nach einem kurzen Ausflug ins Heim, wo er vor den heftigen Auseinandersetzungen seiner Eltern in Sicherheit gebracht worden war.

»Sie wollten mich nicht haben«, sollte er später über seine Eltern sagen, »das Einzige, wovon sie mir genug gaben, waren Namen.«

Er war schon früh auf den Weg der Namensverwirrung geführt worden, denn er wurde nicht ein, sondern zwei Mal getauft, was an der mangelnden Einigungsbereitschaft der katholischen Mutter und des evangelischen Vaters lag, beim ersten Mal wurde er Charles Maurice Maier getauft (und obendrein von seiner Mutter in einer Spalte des Taufscheins als filius naturalis angegeben, also als uneheliches Kind, obwohl er neuneinhalb Monate nach der Hochzeit geboren worden war), beim zweiten Mal Karl William Maier. Im weiteren Verlauf sollte der französische Teil der Familie ihn Charles nennen und der österreichische Carl, ganz platt gesagt war das zum Schizophrenwerden, und genau diese Diagnose bekam er dann auch Ende der fünfziger Jahre gestellt — als er sich schon lange »John William Henry Jaussaud (Karl Maier)« nannte und das Amerikanisch-Französische und das Deutsche solidarisch miteinander vereinte.

An Vivs Taufe (die nur einmal stattfand) überraschte am meisten, dass sich ihre Mutter auf dem Taufschein plötzlich einen neuen Zwischennamen gab. Sie nannte sich Justin, als wollte sie andeuten, sie hätte Viv mit einem Mister oder Monsieur Justin bekommen. Vergleicht man jedoch Bruder und Schwester, haben sie (im Profil) dieselbe spitze, aufwärtsstrebende Nase und ein leicht fliehendes Kinn. Sie haben etwas Sturmgebeuteltes an sich. Als wäre ein Wind (oder eine Hand) mit zu viel Kraft über ihre Gesichtszüge gefahren.

Maria nahm Vivian mit, als sie ging. Sie sagte, es gebe nicht genug Platz für zwei Kinder in der Wohnung im sechsten Stock in 720 St. Mary’s Street, wo sie bei der Porträtfotografin Jeanne Bertrand zur Untermiete wohnte … aber von dort war es nicht weit bis zu den Schwiegereltern, nur ein Spaziergang quer durch den St. Mary’s Park.

ERZÄHLER

Und jetzt ein gewaltiger Sprung ins Jahr 1968.

MR. RICE

Als ich zum Bahnhof fuhr, um sie abzuholen, dachte ich an meine früheren Kindermädchen, und in meinem Körper breitete sich ein wohliges Gefühl aus, von warmen Busen und Armen, die mich umfingen, der ganzen Leibesfülle, die über mich gebeugt wurde, um mich hochzuheben und an sich zu drücken, und die mir immer nur Gutes wollte. Ich war Vivian Maier noch nicht begegnet, Sarah hatte das Vorstellungsgespräch mit ihr allein geführt. Wir wollten dieses Mal ganz sichergehen, die richtige Wahl zu treffen, und auf Sarah hatte sie einen sehr guten Eindruck gemacht (Maier selbst interessierte sich vor allem dafür, ob es eine schnelle Verbindung von uns in die Stadt gab), und sie war kaum bei uns eingezogen (und ich noch auf Geschäftsreise), da starb ihr Vater, und sie musste wieder aufbrechen, um zu seiner Beerdigung zu fahren.

ERZÄHLER

Der Bahnsteig leerte sich, die Möglichkeiten schrumpften, nur sie stand noch dort, hochgewachsen und schmal wie ein Stock, soeben mit dem Vier-Uhr-Zug aus New York eingetroffen, fast ohne Gepäck, und Mr. Rice’ süße Träume (von einem molligen Kindermädchen in einem kurzen Kleid mit Volants und vielleicht auch einer Schürze, immer zum Greifen nah, wie eine Glühbirne, nein, ein Lagerfeuer im Zimmer neben Ellens Zimmer, während Ellen schlief oder im Garten spielte, und er hatte lange Hände, ganz gleich, wo im Haus sich das Kindermädchen gerade befand, würden seine Hände herbeiwachsen, ihre Schenkel hinauf- und um ihre Hinterbacken ranken, und da ragt doch glatt ein Arm aus dem Ausschnitt hervor, wo kommt der bloß her) waren im Nu verflogen.

MR. RICE

Ich will nicht behaupten, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um sie anzusehen, aber es war kurz davor, und nachdem ich eben noch in Kindheitserinnerungen versunken gewesen war, verwirrte es mich, dass sie größer war als ich (als wäre ich noch immer ein Kind).

Mein herzliches Beileid, sagte ich und ging ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Aufgrund ihrer Größe erwartete ich instinktiv ein nachdrückliches Zupacken, aber ihr Händedruck war feucht und flau, »Vivian Maier«, sagte sie, »nennen Sie mich einfach Viv.« Das klang sprunghaft, wie eine, die weg war, ehe man es sich versah, Viv und weg. Wie gesagt hatte sie kaum Gepäck dabei — zu diesem Zeitpunkt, wohlgemerkt, ich verspreche, dass es nicht dabei blieb —, einen Handkoffer, eine Schultertasche und eine Boxkamera, die auf Bauchhöhe an einem Riemen von ihrem Hals baumelte, eine Rolleiflex, wie ich sie mir auch immer gewünscht hatte. Wir stiegen ins Auto und sprachen über das, woran wir unterwegs vorbeifuhren. Sie arbeitete seit 1956 in Chicago, wir hatten uns auf ihre Annonce in der Chicago Tribune gemeldet.

ERZÄHLER

Sie war schon Ende der vierziger Jahre in Chicago gewesen, um ihren Bruder Carl in einer Nervenklinik zu besuchen. Als seine Großmütter starben, brach er völlig zusammen. Er brauchte eine Stunde, um den Apfel zu essen, den sie ihm mitgebracht hatte. Er war vor lauter Medizin wie gelähmt. Als er vom Stuhl aufstand und Vivian zu der verschlossenen Tür begleitete, bewegte er sich ruckartig, das Einzige, was er sagte, war »ich bin so schmutzig«.

MR. RICE

Ein Stück entfernt lag ein Pferd im Rinnstein, um den Kopf eine Blutlache, sie kurbelte die Scheibe herunter und machte ein Bild davon. Ich vermute, es hatte sich auf dem Weg zum Schlachter befunden, und die Heckklappe war aufgegangen, sodass das Pferd bei hoher Geschwindigkeit herausgeschleudert worden und auf dem Boden aufgeschlagen war und so dem Schlachter entronnen. Und dann hatte man es einfach liegen lassen, innerhalb eines Augenblicks ungenießbar, unbrauchbar geworden. Das große tote Auge auf das eigene Blut gerichtet. Eine Pferdekutsche fuhr vorüber, und das Zugpferd würdigte den leblosen Artgenossen keines Blickes, ach so, es trug Scheuklappen, aber es musste das tote Pferd doch wohl riechen können; es war und blieb trotzdem gleichgültig, ein richtiger Großstadtgaul. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, dass man ein Pferd nicht dazu bewegen könne, aus einem Eimer zu trinken, in dem einmal Blut gewesen ist, eine seltsam ungenaue Information, denn irgendwann musste der Eimer doch aufhören, nach Blut zu riechen.

»Mein erstes Foto in Chicago heute.«

Es war Sonntag, auf den Straßen herrschte nicht viel Verkehr. Jedes Mal wenn sie ansetzte, ein Foto zu machen, drosselte ich das Tempo oder hielt ganz an. Das wusste sie zu schätzen. Sie war pfeilschnell und sehr sicher. Es versteht sich von selbst, dass man seine Umgebung gewissermaßen mit anderen Augen wahrnimmt, wenn man mit einem Neuankömmling unterwegs ist, noch dazu einem so eifrig knipsenden. Hätte ich die alte Dame bemerkt, die mitten auf ihrer schmalen, kurzen, zwischen Wohnblöcken eingezwängten Parzelle stand, einst Garten, jetzt Aufbewahrungsort für alte Fenster und anderes Gerümpel, die Erde kahl bis auf ein paar vertrocknete Büsche, und hätte darüber nachgedacht, wie der Garten wohl ausgesehen hatte, bevor die Dame so alt geworden war? Wie alles, was man so fleißig aufrechterhalten hat, zu einer Müllkippe verkommen kann, ohne dass einem etwas anderes übrigbleibt, als seinen Stock zu greifen und in den Verfall hinauszuhumpeln und dazustehen und alles noch mehr zugrunde gehen zu sehen. An dieser Stelle musste ich an Sarah und ihre Besessenheit von unserem Garten denken. Ich finde, sie ist zu jung, um so viel Zeit dafür zu verschwenden. Ich verbinde Gartenarbeit mit einer späteren Lebensphase. Meine Mutter war älter, als sie anfing, ihre Rosen vorzuzeigen; selbst längst verblüht. Oder hätte ich vor einem anderen Wohnblock den Sichtschutz entdeckt, der aus lauter Türen gebaut war, ein Zaun aus Türen, einige von ihnen noch mit Klinken, sodass man sie unweigerlich als Eingänge auffasste und sie wie die Kulisse einer Komödie wirkten, in der die Schauspieler ständig durch eine dieser Türen ein und aus gingen und derjenige, den sie suchten, immer gerade durch eine andere entwischt war.

»The Kodak Girl«, sagte ich zu ihr.

ERZÄHLER

Damit spielte er auf jene Mädchen und Frauen an, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für Kodak geworben hatten. Sie sollten zeigen, dass eine Kodak sogar für Frauen leicht zu bedienen war, sollten sich bei den weiblichen Kodak-Kundinnen anbiedern, sollten als freie Vögel in der Natur dargestellt werden, mit der Kamera um den Hals, dabei mal ihre eigene Version der Wirklichkeit einfangen, mal bereits existierende Kodak-Momente, und gleichzeitig zur Befreiung des Heimchens am Herd beitragen und zur Möglichkeit, auf eigene Faust draußen unterwegs zu sein, ohne den Schutz eines männlichen Begleiters. Tatsächlich ist das jährlich wechselnde Kodak Girl in den allermeisten Werbungen allein zu sehen.

Vielleicht hatte diese Werbung für sich genommen aber nicht ausgereicht, denn in einem Artikel aus Popular Photography mit dem Titel »Sind Frauen allergisch gegen Fotografie?« kann man folgenden Aufruf lesen: »Frauen, befreit euch selbst aus dem Exil und freundet euch mit euren Kameras an! Die Welt wartet auf den Blick der Kamerafrau.«

MR. RICE

»Nein, der Rolleiflex-Mensch«, antwortete Viv.

»Es würde mich freuen, einmal die Fotos zu sehen, die Sie gerade gemacht haben.«

Sie antwortete, sie lasse sie gar nicht immer entwickeln, weil das zu teuer sei.

»Und außerdem habe ich sie ja gesehen«, sagte sie und klopfte auf die Boxkamera, »hier unten.«

»Warum entwickeln Sie sie nicht einfach selbst?«

Das habe sie auch schon probiert, aber es mache ihr keinen Spaß. Kurz darauf fügte sie hinzu: »Ich kann nur Sachen gut, die mich auch interessieren.«

Ich sagte, dann hoffte ich, dass sie sich für Kinder, Kochen und Hausarbeit interessiere. »Na ja, Kinder schon«, erwiderte sie.

MRS. RICE

Wenn ich schon eine Weile mit einem Mann ins Bett gehe (denn einen anderen hatte ich immerhin, bevor ich geheiratet habe), sagen wir zwei oder drei Jahre, kommt es mir inzestuös vor; als würde ich ihn viel zu gut kennen, um diese in jeder Hinsicht uralten Schritte mit ihm zu vollziehen; irgendwann wirkt alles verkehrt und unbeholfen, so ist es längst auch mit Peter. Wenn ich einen Mann schon eine Weile kenne, sagen wir zwei oder drei Jahre, fällt es mir schwer, mit ihm am Tisch zu sitzen, ich ertrage es ganz einfach nicht, ihm beim Essen zuzusehen, ich finde, dass er schmatzt, und ich kann nicht aufhören, mir vorzustellen, wie das Essen in seiner Mundhöhle zu einer undefinierbaren Masse zermahlen wird, zu einem Brei oder einer Grütze, einem grauen Strom, und seinen Hals hinuntergleitet, der jetzt leider, pardon, zu einer Kloake geworden ist.

ERZÄHLER

Sie leidet unter ästhetischer Überempfindlichkeit, die Ärmste.

MRS. RICE

Ich verberge es, so gut ich kann. Ich versuche wegzusehen, wenn er kaut. Warum manifestiert sich diese krankhafte Überempfindlichkeit erst, wenn ich den Mann schon eine Weile kenne? Und warum bleibt sie lediglich dem Mann vorbehalten, mit dem ich Bett und Tisch teile? Mein Psychologe konnte mir darauf keine Antwort geben. Die Tischmanieren und das Gekaue anderer Menschen stören mich nicht im Geringsten, sofern sie nicht völlig abstoßend sind, Gott sei Dank, sonst wäre ich ja vollkommen eingeschränkt, weil ein Großteil aller gesellschaftlichen Aktivitäten auf dieser Welt darin besteht, gemeinsam etwas zu sich zu nehmen, sei es Essen oder Trinken.

ERZÄHLER

Sie ist (immer noch) jung und fast verrückt vor Lust, doch Mr. Rice ist zu ihrem Bruder und jetzt auch noch zum Ekelkäuer geworden, was also tut sie, um ein Ventil zu finden … sie stürzt sich auf die Erde, im Garten, sie bohrt sich tief hinein, verwendet keine Schaufel, sondern die bloßen Hände, und auch keine Gartenhandschuhe (nur wenn sie, wie heute, Besuch erwartet), sondern ihre Finger und Nägel.

Als sie schwanger war, wäre sie vor Lust fast geplatzt, sie lauerte Mr. Rice überall auf. Jetzt überlässt sie es den Tulpen, sie zu schwängern, jetzt reitet sie die Rosen …

MRS. RICE

Blödsinn, gebt mir einen Mann.

ERZÄHLER

Eines Nachts träumte sie, Hitler würde von einem Plakat an der Wand auf sie herabschauen und mit seiner ekelhaften Stimme schreien: Du darfst nicht masturbieren! Das hatte sie auch gar nicht vor, dachte sie im Traum, denn sie war es längst leid geworden.

Jetzt rollt das Auto die Einfahrt hinauf, jetzt streift sie die Gartenhandschuhe ab, jetzt richtet sie ihr Haar und zieht Ellen aus dem Gras, jetzt empfängt die Vorstadtfrau mit der lieblichen, dunkellockigen Tochter das neue Kindermädchen, und jetzt wollen wir nicht hoffen, dass die Vorstadtfrau noch Erde im Mundwinkel hat, von ihrem Verkehr mit dem Beet.

VIV

Da ist die Frau, die mich bei unserer letzten Begegnung angesichts der Todesbotschaft zusammensinken sah, jetzt will ich mich von meiner starken Seite zeigen.

ERZÄHLER

Um unnötige Verwirrung zu vermeiden: Das nun Folgende geschah etwa eine Woche zuvor.

VIV

Das Telefon klingelte. Mrs. Rice nahm den Anruf entgegen und reichte mir den Hörer. Ich hatte Tante Almas Stimme schon seit Jahren nicht mehr gehört. Ich stotterte. Ich habe noch nie gestottert. Ich stotterte das Wort »Vater« so oft hintereinander, dass Alma schließlich die Geduld verlor und rief, »ja, er ist tot, und du kannst genauso gut gleich erfahren, dass ich euch aus meinem Testament gestrichen habe.« Anschließend sprang meine Stimme endlich weiter, es war der Gedanke ans Geld, der sie wieder zum Laufen brachte, aber nur für einen kurzen Moment, dann hakte sie erneut beim »wie«. Und während ich mir am »w-w-w-w« die Zunge verrenkte, wusste ich genau, dass ich stotterte, um die Gewissheit über die soeben erhaltene Nachricht hinauszuzögern; dass dieses Verhaken meiner Seele, meinem Gemüt, Bewusstsein, alten Kopf die Zeit geben wollte, sich auf den Schock vorzubereiten; ich nahm den Lärm wahr, der Schock näherte sich, dann war er direkt über mir, landete senkrecht auf meinem Kopf und zwang mich in die Knie. Mrs. Rice, die ich noch kaum kannte, schob mir einen Stuhl unter.

Ich fragte, wie es hatte passieren können. Das sei nicht schwer zu beantworten, sagte meine Tante. Die Kälte und der Schnaps. Eines Nachts unter irgendeiner Brücke habe sein Herz ausgesetzt. Aber ich dachte, er wäre in Florida. Nein, er ist nach Norden weitergezogen.

Das stimmte nicht, wie ich später herausfand. Es war eine dreiste Lüge. Er hatte in Queens gewohnt. Er war tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Seine Frau Berta war einen Monat zuvor gestorben.

»Ja, du hast einen Vater verloren«, sagte Tante Alma, »aber ich habe meinen kleinen Bruder verloren.«

Ich weiß nicht, warum sie das schlimmer fand; sie musste Einblicke in eine mir unbekannte Hierarchie haben.

Er ist mir weggestorben, nicht als ein einziger Mann von sechsundsiebzig Jahren, sondern als ganze Reihe von Männern, die ich gekannt habe, in allen Altersgruppen und Gemütszuständen; der Freundliche, denn es kam vor, dass er freundlich war, und der Widerwärtige, der mich auf den Schoß meines Bruders presste, und derjenige, auf den wir unten an der Haustür warteten, weil wir hofften, seine Manteltaschen wären ausgebeult von den missratenen, aussortierten Süßigkeiten aus der Fabrik. Und der betrunkene Schreihals, der genauso hässlich klingen konnte wie Hitler, wenn er sein Deutsch brüllte, das ich nie lernte. Ich lernte die Sprache meiner Mutter, nicht die meines Vaters. Und derjenige, den ich in der Menschenmenge zu verlieren fürchtete, als sich die Polizei mit Langley Collyers Leiche einen Weg bahnte. Und derjenige, für den mich meine Mutter überredete, den Daddy-Song zu singen, um ihn zum Bleiben zu bewegen.

In all diesen Erscheinungsformen marschiert mein Vater auf mich zu.

Nicht nur Alma hatte uns aus ihrem Testament gestrichen, sondern auch er, mein alter Vater. Er hinterließ uns gar nichts. »Weil ich sie schon viele Jahre nicht gesehen habe und wir uns nicht nahestanden«, stand da über Carl und mich. Er hatte mich im Stich gelassen, mich verlassen, damals trauerte ich. Ich habe getrauert. Neues Kapitel.

TANTE ALMA

Sie hatten ihn hübsch hergerichtet. Ehe wir hineingingen, um ihn zu sehen, erfuhren wir, dass wir ihn nicht anfassen durften oder auf ihm herumdrücken — warum um alles in der Welt wir das hätten tun sollen —, denn dann drohe Flüssigkeit, welche, wollte ich mir lieber nicht näher vorstellen, vielleicht einfach nur reiner Alkohol, aus seinem Mund auszutreten. »Haben Sie ihn geschminkt?«, fragte ich. Hatte er nicht, dieser Kerl, er hatte ihn nur gewaschen.

»Es ist deine Schuld«, sagte ich zu Maria, »du hast ihn vor die Tür gesetzt. Du hast ihn nicht verstanden, französischer Bastard.«

Vivian stand einfach nur da und zog eine dumme Miene. Sie verteidigte ihre Mutter nicht mal. Ich verstehe nicht, warum sein Gesicht nicht rot und geädert war, nur deshalb hatte ich mich erkundigt, ob man ihn geschminkt hatte. Er sah beinahe blass aus. Ich war weit davon entfernt, den Tränen nahe zu sein. Ich muss zugeben, dass ich einen langen Furz entfleuchen ließ, ganz lautlos, das konnte ich durchaus wagen, weil alle glauben würden, der Gestank ginge von ihm aus. Inzwischen kommen wir nur noch bei Beerdigungen zusammen, wir, die sogenannte nahe Verwandtschaft, Hochzeiten gibt es keine. Tja, ich muss wohl gerade in meiner Tasche gekramt haben, jedenfalls war mir entgangen, dass Vivian sich in die erste Reihe gedrängt hatte und jetzt über ihn gebeugt stand, so nahe an seinem Gesicht, wie es irgend ging, und ihn fotografierte, sie lag förmlich über ihm.

»Vivian«, rief Maria, »du darfst nicht auf ihm herumdrücken!«

»Hörst du wohl auf, hast du denn gar keinen Respekt vor den Toten«, sagte ich. Doch sie hörte nichts, sie machte einfach weiter, ganz dicht dran. Und damit wurde er noch mehr zu einer Sache, und das rief ich ihr zu, »er ist keine Sache, er ist immer noch ein Mensch«, aber dann kamen mir Zweifel. Vivian hatte eine Sache aus ihm gemacht. Einen Augenblick davor war er ein toter Mensch gewesen. Dann redete sie mit mir: »Großvater hat ihr seinen Namen angeboten«, sagte sie, »aber sie wollte ihn nicht haben.«

»Das ist richtig, ich wollte ihn nicht haben«, sagte Maria, »endlich hatte ich Maier abgeschüttelt«, sie streckte den Finger aus (und deutete sogar geradewegs auf die Bahre), »warum hätte ich mir da Baille anhängen sollen?«

»Wir kommen wunderbar ohne weitere Namen zurecht«, sagte Vivian.

»Aber er sorgte immer für Stimmung«, sagte mein Mann (wir sind eigentlich gar nicht verheiratet, aber das weiß keiner). Was für eine Vorstellung, nicht mehr gewesen zu sein als eine Stimmungskanone.

Es gab einen kurzen Moment der Spannung, würde die Tür plötzlich aufgehen und Carl dort stehen? Aber wie hätte er überhaupt erfahren sollen, dass die Beerdigung heute stattfand, wie hätte er überhaupt erfahren sollen, dass sein Vater gestorben war? Ich sah sowohl Maria wie auch Vivian mehr als nur einmal zur Tür schielen. Und ich hätte sie anschreien können: »Glaubt ihr, er hätte auch nur im Traum daran gedacht, zu kommen, ihn habt ihr ja auch weggejagt, wahrscheinlich liegt er tot und aufgebläht in irgendeinem Graben«, ja, ich war schon kurz davor, als ich die Hand meines Mannes auf meinem Arm spürte, denn er kann meine Gedanken lesen, Joseph drückte fest zu und flüsterte mir ins Ohr: »An einem Tag wie diesem muss die Bösartigkeit Grenzen kennen.«

In dem Moment wird mir wieder bewusst, dass er Russe ist, er hat von nichts eine Ahnung.

Trotzdem wundert es mich, dass er Vivian verteidigt, ich dachte, er würde immer noch einen Groll gegen sie hegen, nach dem Telegramm, das sie 56 an die russische Botschaft schickte.

Doch er hat es anscheinend vergessen, deshalb stoße ich ihn mit dem Ellbogen an und flüstere: »56

ERZÄHLER

»Möge das Blut der Ungarn über euer Haupt kommen!«, schrieb Viv auf Französisch, um sicherzugehen, dass die Russen es auch verstanden. Und es klang gut. So gut, dass sie es gleich mehrmals zitierte. Und damit war ein neues Feuer entfacht.

TANTE ALMA

2000