Ann Helena Neudek

Kinderseelenallein

Die Narben meiner Kindheit und wie ich ins Leben fand

Patmos Verlag

Danke

Mein besonderer Dank gilt meinem Mann.

Für jeden einzelnen Tag, an dem er mir

seine bedingungslose Liebe schenkt.

Und weil er mir wieder und wieder das Leben rettet.

Auch gilt ein Dank meinen Eltern.

Dafür, dass ich auf der Welt bin.

Und weil sie, jeder auf seine Weise,

den Mut und die Kraft hatten, vieles zu ändern.

ÜBER DIE AUTORIN

Ann Helena Neudek, 1976 in Niedersachsen geboren, lebt heute in der Nähe von Frankfurt am Main und ist als Autorin und als Coach für Kinder und Eltern tätig.

ÜBER DAS BUCH

Eine Bilderbuchfamilie, wohlhabend und angesehen. Doch hinter der Fassade gibt es Gewalt und Verachtung. Die kleine Ann, sensibel und hochbegabt, wird von ihren Eltern geschlagen, gedemütigt und in ihrer Persönlichkeit zutiefst entwertet. Depressionen, Ängste und Todesfantasien begleiten sie bis in ihr Erwachsenenleben. In diesem sehr persönlichen und poetischen Buch taucht Ann Helena Neudek ein in die Schrecken ihrer Kindheit, die sie immer wieder einholen. Doch sie beginnt zu verstehen, warum ihre Eltern dem Kreislauf der Gewalt nicht entkommen sind. Eine Therapie, die Liebe zu ihrem Mann und die Kraft der Worte helfen ihr heute, das Vergangene zu verabschieden und sich mehr und mehr selbst zu vertrauen.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0728-5

IMPRESSUM

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© 2016 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagabbildung: © Galle 77/photocase.de

Druck: GGP Medien GmbH, Pößneck

Hergestellt in Deutschland

ISBN 978-3-8436-0728-5 (Print)

ISBN 978-3-8436-0734-6 (eBook)

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LESEEMPFEHLUNG

Hans Jürgen Herber

Der lange Abschied

Als meine Frau mit 40 an Alzheimer erkrankte

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Yvonne Herber ist erst vierzig Jahre alt, als sie eine schockierende Diagnose erhält: Sie hat Alzheimer. Ihr Mann Hans gibt ihr das Versprechen, sie nicht alleine zu lassen und durch alles hindurch zu begleiten. Doch was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, wird zur Zerreißprobe.

Hans Jürgen Herber erzählt mutig und mit entwaffnender Offenheit, was es bedeutet, seine junge Frau und die Mutter seines Sohnes nach und nach an Alzheimer zu verlieren. Er beschreibt eine Beziehungsreise, die berühren, aber auch irritieren oder gar provozieren mag. Sicher macht sie auch Mut, nach ungewöhnlichen Lösungen zu suchen.

Ein Buch, das einen nicht mehr loslässt.

Als Printausgabe erhältlich:

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0625-7

Als eBook-Ausgabe erhältlich:

www.patmos.de/EBOOK978-3-8436-0626-4

Inhalt

Inhalt

Danke

Widmung

Dünne Haut

Das Knistern

Weihnachten

Die Hochzeit

Die Feier

Die Diagnose

Einsamkeit

Die Treppe

Krank

Abwärts

Stumm

Auftritt

Holzhütte

Ballett

Niemand half

Schwester

Nein

Böse

Die halbe Praline

Nicht gewollt

Perfektes, leeres Haus

Die Verwandten

Kinderwunschangst

Beichte

Gesehen?

Rosa

Gewitterwolken

Uneinigkeit

Das Kaninchen

Verantwortung

Der Nachzügler

Zeltlager

Der Schutzraum

Lesen!

Reden!

Drohungen

Amerika

Intensivstation

Die erste Begegnung

Die Studentenwohnung

Ein Schimmer

Diplom

Der Streit

Schlagen

Berührung

Geduld

Wer bin ich?

Fremdling

Freunde und Fremde

Rausch

Die Kur

Du bist zurück

Zweifel

Ängste überall

Pfeile

Ida

Todessehnsucht

Sackgasse

Wir hatten es doch schön ...

Schmetterling

Das Gift

Die Therapie

Der Beginn

Das Treppenhaus

Lebenssinn

Gedankenstrudel

Das Experiment

Parallelwelt

Meine Eltern

Der Boxring

Ist Zukunft möglich?

Etiketten

Höhlengrab

Der Käfer

Giftkapsel

Der Sprung

Hoch drei

Scheidungsangebot

Eitelkeit

Traumgestalten

Disziplin

Stempel

Der Test

Neue Freundschaften

Ich

Gute Erinnerungen

Mein Leben

Der Garten

Barfuß

Widmung

Ich schreibe diese Geschichte für Dich.

Weil Du Kind Deiner Eltern warst und bist und

weil Du Kinder hast und Mutter oder Vater bist oder

auch eben nicht und dafür Deine Gründe hast.

Ich habe meine und meine Geschichte dazu.

Und die möchte ich Dir erzählen.

Ann H. Neudek

Der Himmel über mir
ist voller Sterne
und ich bin nur so klein.

Dünne Haut

Meine Beine sind aufgestellt und umspült vom salzig-lauwarmen Wasser. Kleine Perlen steigen vom Grund der Wanne auf und legen sich auf meine helle dünne Haut. Das Rauschen des Wassers, das sich noch in das Becken drängt, wird durchmischt vom Zwitschern der Vögel, dem leisen Brummen der weit entfernten Straße und den Stimmen der plaudernden Nachbarn, die durch das geschlossene Dachfenster dringen.

Die Sonne scheint und erhellt diesen kalten Wintertag. Sonnenstrahlen, gefiltert durch die Lamellen am Fenster, brechen sich in den Tropfen, die sich vor dem reißenden Fluss ihrer Sippe am Wannenrand in Sicherheit gebracht haben. Die kleinen Einzelgänger sammeln das Sonnenlicht, werfen es schillernd und vervielfacht zurück in ihre Umgebung und lassen es wie winzige Sterne über die Wasseroberfläche tanzen.

Ich beobachte das fröhliche Treiben um mich herum, sehe die Strudel, die sich bilden, wenn sich mein Brustkorb zur Atmung anhebt. Mein Blick folgt dem Strom hitzig nachfließenden Wassers, das das lauer werdende verfolgt, schließlich einholt und wohlig wärmend meinen Körper umschließt. Dort, wo der Wasserstrahl auf die ebene Fläche trifft, entstehen unzählige Bläschen. Sie toben miteinander umher und lassen sich endlich auf den kleinen dünnen Härchen meiner Haut nieder, die erst dadurch sichtbar werden. Wie ein Überzug aus Schnee, wie ein zarter Flaum aus Luft, transparent und leicht, legen sie sich auf meine Hüften, um meinen Bauchnabel, verstecken sich in den Höhlen meiner Achseln.

Sacht streiche ich mit meiner Hand darüber, knapp über der Wasseroberfläche und löse die ersten Bläschen von ihrem Ruheplatz. Ich spüre, wie sich die Härchen unter diesem sanften Druck biegen. Und noch ein Streicheln, über die Ellenbeuge, meine Taille, verscheucht sie alle, sie drängen schwungvoll nach oben. Auf dem Weg dahin streifen, kitzeln sie die Stelle unterhalb meiner streichelnden Finger. Ein leichter Schauer durchfährt mich.

Ich lausche meinem Atem, nehme wahr, sauge alles in mich auf, jeden Laut, alles Licht, die Unterschiede der Temperatur, jede Berührung. Nur kurz empfinde ich das Jetzt und Hier. Schon spüre ich, wie sich die Haut meiner Finger verformt hat und zur Eile mahnt. Die Zeit hat mich zurück. In einer Stunde erwartet man mich in der Zahnklinik.

Eilig setze ich mich auf, stelle die Sohle meines linken Fußes auf meinen rechten Oberschenkel und beobachte kurz den Dampf, der von meiner Wade aufsteigt. Vorsichtig lasse ich das Rasiermesser darüber fahren, bis es mir eine makellose Hülle hinterlässt. Die scharfe Klinge blitzt auf, als ich sie anhebe. Sie wirft das Licht auf mein Handgelenk, dorthin, wo das Blut pulsiert, und erinnert mich damit fast spöttisch an all ihre Fähigkeiten. Schon schließt sich das Fenster der Leichtigkeit und der leise Hauch dieses sonnigen Moments ist wieder in Düsternis getaucht. Licht ist nicht mehr. Nur dünne Haut.

Das Knistern

Ich sitze am Esstisch. Nach einer unruhigen Nacht sitze ich da, in meinem durchgeschwitzten Shirt und der verbeulten, geringelten Schlafhose, und schaue wartend aus dem Fenster. Hinter der Scheibe türmen sich Wolken über den weiten schneeverzierten Hügeln auf. Mein Gesicht schmerzt. Die linke Wange ist geschwollen und zwischen den oberen Zähnen stechen die Enden blauer Plastiknähte wie Nadelspitzen hervor. Meine langen, fettigen Haare hängen kraftlos neben meinen Wangen herunter. Die Strähnen sind plattgedrückt und wirken dunkler als sonst. Vier Tage ohne Wasser sind ihnen zu viel. Weitere drei Tage, dann ist Weihnachten. Seit ich erwacht bin, ist Adrian verschwunden. Vielleicht besorgt er noch ein letztes Geschenk? Oder hat er nun die Nase endgültig voll von mir? Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster und könnte sogar verstehen, wenn er mich nicht mehr wollte. Ich bin blass. Und erschöpft. Ich ziehe die Schultern hoch bei dem Gedanken an die fünf Kieferoperationen der letzten zwei Jahre. Ständige Entzündungen, ständige Schmerzen. Diese letzte Operation vor vier Tagen aber war die schlimmste. Adrian war an meiner Seite und legte beruhigend die Hand auf mein zitterndes Knie. Der Arzt hatte uns gewarnt, dass es noch unangenehmer werden würde. Ich hatte Adrian angefleht, gerade deshalb noch einmal dabei zu sein.

„Nie wieder“, hatte er danach gesagt, „werde ich mir so etwas ansehen!“ Er war gereizt und schockiert. Ich hatte ihn überfordert und jetzt quäle ich mich mit Gewissensbissen und Vorwürfen gegen mich selbst.

Ich schließe die Augen. Und atme so regelmäßig, wie ich es nur kann. Die Schmerztablette bleibt ohne Wirkung. Aber vor dem Essen will ich nicht noch eine weitere nehmen. Mein Magen rebelliert bereits. Angespannt wärme ich mir die Hände an meiner Tasse und verliere mich in der Finsternis meiner Gedanken. Ich sitze da und habe Angst.

Traurigkeit erobert Stille,
fließt in dich hinein.
Machtlos ist und bleibt dein Wille.
Nichts mehr fühl’n, nichts sein.

Stumm und schreiend die Gefühle,
wühlen sie dich auf.
Jeder Wimpernschlag die Mühle,
wie ein unendlicher Lauf.

Spür, wie Tränen dich durchdringen,
du vor Schmerzen bebst.
Dann und wann die einen gingen.
Wissend, dass du lebst.

Ich höre, wie der Schlüssel sich im Schloss dreht, und halte die Luft an. Als die Tür sich öffnet und Adrian eintritt, atme ich wieder. Ein Windhauch streift meinen Nacken. Sein flüchtiger Kuss landet im Vorbeirauschen auf meiner rechten Wange. „Ist alles in Ordnung, mein Schatz?“, rufe ich unsicher, als ich ein Knistern aus der Küche höre, das nicht von der Brötchentüte stammt. Für Spekulationen, was er dort tut, bin ich zu erschöpft. Außerdem bin ich hungrig. Den Tisch habe ich gedeckt, habe mich hin- und hergeschleppt von der Küche ins Esszimmer, mit fünf Sorten Marmelade und Honig, mit Servietten und Kerzen, für uns zwei, wie an jedem Morgen. Nur langsamer. Doch inzwischen ist der Tee in meiner rotkarierten Lieblingstasse kalt geworden.

Etwas Rätselhaftes geht hier vor. Mein Freund verhält sich seltsam. Aber bald ist Weihnachten, da kann das schon mal vorkommen, versuche ich mich zu beruhigen.

So hocke ich weiter regungslos am Fenster, in dem optisch erbärmlichsten Zustand, den ich mir vorstellen kann. Als ich Adrians Schritte höre, sehe ich auf und treffe auf einen verschwörerischen Blick aus seinen strahlend grünen Augen. Seit der ersten Sekunde war er der Mann, mit dem ich mein Leben teilen wollte. Seine längeren, blonden Haare verstecken die leichten Segelohren und fallen in sein schönes Gesicht, das er nur alle paar Tage glattrasiert. Neben seiner langen, geraden Nase zeichnet sich ein helles Muttermal ab. Noch immer bin ich fasziniert von seiner sanften Stimme und seinen geschwungenen Lippen, die mich so oft zärtlich küssen. Bei jedem Blick auf ihn spüre ich Liebe. Mit jeder Faser meines Körpers. Selbst wenn er schnarchend neben mir liegt, empfinde ich so. Gelegentlich wünsche ich mir, ich könnte ihn weniger lieben. Vielleicht hätte ich dann weniger Sorge, ihn zu verlieren, weniger Panik, dass er mein wahres Ich erkennt, das Böse, das Dunkel und alles begreift, alles sieht und sich entsetzt abwendet.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Trotz seiner Miene rechne ich mit allem. Nur nicht damit, dass er nun vor mir auf die Knie geht und mir den soeben aus knisternder Alufolie gebastelten Ring unter die Nase hält. Er lächelt und vertreibt damit meine Furcht. Ich streiche die Haare aus meinem Gesicht, strecke meinen Rücken und beantworte seinen Blick mit einem Lächeln, das meine Grübchen hervorzaubert und alle Defizite meines momentanen Zustands wettzumachen versucht. Und so höre ich an diesem einundzwanzigsten Dezember diese eine magische Frage „Willst du mich heiraten?“ Meine Tränen sind noch schneller als mein „Ja!“, mit dem ich überglücklich zustimme.

Unser Verlobungskuss fällt äußerst zurückhaltend aus, mein derzeitiger Zustand fordert seinen Tribut. So sehen wir uns nur an, in tiefer Seligkeit.

„Du musst es wirklich ernst meinen“, ich schaue demonstrativ an mir herunter.

„Ja“, zwinkert er, „einen Antrag machen, wenn die Frau wunderschön zurechtgemacht ist, kann ja jeder!“

„Wann?“, frage ich.

„Am dreißigsten Dezember. Ich habe den letzten Termin des Jahres erwischt.“

In meine Freude mischt sich Sorge. Wie sollen wir das organisieren? Wie sollen wir so kurzfristig alle zusammenbekommen? Und die Papiere? In meinen Gedanken entsteht ein Chaos.

Vor einigen Wochen hatten wir, oder eher ich, nebenher darüber gesprochen, überhaupt und gar noch in diesem Jahr zu heiraten. Aber Adrian hatte keine klare Position bezogen. Alles blieb Spekulation, alles blieb in meinem Kopf. Und als die letzten Tage des Jahres dahingingen, ging meine Hoffnung mit.
Adrian ist seit wenigen Monaten ohne Einkommen. Er sucht nach einer neuen Perspektive, denn seine Profikarriere als Radsportler ist Geschichte und als Trainer hat es nicht so recht geklappt. So käme eine Steuerrückzahlung durch eine kurzfris­tige Hochzeit sehr gelegen. Leise steigen Zweifel in mir auf. Ist das der Grund für seine Frage? Adrian liest meine Gedanken in meiner Mimik.

„Nichts da, ich heirate dich nicht wegen des Geldes“, grinst er. „Davon machen wir im Sommer eine Feier. Die Trauung aber werden wir ... ganz klein halten. Einverstanden?“

„Wie klein?“, frage ich vorsichtig.

„Nur wir zwei“, entgegnet er.

Ich spüre ein Kribbeln. Wir zwei. Nach und nach rieselt die Erkenntnis in mein Bewusstsein. Niemand anderen als Adrian hätte ich je heiraten wollen. Und nun wird mein Traum zur Wirklichkeit.

„Und Lotta selbstverständlich“, ergänzt er.

„Natürlich“, nicke ich.

Adrians ganzes Wesen hatte mich vor fast zehn Jahren in Sekundenbruchteilen überwältigt. Doch es war der unpassendste Moment, in dem wir uns begegneten, weil sein Leben plötzlich eine unerwartete Entwicklung nahm. Der falsche Moment, ein wenig zu spät oder eine ganze Weile zu früh. Er hatte sich damals nicht entschließen, nicht entscheiden können. Einmal, wenige Wochen nachdem Adrians winzige Tochter Lotta dann auf der Welt war, sah ich sie nur kurz aus der Ferne in einer Babytrage liegen und wusste, dass seine Zuneigung zu mir keinerlei Chance gegen die Verantwortung für dieses süße Wesen haben würde. Mehr als ein dutzend quälend lange Monate versuchten wir, Freunde zu sein, doch schließlich wandte ich mich ab. Er aber ließ mich nicht widerstandslos gehen: „Bitte bleib!“, hörte ich ihn rufen, bis ich in meiner Finsternis verschwand. Auch wenn ich sein Leben verließ und damit irgendwie auch das meine, war Adrian immer bei mir geblieben, tief vergraben, während wir für sechs lange Jahre den Kontakt zueinander verloren. Wir lebten ohneeinander, jeder von uns ging seinen eigenen Weg. Als wir uns endlich vor zwei Jahren wiedertrafen, hatte er sich schon lange entschieden und wir wurden sofort ein Paar. Lotta war sieben, als wir uns das erste Mal wirklich begegneten. Sie machte es mir unglaublich leicht, sie sofort fest in mein Herz zu schließen, war sie doch ihrem Vater vom Wesen so ähnlich. Die Wochenenden, alle Ferien, die sie bei uns verbrachte, bewiesen immer wieder den Gleichtakt zwischen uns dreien.

Wenn auch Adrian und ich uns dann schnell sehr nahekamen, die Tiefe seines Herzens musste nach und nach erschlossen, ich fürchtete fast, überredet werden. Lange zögerte er, bis er mich in seine innere Nähe ließ. Lange dauerte es, bis er flüsternd von Liebe sprach. „Natürlich“, dachte ich, „braucht es lange, um mich zu lieben. Doch besser so als nie.“ Und ich genoss jedes Vorantasten, jeden seiner Schritte auf mich zu.

Zum Genießen bleibt uns nun keine Zeit. Unsere Verlobungszeit beginnt hektisch. Wir greifen zu unseren Telefonen und rufen bei den Ämtern unserer Geburtsstädte an. Mit Engelszungen reden wir auf die Beamten ein, um sie zu bitten, uns noch vor den Feiertagen die Geburtsurkunden zuzusenden. Das magische Wort Hochzeit bewirkt viel. Und so sichern uns alle Beteiligten ihre Unterstützung zu. Bald ist klar, dass ich mein cremefarbenes Seidenkleid anziehen werde. Es ist knielang und der in Falten gelegte Rock schwingt bei jedem Schritt sanft um meine Beine. Nur einmal hatte ich bisher die Gelegenheit, es zu tragen. Jedoch muss ein neuer Anzug für Adrian her. Und Ringe! Ein Blumenstrauß und ein Fotograf! Wo werden wir essen? Wo übernachten? „Es muss einfach schnell gehen“, denke ich pragmatisch und hebe mir all meine Kleinmädchenträume für den Sommer auf.

Die Hektik überdeckt meine Beklemmung. Das Gefühl von Panik, diese wundervolle Neuigkeit mit meinen Eltern zu teilen. Wie werden sie reagieren? Was werden sie tun? Schließlich ist es nur wenige Wochen her, dass ich auf dem Beifahrersitz in ihrem Auto saß. Dass sie beide auf mich einschrien, von der Seite und von hinten, während der Wagen in rasendem Tempo durch die Wälder flog. Sie hatten mir einen kurzen Ausflug zu einer historischen Mühle vorgeschlagen, nur um mich auf dem Rückweg in die Mangel zu nehmen. Es gab kein Entrinnen und ihre Worte schlugen zu.

„Dieser Mann ist nichts für dich.
Er meint es nicht ernst.
Er kann es nicht ernst meinen.
Nicht mit dir.
So wie damals, als er sich nicht für dich entscheiden konnte.
Er will dich nicht! Er wollte dich nie.“

Der Keim gesät.
Im Auto,
volle Fahrt,
kein Entrinnen,
keine Flucht.
Beide.

„Nicht dieser. Nicht er. Nicht ihr.“
Sie zetern, sie schreien.
Sie beschimpfen mich.
Sie beschimpfen ihn.

„Du wirfst dich weg, du Schlampe.“

Ich ahne, weit in der Ferne hältst du meine Hand und gibst mir von deiner Stärke.
„Niemals ihn!“
Ich atme.
Ich drohe.
Ich widerspreche,
ich schreie: „Nein!“

Ich habe Nein gesagt.
Zum ersten Mal.
Zwanzig Jahre nach dem Nein meiner Schwester.

Weihnachten

Alles ist geregelt und vorbereitet. Am ersten Weihnachtsfeiertag machen wir uns auf den Weg zu meinen Eltern. Adrians Eltern rufen wir von unterwegs, während der langen Autofahrt an, um sie über unsere Pläne zu informieren. „Wir werden jetzt nur zu dritt sein“, beschwichtigt sie ihr Sohn, „auch ohne Trauzeugen. Steffen und Caren schaffen es in dieser Kürze nicht.“ Natürlich sind sie enttäuscht, nur die Aussicht auf die Feier im Sommer versöhnt sie etwas. Nachdem sie aufgelegt haben, schweigen wir. Jeder von uns hängt seinen Gedanken nach, während langsam die Sonne untergeht und die wenigen Lichter anderer Autos an uns vorüberziehen. Ab und zu sehen wir uns an und lächeln unbeholfen.

Wir sind angespannt. Adrian, ganz nah bei mir, gibt mir etwas Sicherheit. Wirklich sicher bin ich mir meiner selbst aber nie. Furcht steigt in mir hoch, ich verkrampfe, bemerke meine zitternd hochgezogenen Schultern. Je näher wir dem Dorf kommen, in dem ich aufgewachsen bin, desto schwächer fühle ich mich. Wir stehen vor meinem Elternhaus, gehen langsam die Stufen hinauf. Es ist ein düsteres Haus, schlicht, fast nüchtern, das auf einer Anhöhe einsam vor uns zwischen Wiesen und Wald steht. Ein graues Dach wölbt sich über die undefinierbar dunkel getünchten Mauern. Nur der weitläufige, wunderschön gestaltete Garten weicht die strenge Symmetrie der Anlage auf. Ich bin noch aufgeregter als sonst. Ich schwanke und habe das Gefühl, die Stufen wieder zurückzufallen, hinab in das Tal. Adrian spürt es und hält meine Hand. Er kennt meine Geschichte. Er hält dem kleinen verwundeten Mädchen in mir die Hand.

Die Rufe eines Käuzchens durchdringen die Finsternis und weihnachtliche Beleuchtung schimmert aus den Fenstern, die von innen festlich geschmückt sind. Zarte Gardinen umrahmen das Bild und Kuchenduft dringt durch die Ritzen nach außen. Ich atme tief ein. Es liegt eine feierliche Stille über der Zeit. Meinen alten Hausschlüssel lasse ich unberührt ganz unten in meiner Tasche. So alltäglich will ich hier nicht mehr zu Hause sein. Also klingeln wir. Gleich regt sich etwas und die dunkle schwere Haustür öffnet sich. Meine Eltern breiten die Arme aus und begrüßen mich herzlich und Adrian freundlich. Die Perlenkette meiner Mutter klackert leise bei der Umarmung, bei der sie mir einen Kuss auf die Wange drückt. Dann streicht sie ihre Haare wieder streng nach hinten und legt die Perlenstecker an ihren Ohren frei. Ich überlege kurz, wie oft ich meine Mutter ohne diesen Schmuck und ohne Kostüm sah. Nur bei der Gartenarbeit trug sie beides nicht.

Ich wende mich um zu meinem Vater. Sein buschiger grauer Schnurrbart streift nur rasch meine Stirn und hinter den runden Gläsern seiner Hornbrille sehe ich seine Tränen. Beschwichtigend hält er die Hände vor sein Gesicht. Sie sind faltig geworden. Diese Hände, die so oft Geld gezählt haben, aber für Handwerkliches zu ungeschickt waren. Diese Hände, die für uns sorgten und auf uns eindroschen. Sofort dreht mein Vater sich weg und flüchtet geschäftig ins Büro. Stets ist sein Verhalten extrem, so erschreckend wie unerklärlich, so sanft wie unbeherrscht, so charmant wie aggressiv. Er ist so beschämend unbeholfen wie beeindruckend klug und all das ändert sich innerhalb weniger Sekunden. Meine Mutter, Adrian und ich bleiben zurück, kaum noch irritiert, bloß mit der immer wiederkehrenden Frage nach dem Grund für seine rätselhafte Rührseligkeit.

In dem kleinen Vorraum des Wohnzimmers ziehen mich unsere kunstvoll arrangierten Kinderbilder in der hell erleuchteten Vitrine in den Bann. Ich sehe mein Bild, sehe dieses kleine Kind in Schwarz-Weiß, das mit seinen großen runden Augen in die Kamera schaut. Diese Augen eines sechs oder sieben Jahre alten Kindes strahlen wach und voller Unschuld.

Wann wurde die Grenze überschritten, wann kam der erste Hieb? Ich sehe dieses junge Mädchen an, sehe das Grübchen auf der linken Wange und das offene Lächeln. Ich sehe dieses Kind und frage mich, wie man ein Kind erniedrigen und schlagen kann.

Ich denke an das Mädchen, das in der Wohnung unter uns lebt und vor einigen Wochen ein Jahr alt geworden ist. Seitdem weint es häufiger. Es schreit stundenlang und klingt wütend. Wie ein erstes trotziges Aufbegehren und ein bockiger Wutausbruch. Und dann hörte ich plötzlich diese sonst so ruhige, liebevolle Mutter schreien. Sie brüllte ihr Kind an, zum ersten Mal, nur kurz. Dann herrschte Ruhe. Und ich grübelte darüber nach, wann der Punkt erreicht ist, an dem Eltern beginnen, ihre Kinder zu schlagen. Wenn das Kind aus der unabdingbaren Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit hinaustritt und das eigene Selbst entdeckt? Wenn es seine Eltern weniger braucht und im „Nein“ eine ganz neue Macht, die erste winzig kleine Chance auf Unabhängigkeit wahrnimmt? Was ist es, was die Eltern so aufbringt gegen das Kind, das sie doch eben noch in sich trugen, es stillten und wärmten? Ist es Enttäuschung? Verlustangst? Stress?

Ich sehe in meine neugierigen Kinderaugen, habe keine Antworten und wende mich ab.

Im Wohnzimmer unterhalten sich meine große Schwester und mein kleiner Bruder über das Buffet im Restaurant, zu dem sie heute Mittag von unseren Eltern eingeladen waren. Sie sind also schon eher angekommen, denke ich und wiegele mein aufkeimendes schlechtes Gewissen innerlich selbstbeschwich­tigend ab, „sie haben es schließlich auch nicht so weit.“ Außerdem ist Essen neben dem Aufbau seiner Muskeln Felix’ liebstes Thema und seine wichtigste Beschäftigung. Schon immer bekam er, der Nachzügler, das größte und das schönste Stück. Und dann der Nachschlag, der stand ihm natürlich auch noch zu. Anders als Felix, der die Kalorien tagtäglich wieder verbrennt, sieht man meiner Schwester Ida jeden Bissen an. Sie schafft es dennoch, in ihrer Leibesfülle auf ihre Weise straff zu wirken und voller Energie zu sein. Und unverdrossen. Sie lacht laut, als Felix sie damit aufzieht, sie bei der Menge des vertilgten Nachtisches überboten zu haben.

Adrian und ich setzen uns auf das Sofa gegenüber der bodentiefen Fensterfront, die nicht durch Jalousien verschlossen ist und die die Aussicht freigibt auf Veranda und den dahinterliegenden, monderleuchteten Garten. Die Rosenstämme sind ummantelt von Jutesäcken und über dem Gras liegt ein zarter, weißer Schleier. Auch der große Tisch auf der Terrasse trägt eine Weihnachtsdekoration und Kerzen flackern darin. Der herrlich geschmückte, nadelduftende Weihnachtsbaum taucht den Raum in ein Wohlfühllicht. Ich lasse den Blick schweifen und sehe den riesigen Teller aus Korbgeflecht, der wie jedes Jahr gefüllt ist mit köstlichstem Zuckerzeug, Pralinen und exotischen Früchten. Die alte CD säuselt wieder ihre Lieder und wiegt mich in ambivalenten Erinnerungen an all die Weihnachtsfeste, die so begannen und später beinahe immer eskalierten.

Ein dumpfes Gefühl in meiner Magengrube erinnert mich an die Heiligabende, an denen ich zwischen Zauber und Verzweiflung schwankte. Gemeinsam fuhren wir erst zur Kirche, in den ersten zehn Jahren wir vier, nach Felix’ Geburt wir alle fünf. Nachdem wir dann wieder zurück und vor der Wohnzimmertür versammelt waren, gab diese den Blick frei auf einen wie von Zauberhand über und über mit Kerzen erleuchteten Raum, erfüllt von Düften, Wärme und Überraschungen. Überraschungen, die auch dazu führten, dass fast jeder Weihnachtsabend mit knallenden Türen und Tränen endete. All die Hoffnungen, die überspannten Erwartungen, all diese holde Glückseligkeit, all das forderte seinen Ausgleich, seinen Gegenpol.

Wir hören Schritte auf der Treppe. Felix hat seine Freundin mitgebracht. Ella hatte sich noch kurz hingelegt und kommt nun mit unseren Eltern ins Zimmer. Die kleine, zarte Person strahlt zu ihrem Freund hinauf, setzt sich lachend neben ihn und fühlt sich pudelwohl. Beide studieren zielstrebig an der selben Uni, sind Mitglied im selben Ruderclub und sehen immer aus, als hätten sie ihre abgestimmten Outfits aus einem Katalog für Collegekleidung ausgewählt. Die beiden passen gut zusammen, denke ich und schaue meinen kleinen Bruder an, der, so groß er auch gewachsen ist, noch immer wirkt wie ein kleines Kind. Er schien stets vor jedem Unwetter geschützt zu sein, als trüge er über seinem Kopf eine eigene Sonne, die ihn stets begleitet und nur für ihn alleine strahlt. Er steht auf festem, sicherem Boden. Alles scheint für ihn leicht und klar und selbstverständlich zu sein. Ich spüre, wie seine Unbeschwertheit und Fröhlichkeit an mir nagen. Er hat das Dunkel nicht erlebt, in dem Ida und ich unsere Kindheit verbrachten. Stets war er unantastbar und ich beneide ihn darum. Nun sind alle versammelt und die Aufführung kann beginnen. Ich bemerke, wie Ida mich beobachtet. Auch meinen zukünftigen Ehemann hat sie auf ihrem Radar. Meine große Schwester ist genauso geschult wie ich.

Genau zu beobachten, ist eine wichtige Gabe.
Lebenswichtig.

Sie grinst.

Adrian räuspert sich und rutscht nervös auf dem Sofa hin und her. Er versucht es mit einem Lächeln. Auch das verrutscht. Als alle sitzen, bittet er um Gehör. Seine Stimme zittert leicht: „Ich habe eure Tochter gefragt, ob sie meine Frau werden möchte. Und sie hat Ja gesagt.“ Mein Herz verzögert seinen nächsten Schlag, als ich aufgewühlt in die Gesichter ringsherum sehe. Ich erwarte einen Sturm der Entrüstung. Widerstand. Beschimpfungen. Nichts dergleichen geschieht. Im Gegenteil: Alle strahlen, springen auf und umarmen uns. Herzlich. Verwirrt treibe ich von einem Arm in den anderen. „Fritz, hol etwas zum Anstoßen“, sagt meine Mutter knapp. Mir ist, als sei ich in einer fremden Existenz gelandet. Mein Vater kommt aus dem Keller mit einer Flasche Sekt zurück, Felix verschränkt entrüstet die Arme: „Hallo? Du weißt doch, dass ich keinen Alkohol trinke?“ Und schon trabt sein Vater entschuldigend lächelnd los und besorgt für ihn eine Flasche Apfelsaft. Nichts hat sich geändert.