Der Roman „Hamburg – Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland. Harald Hansens 3. Fall“ ist der dritte Teil der Trilogie. Teil 1 „Hamburg – Deine Morde. Die Moral eines Killers. Harald Hansens 1. Fall“ erschien im August 2011 im ACABUS Verlag, der zweite Teil „Hamburg – Deine Morde. Der Lippennäher. Harald Hansens 2. Fall“ im September 2011.

Alle Handlungen und Personen, ausgenommen Ereignisse und Personen der Zeitgeschichte, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Der in einer Szene auftretende Generalmajor Markus Wolf (* 19.01.1923, † 09.11.2006) war tatsächlich von 1952 bis 1986 der Leiter der Hauptabteilung Aufklärung. Sein Auftritt in diesem Roman ist aber ein Teil der Fiktion und hat so nie stattgefunden. Die Nennung von Markennamen dient lediglich der Beschreibung.

Im Glossar finden Sie Erklärungen zu zeitgeschichtlichen Begriffen und Abkürzungen, die im Roman genannt werden.

Andreas Behm

Hamburg – Deine Morde

Der Spion ohne Vaterland

Harald Hansens 3. Fall

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Behm, Andreas: Hamburg - Deine Morde. Der Spion ohne Vaterland.

Harald Hansens 3. Fall, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-196-9

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-197-6

Print (Paperback): ISBN 978-3-86282-195-2

Lektorat: Lara Felsch, ACABUS Verlag

Covermotiv: © Wilm Ihlenfeld - Fotolia.com

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
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Prolog

Der alte Mann stöhnte, während er sich vorsichtig auf die Sitzfläche des Ohrensessels hinab ließ. Wie in Zeitlupe hob er die Beine auf den Fußhocker und lehnte sich zurück. Er legte sich eine Wolldecke über die Beine, nahm mit zittrigen Fingern eine filigrane Tasse von dem antiken Beistelltisch neben sich und schlürfte den heißen Tee. Bald würde die Wirkung des Schmerzpflasters einsetzen, das er sich soeben auf die Haut geklebt hatte. Dann würde es erträglich werden.

Erträglich! Eine Besserung war nicht mehr zu erwarten. Der alte Mann wusste, dass er in wenigen Wochen sterben würde. »Austherapiert«, hatte der Arzt im Krankenhaus mit professionellem Bedauern gesagt. Ein unscheinbares Wort für eine gewaltige Wahrheit.

Er würde sterben, damit hatte er sich abgefunden. Ein erfülltes, sechsundsiebzig Jahre währendes Leben lag hinter ihm. Und der Ballast falscher Taten drückte ihn nieder. Die Zeit der Befreiung war gekommen. Er würde alles offenlegen, schonungslos gegen sich selbst und die anderen. Wenigstens einmal in seinem Leben wollte er das Gefühl genießen, wahrhaftig zu sein. Den anderen würde es nicht gefallen. Und wenn schon, er schuldete ihnen nichts.

Die wenigen Tage, die ihm bei klarem Verstand blieben, würde er nutzen, um sein Vorhaben zu vollenden. Die Öffentlichkeit sollte alles erfahren. Einen großen Teil seiner Arbeit hatte er bereits geschafft, es bedurfte nur noch der mediengerechten Aufarbeitung der Informationen, um das Erdbeben in Gang zu setzen, das er sich erhoffte und leider nicht mehr erleben würde. Denn am Ende dieser Arbeit stand sein Tod, rechtzeitig herbeigeführt, bevor das Siechtum begänne.

Die Türklingel holte ihn in die Gegenwart zurück. Er schaute auf die Zeiger der Standuhr. Es war kurz vor sieben Uhr am Abend. Wer klingelte so spät an seiner Tür? Er bekam selten Besuch und so gut wie nie unangekündigt.

Verärgert und mühevoll stand er auf, schlurfte zur Wohnungstür und öffnete sie. Auf der Fußmatte stand ein etwa vierzigjähriger Mann, der mit seiner sandfarbenen Bundfaltenhose und dem dunkelgrünen Sakko wie ein mäßig erfolgreicher Vertreter aussah.

»Guten Abend, Herr Friedemann, entschuldigen Sie die Störung«, begann der Besucher das Gespräch.

»Ich kaufe nichts, verschwinden Sie!«, schimpfte der alte Mann.

»Das ist ein Missverständnis, ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich habe nur eine Frage.«

»Dann fragen Sie, junger Mann, aber zackig!«

Der Besucher straffte die Schultern und holte Luft. »Könnte es sein, dass Sie mein Vater sind?«

Der alte Mann funkelte ihn böse an. »Ach, versuchen Sie hier eine neue Variante des Enkeltricks? Der verlorene Sohn, unverschuldet in Not geraten, braucht dringend eine größere Summe Geld? Jetzt hören Sie mal zu: Ich bin alt und gebrechlich, aber nicht senil. Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!«

Friedemann trat einen Schritt zurück, um die Tür schließen zu können.

»Warten Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen«, flehte der Besucher, holte ein vergilbtes Foto aus seiner Sakkotasche und hielt es dem alten Mann unter die Nase. »Links, das ist meine Mutter. Und daneben – ich glaube, das sind Sie.«

Friedemann setzte die Lesebrille auf, die er seit einiger Zeit an einem Lederbändchen um seinen Hals trug, weil er sie vorher zu oft verlegt hatte. Er nahm dem Besucher das Foto aus der Hand und betrachtete es sehr gründlich.»Oh mein Gott, das ist Margot!«, entfuhr es ihm schließlich. »Bitte, kommen Sie herein.«

Kapitel 1

Harald Hansen hockte auf der Ecke einer Armlehne seines schäbigen Sofas – in der linken Hand einen Becher Kaffee, in der rechten eine Zigarette – und betrachtete ratlos das Chaos, das sein Vorhaben ›Umzug‹ verursacht hatte. Der Aschenbecher stand auf einem dieser praktischen Faltkartons, die ihm die Möbelspedition massenweise zur Verfügung gestellt hatte. Er würde nur einen Bruchteil davon brauchen, denn der größte Teil seiner Besitztümer gehörte auf den Müll.

Der Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission löste mit dem Umzug ein Versprechen ein, das er seiner zwanzig Jahre jüngeren Lebensgefährtin Nadja Kunze vor zwei Jahren gegeben hatte. Wenn ihre Beziehung bis zu seiner Pensionierung noch intakt sein sollte, würde er zu ihr und ihrer Tochter Mareike ziehen.

Das hatte er versprochen. Nun war es soweit. In drei Wochen dürfte er sich nur noch Hauptkommissar a. D. nennen. Kein Dienstausweis, kein Diensthandy, keine Dienstwaffe und kein Dienstwagen. Hansen hatte keinen blassen Schimmer, wie sein Dasein dann funktionieren sollte, es lag außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Ja, er hatte seine Einstellung zum Leben allgemein und zu seinem eigenen im Besonderen geändert, seitdem er vor zwei Jahren beinahe in der Elbe vor Brunsbüttel ertrunken wäre und später im Krankenhaus erfahren hatte, dass sein Herz schwächelte. Inzwischen lebte er mit zwei Stents, die man ihm eingesetzt hatte, um verengte Gefäße zu erweitern und Hansen hatte begonnen, den Raubbau an sich selbst zu reduzieren.

Wirklich konsequent war ihm das nicht gelungen. Er hätte das Rauchen ganz aufgeben sollen, zurzeit kam er mit fünf bis zehn Stück aus. Er hätte fünfzehn bis zwanzig Kilo abnehmen sollen, geschafft hatte er fünf. Die Ärzte rieten ihm, den Alkohol generell zu meiden, er vermied lieber den Rat der Ärzte.

Natürlich gab es Auseinandersetzungen mit Nadja. Sie reagierte meistens tolerant und versuchte, ihn so wenig wie möglich zu maßregeln. Andererseits war sie eine ausgebildete OP-Schwester und kannte die Risiken. Für Nadja war es nicht leicht, den Drahtseilakt zwischen Sorge und Bevormundung zu meistern. Dass sie es geschafft hatte, war ein Grund mehr, das Wagnis einer gemeinsamen Wohnung einzugehen.

Hansen war in den letzten zwei Jahren zu der Erkenntnis gelangt, dass sein Leben aus mehr bestehen könnte und müsste als der Jagd nach Mördern. Er hatte alte Leidenschaften wiederentdeckt, die in Vergessenheit geraten waren. Er las Bücher, nicht nur die Geschichten der Kinderbücher, denen die inzwischen achtjährige Mareike atemlos lauschte, sondern auch solche, die seinen Gehirnzellen einen kräftigen Schubs gaben. Er kramte seine alten Vinylscheiben aus dem Keller hervor, wunderte sich, dass man Plattenspieler noch als Neuware erwerben konnte, schritt zur Tat und kaufte sich eine komplette HiFi-Anlage mit Verstärker, Lautsprechern und Plattenspieler. Er brauchte einen halben Tag, um alle Bedienungsanleitungen zu lesen, die Geräte aufzubauen und alle Kabel korrekt zu verbinden. Dann legte er erwartungsvoll die erste Scheibe auf, Heinz Rudolf Kunze – Live! Das Anheben des Tonabnehmers, das Führen an die richtige Stelle und das Umlegen des Hebels zum Absenken des Tonabnehmerarms empfand Hansen wie eine bedeutsame rituelle Handlung. Die Nadel des Tonabnehmers nahm sanft Kontakt zur Oberfläche der Vinylscheibe auf. Hansen lauschte gebannt dem anfänglichen Knistern und die ersten Töne genügten, um Erinnerungen in ihm hervorzurufen, die zu einer rasanten Zeitreise führten.

Hansen war im Grunde einer aus der 68er-Generation, also einer von denen, die Polizisten als Bullen beschimpften und mit Pflastersteinen bewarfen. Diese Leute waren Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre der Schrecken der gutbürgerlichen Schichten, die sich damals nie hätten träumen lassen, dass einer von denen später einmal als Außenminister Deutschlands eine souveräne Figur abgeben würde.

Hansen gehörte in seiner Jugendzeit nicht zu den Steinewerfern. Er war nie ein Freund von Massenaufläufen und gehörte schon im Alter von zwanzig Jahren eher zu den Sonderlingen. Nichtsdestotrotz begeisterte auch ihn die Vorstellung von mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Erotik.

Im Rückblick fiel es ihm schwer, ein Argument dafür zu finden, warum er zur Polizei gegangen war. Er hatte die Entscheidung nie bereut, obwohl es merkwürdig anmutete, dass er Anfang der Achtziger auf dem Weg zum Dienst oft den Song ›Polizisten‹ der deutschen Rockband ›Extrabreit‹ laut im Auto mitsang, der bei seinen Kollegen nicht sonderlich beliebt war.

Der Song von Heinz Rudolf Kunze, den Hansen sich anhörte, hieß ›Bestandsaufnahme‹ und obwohl er in einer anderen Zeit für eine andere Altersgruppe gemacht worden war, traf er bei Hansen ins Schwarze, denn er hatte sich mittendrin befunden – in der Bestandsaufnahme.

Nun galt es, eine neue Form des Lebens anzunehmen! Alternativ konnte man zunächst auf das Klingeln des Handys reagieren.

»Lausen hier. Na, Hansen, wie läuft’s mit den Pensionsvorbereitungen?«

Hauptkommissar Jörg Lausen war der Erste Hauptkommissar der Dienststelle LKA 41 und damit der Stellvertreter bei Abwesenheit des Leiters der Mordkommission, Kriminaloberrat Thorwald. Lausens Hauptaufgabe bestand aber in der Führung der eigenen Mordbereitschaft mit im Regelfall vier Mitarbeitern. Er befand sich ständig unter einem subjektiven Zeitdruck, weshalb er oft in unvollständigen Sätzen sprach.

»Ich stecke mitten in den Umzugsvorbereitungen und würde lieber wieder zur Arbeit kommen«, gab Hansen offen zu.

Lausen lachte. »Umzug ist Horror. Will nicht lange stören, habe nur eine kurze Frage. In meiner Truppe herrscht Personalnot, Ihr Nachfolger kommt am nächsten Ersten, würde gerne bis dahin Ihre Ressourcen nutzen. Schätze, Sie kommen nicht wieder, oder?«

Hansen war überrascht. Er hatte seinen Resturlaub genommen, um den Umzug auf die Reihe zu kriegen. Er würde eine Abschiedsfeier geben und Schluss! Im Grunde befand er sich schon im Zustand des Pensionärs. Der Erste Hauptkommissar hätte Hansens Mitarbeiter Thomas Bernstein und Vera Becker ohne Rücksprache neu einteilen können. Es passte zu Lausen, der als absolut fairer Kollege galt, dass er Hansen nicht übergehen wollte, der nominell immer noch der Teamleiter von Bernstein und Becker war.

»Nein, ich gebe noch meinen Abschied, dann bin ich weg. Und danke, ich weiß Ihre Anfrage zu schätzen. Natürlich können Sie meine Mitarbeiter einsetzen, wie Sie es für richtig halten. Aber seien Sie nett zu den beiden, das sind unsere größten Talente.«

»Das weiß ich, Hansen. Hab’ Sie immer darum beneidet, dass Sie die beiden in Ihrem Team hatten. Wir sehen uns bei der Abschiedsfeier, bis dann.«

Hansen legte das Handy beiseite und verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. Das Wort Abschiedsfeier tat weh und erstaunt über sich selbst stellte Hansen fest, dass er vor allem den schwulen Lulatsch Bernstein und die wehrhafte Becker vermissen würde.

Er grinste, während er an Vera Becker dachte. Manche Kollegen der Dienststelle Mordkommission nannten sie inzwischen ›Female Harry‹ und meinten damit die weibliche Form des ›Dirty Harry‹. Diesen Spitznamen hatte man Harald Hansen in Anlehnung an Filme mit Clint Eastwood verpasst, was sich allerdings eher auf seine Methoden denn auf sein Aussehen bezog.

Vera Becker wurde Hansens Team vor zwei Jahren zunächst befristet zugeteilt, als es darum ging, den Lippennäher zu fassen, der reihenweise ältere Hamburger Frauen umbrachte. Im Verlauf der Ermittlungen hatte sie üble Erfahrungen sammeln müssen. Danach bemerkte Hansen zum ersten Mal gewisse Ähnlichkeiten zu seiner eigenen Persönlichkeit. Stur wie ein alter Maulesel hatte Becker jegliche psychologische Hilfe zur Verarbeitung der Erlebnisse abgelehnt. Stattdessen bewarb sie sich auf die frei gewordene Stelle des Kollegen Albrecht in Hansens Mordbereitschaft. Der alte Hauptkommissar hatte Gefallen an der nassforschen, jungen Kollegin gefunden und befürwortete ihren Antrag. Der Rest war Formsache. Vera Becker hatte sich als gelehrige Schülerin erwiesen und ging inzwischen bei Ermittlungen gern mal ihre eigenen Wege, so wie es Hansen jahrzehntelang praktiziert hatte. Diese Eigenart und ihre Dickköpfigkeit hatten ihr den Spitznamen eingebracht. In einem Punkt eiferte sie Hansen zum Glück nicht nach: Sie war nicht annähernd so muffelig wie er.

Oberkommissar Thomas Bernstein, selbst erst seit knapp drei Jahren in der Dienststelle tätig, verstand sich gut mit Becker. Ihre Alleingänge brachten ihn aber regelmäßig auf die Palme. Bernstein war der einzige Teamplayer im Team Hansen. Normalerweise bestand eine Mordbereitschaft aus vier Mitarbeitern und einem Hauptkommissar, dem Leiter der Gruppe. Bei Hansens Team hatte man darauf verzichtet, die beiden offenen Stellen für die letzten zwei Dienstjahre von ›Dirty Harry‹ zu besetzen. Das war kaum aufgefallen, denn Hansen hatte jahrelang als eine Art Sonderermittler ohne feste Mitarbeiter fungiert.

Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass all das in Zukunft nicht mehr zu seinem Leben gehörte. Stattdessen mutierte er zum Familienmenschen. Der alte Eremit in ihm hatte Bedenken und seufzte leise.

Es lag noch viel Arbeit vor ihm. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, verfluchte sich dafür, dass er diese Sucht wohl nie ganz besiegen würde und setzte das Packen fort.

Kapitel 2

Lausen quetschte seinen Dienstwagen quer in eine enge Lücke zwischen dem Stamm einer Kastanie und dem Heck eines Streifenwagens, wodurch er den halben Gehweg blockierte. In Harvestehude, einem der vornehmsten Stadtteile Hamburgs, war es zu keiner Tageszeit leicht, einen Parkplatz zu finden. Kaum ausgestiegen, hörte er hinter sich eine unfreundliche Frauenstimme: »Schlechter konnten Sie wohl nicht einparken, nicht wahr?«

Lausen drehte sich um. Die Frau hinter ihm war elegant gekleidet, mit Goldschmuck behangen und mindestens siebzig Jahre alt.

»Sie haben recht«, sagte der Hauptkommissar. »Bin wirklich nicht gut im Schlechteinparken. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, eine Leiche wartet.«

Die Frau verstummte und ihr Gesichtsausdruck wechselte innerhalb von Sekunden von empört über erstaunt zu sensationslüstern. Ihre Blicke folgten nun aufmerksam dem Kommissar, der kurz an der Fassade eines gepflegten, dreistöckigen Jugendstilhauses hinaufschaute und dann auf den Eingang zuging. Ein uniformierter Polizist grüßte mit einem Kopfnicken und hielt Lausen die Tür auf.

Die weiße Fassade des Hauses mit den grau abgesetzten Ornamenten hatte Lausen gefallen, das Treppenhaus beeindruckte ihn. Auf Hochglanz polierte Marmortreppen, detailreiche Stuckverzierungen an den Wänden und der hohen Decke, handgeschmiedete Briefkästen und die kronleuchterartige Treppenhausbeleuchtung zeigten eine einschüchternde Wirkung auf Normalverdiener. Graffiti an den Wänden oder leere Bierdosen in den Ecken – so etwas war hier unvorstellbar.

Lausen, der mehrmals pro Woche durch den Stadtpark joggte, nahm die sechs Stufen bis zum Hochparterre in drei Schritten. Er betrat die Wohnung, sein kurzfristig neu formiertes Team war bereits vor Ort. Er traf die Kollegen auf dem zehn Meter langen Flur.

Oberkommissar Konrad Schwanitz begrüßte seinen Vorgesetzten mit einem Kopfnicken und zeigte auf eine Türöffnung hinter sich.

»Das Opfer liegt dort in der Bibliothek. Die Spusi und Doktor Peters sind gleich soweit. Dann können wir rein.«

Fast versteckt hinter Schwanitz’ massigem Körper stand Kommissar Ulf Reisberg, der auch zu Lausens regulärem Team gehörte. Die hellrote Mähne von Thomas Bernstein überragte alle und Vera Becker verschwand hinter dieser Männerwand.

»Bisschen eng hier auf dem Flur«, sagte Lausen und blickte sich um. »Gehen wir doch hier rein«, beschloss er und führte die Gruppe in ein geräumiges Wohnzimmer mit offenem Kamin, das ein gediegenes, altenglisch anmutendes Ambiente zeigte. Viel dunkles Holz, eine mächtige burgunderfarbene Ledergarnitur, schmiedeeiserne Kerzenleuchter, dicke Orientteppiche und großformatige Ölgemälde – der Hauptkommissar wähnte sich für einen Moment in einem traditionsreichen Adelshaus. Er schüttelte den Kopf und wandte sich den profanen Dingen zu.

»Wie sieht’s aus, schon Fakten?«, fragte er in die Runde.

Die beiden jungen Kommissare Reisberg und Becker hielten sich zurück. Die Oberkommissare Schwanitz und Bernstein suchten mittels Blickkontakt eine Übereinkunft. Konrad Schwanitz war ein besonnener Mensch, für den Harmonie im Team einen hohen Stellenwert hatte. Er war deutlich älter als Bernstein und seit Jahren in Lausens Team. Somit hatte er jedes Recht, sich als zweiter Mann hinter Lausen zu sehen. Trotzdem suchte er das stillschweigende Einverständnis des neuen Mannes in der Gruppe, der den gleichen Rang wie er hatte. Bernstein nickte fast unsichtbar und Schwanitz berichtete:

»Das Opfer ist wahrscheinlich Rudolf Friedemann, der Bewohner. Eine sichere Identifizierung war noch nicht möglich. Ich konnte einen Blick auf den Leichnam werfen. Der ist übel zugerichtet, das Gesicht ist kaum zu erkennen.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Lausen.

»Die Haushaltshilfe, eine Frau Ilse Tornow. Sie kommt jeden Montag um acht Uhr und hat einen eigenen Schlüssel. Sie sitzt in der Küche, hat einen Schock. Der Notarzt kümmert sich um sie.«

»Irgendwelche Erkenntnisse über Herrn Friedemann?«

»Laut Personalausweis wurde er am 17. März 1934 in Münster geboren. Mehr haben wir nicht. Wir sind erst seit ein paar Minuten hier.«

Lausen nickte. »Okay, dann mal los. Kollege Reisberg, ab ins Büro, alles recherchieren, was es über Friedemann gibt.«

Reisberg guckte verärgert, er mochte die Büroarbeit nicht. »Muss ich? Kann das nicht Frau Becker machen?«

Lausen schaute genervt gen Zimmerdecke. Es gab bessere Mitarbeiter als diesen Reisberg mit seinen blöden Sprüchen und dem ewigen Gemecker über die Aufgaben, die er bekam. Reisberg würde lange darauf warten können, von ihm das ›Du‹ angeboten zu bekommen. Bei Konrad Schwanitz sah die Sache anders aus. Und die beiden Neuen in seinem Team würde er vorerst siezen und abwarten, wie sich die Zusammenarbeit entwickelte.

»Es ist Montagmorgen, kurz nach neun. Keine gute Zeit für sinnlose Diskussionen. In zwei Stunden will ich Ergebnisse haben.«

Reisberg grummelte ein »Immer ich« und trollte sich.

»Konrad und Kollege Bernstein klappern die Nachbarn ab. Frau Becker, Sie bleiben bei mir«, beendete Lausen seine kurze Ansprache.

Schwanitz und Bernstein verließen den Raum, zeitgleich tauchte der Rechtsmediziner Doktor Heinrich Peters auf.

»Moin, Herr Lausen. Wie geht’s?«

»Moin, Doktor Peters. Wie soll’s schon gehen, wenn die Woche gleich mit einem brutalen Mord beginnt?«

»Brutal ist das richtige Stichwort. Die Frage, ob Fremdverschulden vorliegt, ist hier eindeutig mit ja zu beantworten. So etwas habe ich lange nicht mehr gesehen.«

»Was haben Sie lange nicht mehr gesehen?«

Peters strich sich mit der Hand über seinen kahlen Kopf. »Folgen Sie mir. Ich zeige es Ihnen.«

Lausen und Becker zogen die übliche weiße Schutzkleidung an, um den Tatort nicht zu kontaminieren, dann führte Peters sie in die Bibliothek, deren Einrichtungsstil zum Wohnzimmer passte. Friedemann hatte die altbautypische Deckenhöhe von mindestens drei Metern genutzt, um riesige Bücherregale an den Wänden aufzustellen. Auch hier dominierten dunkles Holz, dicke Orientteppiche und antike Möbel. Helle Farben suchte der Betrachter vergebens, einzig die Morgensonne brachte ein wenig Freundlichkeit in den Raum.

Der Leichnam lag auf dem Boden zwischen einem Ohrensessel und einem niedrigen Mahagonitisch. Um ihn herum waren kleine dunkle Flecken auf dem Teppich zu erkennen, eingetrocknetes Blut. Der alte Mann war halbnackt, der Morgenmantel geöffnet, das Oberteil des Schlafanzugs aufgerissen. Der entblößte Oberkörper zeigte zahlreiche Hämatome und Schnittverletzungen. Die Schlafanzughose war bis zu den Kniekehlen heruntergezogen, die Hoden und das Glied mit einem Kupferdraht eng verschnürt und dunkelblau verfärbt. Das Gesicht war kaum noch zu erkennen. Aufgeplatzte Lippen, halb versunken in dem geöffneten, zahnlosen Mund, eine völlig verformte Nase und zugeschwollene Augen – Lausen verstand nun, warum Schwanitz keine sichere Identifizierung vermelden konnte. Eine unglaubliche Welle der Gewalt musste über den alten Mann hinweggerollt sein.

»Mein Gott, wie viel Hass muss vorhanden sein, um so etwas auszulösen?«

Die Frage kam von Kommissarin Becker, die mit starrem Blick neben Lausen stand. In dem Hauptkommissar erwachte der Beschützerinstinkt.

»Frau Becker, Sie sollten vielleicht …«

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Ich bin Polizistin, ich muss da durch.«

Es folgte ein unangenehmes Schweigen.

Doktor Peters löste die Situation. »Ich denke nicht, dass Hass hier die treibende Kraft war. Das wird mit Sicherheit eine zeitaufwändige Obduktion. Die Verletzungsspuren sind unglaublich zahlreich. Aber einige Informationen kann ich schon geben«, versuchte der Rechtsmediziner, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Dann mal los.« Lausen kam es gelegen, sich den Fakten widmen zu können.

»Die Art der Verletzungen lässt auf systematisch durchgeführte Misshandlungen schließen. Mit anderen Worten: Der alte Mann wurde gefoltert.«

Ein Kollege der Spurensicherung, der an einem Aktenschrank stand, mischte sich ein. »Ich glaube, Doktor Peters hat recht. Wahrscheinlich wollte man dem Alten die Kombination für den Safe entlocken, der hier offen steht und leer ist. An der Wohnungstür gibt es übrigens keine Einbruchsspuren. Wie es aussieht, hat er den oder die Täter selbst reingelassen.«

Peters fuhr fort. »Auf jeden Fall musste das Opfer lange leiden, bevor es zum Finale kam. Bei einem der zahlreichen Schläge ins Gesicht ist wohl das Gebiss rausgeflogen. Es liegt da hinten am Rande des Teppichs. Die weiteren unschönen Details können Sie morgen in meinem Bericht lesen. Am Ende wurde der Mann mit einer Drahtschlinge, vielleicht einer Garotte, erdrosselt.«

Peters trat an den Leichnam heran und deutete mit dem Zeigefinger auf den Hals. »Sehen Sie hier, die Furche. Sie verläuft rund um den Hals. Das war kein normales Seil, es hat sich in die Haut geschnitten, muss ein Draht oder etwas ähnlich Dünnes und Reißfestes gewesen sein.«

»Und wann ist der Mann letztendlich gestorben?«, fragte Becker.

»Gestern Abend zwischen zweiundzwanzig und null Uhr, genauer kann ich es noch nicht sagen.«

Lausen bedankte sich bei Peters. Er schwitzte. In der Bibliothek war es stickig. Ein heißer Tag kündigte sich an und die Schutzkleidung tat ein Übriges. Oder lag es daran, dass er in die Wechseljahre kam? Hormonumstellung, das passierte auch Männern jenseits der Vierzig.

Lausen und Becker entledigten sich der weißen Overalls und gingen den Flur entlang zur Küche, um Frau Tornow, die Haushälterin, zu befragen.

»Machen Sie das mal«, raunte Lausen Becker zu, während sie die Küche betraten.

Der Notarzt verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken. Er hatte der Haushälterin ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie war vernehmungsfähig. Frau Tornow saß an einem kleinen, weiß lackierten Küchentisch. Ihre grauen Haare umrahmten ein Gesicht mit vielen Falten und müden Augen. Sie trug eine geblümte Bluse und darüber eine Schürze. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie sich die geröteten Augen trocken.

»Er war so ein feiner Mann«, sagte sie mit heiserer Stimme, ohne die Kommissare anzusehen. »Wer, um Gottes Willen, tut so etwas?«

»Das wissen wir leider nicht – noch nicht«, antwortete Becker.

»Wissen Sie, ich arbeite seit neun Jahren für Herrn Friedemann, dreimal die Woche, immer vormittags. Von ihm hörte man nie ein böses Wort. Herr Friedemann hat sich immer korrekt verhalten. Ein kultivierter Mann mit Charakter, so was gibt’s doch heute kaum noch. Warum schlägt jemand diesen Mann tot?«

Kommissarin Becker wollte eine Frage stellen, doch Frau Tornow redete weiter, die Augen auf den Boden gerichtet.

»Wissen Sie, ich bin jetzt neunundsechzig Jahre alt. Meine Rente ist mickrig. Der Friedemann hat keinen Druck gemacht. Ich hätte das hier noch Jahre machen können, trotz meines Alters. Wie soll ich denn jetzt klarkommen, ohne das Geld von ihm? Mich nimmt doch keiner mehr.«

»Frau Tornow, ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Nur zu, junge Frau, wenn ich helfen kann.«

»Was können Sie mir über Herrn Friedemann erzählen, außer dass er ein feiner Mann war?«

»Naja, viel weiß ich nicht über ihn. Er muss vermögend sein, denn immerhin gehört ihm das Haus.«

»Ihm gehörte das ganze Haus?«

»Ja. Zumindest hat er das mal erzählt.«

»Dann war er vermögend«, meldete sich Lausen aus dem Hintergrund. Ilse Tornow sprach weiter. »Er ist gebildet. Er liest viel, aber das kann man sich ja denken, wenn man die Bibliothek sieht. Und er hört gern Musik, das klassische Zeugs, Mozart und so. Ich mag ja mehr den Howard Carpendale und solche Sachen. Oder von früher den Freddy Quinn, hach, das waren schöne Lieder.«

»Wie sieht es mit Angehörigen aus? Wissen Sie darüber etwas?«

Frau Tornow schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hat der Herr Friedemann keine Verwandten mehr. Ich habe nie welche gesehen. Und erzählt hat er auch nie was. Naja, sehr gesprächig ist … ich meine, war er nicht.«

Vera Becker hatte sich inzwischen an den Tisch gesetzt und streichelte beruhigend die Hand von Frau Tornow.

»Können Sie mir sagen, ob er Besuch bekam, vielleicht regelmäßig?«, fragte sie.

»Besuch? Nein, dazu kann ich nichts sagen, ich war ja immer nur vormittags da und da kam höchstens der Postbote mal an die Tür, oder der Pflegedienst. Aber …«

Frau Tornow machte eine bedeutungsschwangere Pause. Becker nickte ihr aufmunternd zu und die Haushälterin beugte sich zu ihr herüber.

»Manchmal, wenn ich morgens kam«, flüsterte sie, »fand ich in der Küche mehrere Weingläser und die kleinen für Schnaps. Da habe ich mich schon gewundert, denn der Friedemann benutzte ja nicht mehrere Gläser an einem Abend. Gesagt hat er aber nichts und ich mochte ihn nicht fragen. Ging mich im Grunde auch nichts an.«

»War Herr Friedemann in letzter Zeit anders als sonst, vielleicht nervös oder besorgt? Hatte er womöglich Angst vor jemandem?«

Tornow schüttelte energisch den Kopf. »Nein, da war nichts, alles ganz normal.«

»Danke, Frau Tornow.« Becker drückte die raue, alte Hand. »Sie haben uns sehr geholfen.«

In den Augen der alten Frau blitzte etwas auf. »Sie kriegen den Kerl, stimmt’s? Und dann geben Sie’s ihm ordentlich, mir zuliebe.«

Es dauerte eine Weile, bis die Tür im ersten Stock geöffnet wurde. Der Mann, der nun vor Oberkommissar Schwanitz stand, trug nichts außer karierten Boxershorts. Seine kurzen blonden Haare machten einen zerwühlten Eindruck und die leicht geröteten Augen blinzelten in das Tageslicht. Schwanitz zeigte seinen Dienstausweis.

»Guten Morgen. Oberkommissar Schwanitz, Kripo Hamburg. Sind Sie …«, Schwanitz schaute auf das Namensschild neben der Tür, »… Herr Lowrider?« Der junge Mann gähnte. »Mann, das ist Englisch. Loreider spricht man das. Ist sozusagen mein Künstlername. Aber das Wortspiel funktioniert natürlich nur mit dem vollen Namen: Dijay Loreider.«

Schwanitz guckte verständnislos. »Welches Wortspiel?«

Der Halbnackte machte eine genervte Geste. »Na gut, einmal zum Mitschreiben für Beamte: DJ steht für Discjockey, meine Berufsbezeichnung. Und ich bin momentan der Angesagteste meiner Branche in dieser Stadt. Der Witz ist aber: Wenn man das Jay von DJ und dazu das Lo von Lowrider nimmt, erhält man … na, was?«

»Keine Ahnung, und es ist …«

»Mann, Alter, JayLo! Jennifer Lopez, you know? Ich bin der JayLo-Rider, hehe. Kapiert?«

Der übernächtigte Discjockey machte eine Kopulationsgeste und grinste selbstgefällig. Schwanitz hätte ihm gerne Manieren beigebracht, aber es gab Wichtigeres.

»Schluss mit lustig! Wie lautet Ihr richtiger Name?«

»Ich habe keine Drogen im Haus, ich schwöre!«

»Bitte!«

»Okay, in meinem Personalausweis steht Detlef Ringelbauer.«

»Na fein, Herr Ringelbauer, dann können wir ja endlich zur Sache kommen. Letzte Nacht wurde Ihr Nachbar, Herr Friedemann, ermordet.«

»Der Friedemann ist tot? Das ist ja voll krass!«

»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, fremde Leute im Haus, laute Geräusche?«

»Ey, Mann, das ist hier nicht versteckte Kamera, oder so, näh? Der wurde ermordet, so ganz in echt?«

Schwanitz war kurz davor, diesem Idioten Handschellen anzulegen und ihn wegen Behinderung der Ermittlungen vorläufig festzunehmen.

»Ja, so ganz in echt und in Farbe! Hätten Sie die Güte, meine Frage zu beantworten?«

Der Discjockey Detlef rieb sich die Augen. »Sorry, dazu kann ich nichts sagen. Ich arbeite nachts, das bringt der Beruf so mit sich. Ich bin erst gegen vier Uhr nach Hause gekommen, da war hier im Haus alles ruhig. Übrigens, der Friedemann ist nicht bloß ein Nachbar, der ist mein Vermieter. Fairer Typ, kann man nicht anders sagen. Die Miete hat der seit drei Jahren nicht erhöht.«

Schwanitz gab auf. Er ließ sich die Adresse des Clubs geben, in dem der DJ letzte Nacht gearbeitet hatte, dann verabschiedete er sich und klingelte an der nächsten Tür. Harvestehude war auch nicht mehr das, was es mal war.

Thomas Bernstein stand vor der Wohnungstür gegenüber von Friedemann. Er hatte gerade den Finger vom Klingelknopf genommen, da wurde die Tür schon geöffnet. Eine alte Frau mit zahlreichen Falten um Augen und Mund schaute ihn erwartungsvoll an. Bernstein stellte sich vor und wurde sofort herein gebeten. Frau von Langenau führte den Oberkommissar mit bedächtigen Schritten in das Wohnzimmer und ließ ihn in einem voluminösen Polstersessel Platz nehmen. Sie selbst setzte sich auf die Vorderkante eines zweiten Sessels.

»Da ist was Schlimmes passiert, da drüben bei Friedemann, nicht wahr?«, fragte sie mit neugierig vorgerecktem Kinn.

Bernstein nickte. »Ihr Nachbar, Herr Friedemann, wurde letzte Nacht ermordet. Frau von Langenau, vielleicht können Sie uns bei der Aufklärung des Verbrechens helfen. Sie wohnen ja direkt gegenüber. Da kriegt man sicher einiges mit.«

»Der Friedemann ist tot? Das ist ja furchtbar. Man ist wirklich nirgendwo mehr seines Lebens sicher.«

»Ja, Gewaltverbrechen finden auch in den besten Kreisen statt. Aber nun machen Sie sich bitte keine übertriebenen Sorgen. Ist Ihnen in der vergangenen Nacht etwas aufgefallen?«

»Ach, junger Mann, ich werde in drei Wochen neunzig Jahre alt. Da wollen die Augen und Ohren nicht mehr so wie früher.«

»Sie haben nicht zufällig einen Blick durch Ihren Türspion geworfen und jemanden im Treppenhaus gesehen, der nicht hier wohnt?« Bernstein lächelte sie an. »Sie waren sehr schnell an der Tür, als ich klingelte.«

Frau von Langenau zupfte verlegen ihre Strickjacke glatt. »Also, wenn ich mein Hörgerät drin habe, so wie jetzt, dann geht es ganz gut. Aber das trage ich nachts im Bett nicht. Da könnte man mir die Wohnung ausräumen und ich würde es verschlafen.«

»Wann sind Sie denn gestern ins Bett gegangen?«

»Das war … etwa viertel nach zehn … Moment, da war doch was. Kurz vor den Heute-Nachrichten im Fernsehen, also so gegen sieben Uhr. Ich stand auf dem Flur und hörte draußen die Stimme von Herrn Friedemann. Er klang verärgert, deshalb habe ich mal kurz geguckt, was da los war. Friedemann sprach mit einem Mann und auf einmal war er nicht mehr verärgert und ließ den Mann in seine Wohnung.«

»Können Sie den Besucher beschreiben?«

Frau von Langenau strich sich nachdenklich eine Strähne ihrer grauen Haare hinter das Ohr. »Ich weiß nicht, ich habe ihn nur von hinten gesehen. Der sah ganz normal aus.«

Bernstein stand auf. Er musste der alten Dame beim Erinnern behilflich sein. »War er so groß wie ich oder kleiner?«

Der Vergleich half. »Nein, viel kleiner als Sie, aber größer als ich.«

Bernstein zeigte mit der flachen Hand die Höhe seiner Schulter an.

»Ungefähr so groß?«

»Ja, das kommt hin.«

Das ergab eine Körpergröße von einssiebzig bis einsfünfundsiebzig.

»Und die Haarfarbe?«

Frau von Langenau grinste schelmisch. »So ein Boris-Becker-Rot wie Sie es haben, war es nicht. Hellbraun oder dunkelblond würde ich sagen, so eine Straßenköterfarbe.«

»Na sehen Sie, es läuft doch. Erinnern Sie sich an die Kleidung?«

»Er trug eine helle Hose. Ach ja, und ein Sakko in so einem hässlichen Grünton. Mehr fällt mir nicht ein.«

»Frau von Langenau, ich danke Ihnen, das war weit mehr, als die meisten Zeugen zusammenbringen. Und was können Sie mir über Herrn Friedemann sagen?«

Die alte Frau schaute betroffen. »Nicht viel, ehrlich gesagt. Und das, obwohl ich seit zweiundfünfzig Jahren hier wohne. Herr Friedemann hat das Haus Anfang der neunziger Jahre gekauft. Er kam damals aus dem Ausland zurück nach Deutschland. Er hat viel Geld in die Hand genommen und alles renovieren lassen. Trotzdem blieben die Mieten erschwinglich. Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen. Allerdings lebte er sehr zurückgezogen und beschränkte den Kontakt zu den Mietern auf das Nötigste.«

»Bekam er ab und zu Besuch?«

»Kaum. Seine Haushälterin, dann seit ein paar Monaten der Pflegedienst des DRK und einmal im Monat hatte er so eine Art Herrenrunde bei sich. Das waren drei oder vier Männer, alle im gesetzten Alter, gepflegte Erscheinungen. Die habe ich aber seit Wochen nicht mehr gesehen.« Sie seufzte. »Ich hoffe nur, der Herr Friedemann hat nicht allzu sehr gelitten.«

Bernstein zog es vor zu schweigen.

»Es gibt nur eine Sache, die ich dem guten Mann übel nehme«, fügte die fast Neunzigjährige hinzu. »Er hätte diesem hirnamputierten Schnösel da oben im ersten Stock nicht die Wohnung überlassen sollen, nachdem Frau Diestel gestorben war. Der Schnösel ist ihr Neffe und er passt überhaupt nicht in unsere Hausgemeinschaft. Ich frage mich, was nun mit dem Haus geschieht. Gibt es Erben?«

»Darüber weiß ich leider nichts«, sagte Bernstein.

»Wenn ich hier raus muss, ist das mein Ende. Ich lasse mich nicht mehr verpflanzen!«

Der Kommissar legte der alten Frau beruhigend die Hand auf den Unterarm. »So leicht kann man Sie nicht rausschmeißen, Frau von Langenau. Nun muss ich aber weiter. Vielen Dank noch, Sie haben uns sehr geholfen.«

Sie gingen gemeinsam zur Tür. Frau von Langenau zupfte an Bernsteins Ärmel. »Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist. Als ich gestern ins Bett gehen wollte, so gegen viertel nach zehn, wie ich schon sagte, da hat der Friedemann seine klassische Musik ziemlich laut aufgedreht, irgendwas von Bach oder Mozart. Das hat er öfters getan, aber eigentlich nie so spät am Abend.«

Lausen und Becker unterstützten die beiden Oberkommissare bei den Befragungen der Nachbarn, doch es ergaben sich keine wesentlichen neuen Erkenntnisse. Der Hauptkommissar beschloss, im Büro weiterzuarbeiten. Als das Team vor die Haustür trat, wartete schon ein halbes Dutzend Reporter auf Neuigkeiten. Lausen verwies auf die Pressestelle der Polizei und bahnte sich den Weg zum Auto.

Kapitel 3

Jörg Lausen hätte ein zufriedener Mensch sein können. Mit Anfang vierzig hatte er vor gut zwei Jahren den Posten des Ersten Hauptkommissars der Dienststelle LKA 41 bekommen und damit sein Wunschziel erreicht. Höher aufsteigen wollte er nicht, denn er fühlte sich in der praktischen Arbeit wohl. Der Arbeitsalltag seines direkten Vorgesetzten, Kriminaloberrat Michael Thorwald, war von Verwaltungsarbeit geprägt, für die Ermittlungen waren Leute wie Lausen zuständig.

Der Hauptkommissar wurde von den Kollegen respektiert, seine Fachkompetenz war unbestritten. Er arbeitete gern im Team und versuchte, jeden Mitarbeiter seinen Fähigkeiten entsprechend sinnvoll einzusetzen.

Erstaunlicherweise konnte Lausen trotz seines Berufes ein intaktes Familienleben vorweisen. Er war seit zwölf Jahren glücklich verheiratet und sehr stolz auf seinen achtjährigen Sohn Jonas, der als hochbegabt galt.

Eigentlich war alles in Ordnung. Erfolg im Beruf, ein erfülltes Privatleben und eine stabile Gesundheit: Mehr konnte sich ein bescheidener Mensch kaum wünschen.

Aber Lausen war ein Getriebener. Keiner, der dem Geld oder den Frauen hinterherjagte. Keiner, dem Macht oder Prestige wichtig waren. Er war getrieben von der nicht enden wollenden Flut der Gewalttaten, die einzudämmen er zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Zu jeder Zeit gab es einen Fall. Wenn kein aktueller vorhanden war, dann gab es einen ungelösten aus dem letzten Jahr, aus der letzten Dekade, aus dem letzten Jahrhundert.

Lausen schaffte es nicht, zur Ruhe zu kommen. Er glaubte ständig, dem Zeitplan hinterherzuhinken, wessen Zeitplan das auch immer war. Die Kollegen mochten ihn, weil er ehrlich und fair mit ihnen umging. Seine nervöse Unruhe stresste aber fast jeden, der längere Zeit mit Lausen zusammenarbeiten musste. Der einzige, der immun dagegen zu sein schien, war Oberkommissar Konrad Schwanitz, dem man im Kollegenkreis das Gemüt (und die Statur) eines Moschusochsen nachsagte.

Um Zeit zu sparen, hatte Lausen die Mitglieder seines Teams gebeten, die Mittagspause zusammen zu verbringen und mit der Besprechung der Fakten des neuen Falls zu verbinden. Folglich saß er gemeinsam mit Schwanitz, Bernstein, Reisberg und Becker beim Essen in der Kantine.

Vera Becker strich sich eine Strähne ihrer dunkelrot gefärbten Haare aus dem Gesicht und machte sich mit Appetit über ihren Matjes her. Ihr Wunsch, bei der Mordkommission arbeiten zu können, hatte sich unerwartet schnell erfüllt. Vor zwei Jahren, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, hatte sie das Glück, vorübergehend Hansens Team zugeteilt zu werden. Später hatte sich Hansen für sie eingesetzt und sie bekam die offene Stelle. Der mürrische, alte Querkopf Harry Hansen hatte viel von ihr gefordert, aber sie hatte auch viel von ihm gelernt. Sie mochte ihn und würde ihn vermissen. Er war am Ende seiner Laufbahn gar nicht mehr so grantig, wie ihn die meisten Kollegen immer noch einschätzten.

Nun begann eine neue Zeit mit einem frisch zusammengestellten Team. Neugierig studierte Becker die Essgewohnheiten ihrer Kollegen. Dass Thomas Bernstein unglaubliche Mengen vertilgen konnte und trotzdem rank und schlank blieb, wusste sie bereits aus den letzten zwei Jahren der Zusammenarbeit. Der neben ihr sitzende Ulf Reisberg aß mit aufgestützten Ellenbogen und erzählte zwischen zwei Bissen einen flachen Blondinenwitz, der allen anderen am Tisch nur ein müdes Lächeln entlockte. Oberkommissar Schwanitz sezierte sein Kotelett in aller Ruhe. Mengenmäßig konnte er mit Bernstein mithalten, sein Körper verzieh die Kalorienzufuhr allerdings nicht so folgenlos. Ihr neuer Chef, Hauptkommissar Jörg Lausen, schien die Aufnahme von Nahrung für Zeitverschwendung zu halten. Er hatte sich eine kleine Portion auffüllen lassen und diese hastig, mit kaum wahrnehmbaren Kaubewegungen, in kurzer Zeit verschlungen. Direkt nach dem letzten Bissen begann er die Fallbesprechung. Alle anderen aßen noch.

»Herr Reisberg, was haben die Recherchen bezüglich Friedemann ergeben?«

Reisberg legte seine Gabel auf den Teller. »Tja, das war jetzt nicht so viel, in der kurzen Zeit. Also, der Friedemann war wohl längere Zeit im Ausland, in Venezuela. Er soll dort mit dem Handel von Eisenerz ein Vermögen gemacht haben und ist dann 1991 nach Deutschland zurückgekehrt. In dem Jahr hat er das Haus in Harvestehude gekauft. Die Infos sind aber nicht sicher, ich habe sie von dem Makler, der ihm damals das Haus vermittelt hat. Eine Anfrage an die venezu… also, an die Behörden von Venezuela läuft.«

»Er ist aber gebürtiger Deutscher?«, fragte Lausen.

Reisberg guckte verdutzt. »Ja, wieso? Er hat doch einen deutschen Pass.«

»Gut, ich wollt’s nur wissen, er hätte ja Venezolaner sein können. Was hat er gemacht, bevor er ausgewandert ist?«

Reisberg streichelte mit Daumen und Zeigefinger die Ausläufer seines Mongolenbartes. Überhaupt schien er sich in einer Retro-Look-Phase zu befinden. Er trug Cowboystiefel mit extra langen Spitzen, Röhrenjeans, ein blau-weiß kariertes Flanellhemd und eine Lederweste. So liefen sonst nur die Undercover-Drogenfahnder rum.

Mit der Zunge benetzte er seine Lippen. »Ich sach mal, da wird es ein bisschen schwierig. Ich habe bisher nichts über ihn gefunden aus der Zeit vor einundneunzig.«

»Dann klemmen Sie sich dahinter. Gibt es Verwandte?«

»Keine Ahnung. Ich kümmere mich drum.« Reisberg aß weiter.

Schwanitz schob den sauber vom Fleisch getrennten Knochen an den Rand seines Tellers und sprach mit halbvollem Mund.

»Ohne dem Obduktionsergebnis vorgreifen zu wollen, denke ich, dass wir den Todeszeitpunkt recht gut eingrenzen können.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Lausen.

»Die Zeugenaussagen der Nachbarn. Gegen zweiundzwanzig Uhr soll die Musik in Friedemanns Wohnung laut gedreht worden sein. Im ersten Stock, neben diesem überkandidelten Discjockey, wohnt ein pensionierter Oberstudienrat. Der meinte, dass es kurz vor dreiundzwanzig Uhr wieder leise wurde in Friedemanns Wohnung. Da war dann wohl die Folter beendet.«

»Das muss aber nicht heißen, dass Friedemann in der Zeit auch getötet wurde«, widersprach Bernstein, »theoretisch könnte er später umgebracht worden sein.«

»Naja, theoretisch …«, begann Schwanitz.

Lausen unterbrach ihn. »Warten wir mal die Obduktion ab, die ist für vierzehn Uhr angesetzt.«

»Wer soll da hin?«, fragte Reisberg mit dem sicheren Gefühl, dass es ihn treffen würde. Die Vorschrift besagte, dass bei einer Obduktion ein Beamter der Dienststelle und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft anwesend sein mussten.

»Das macht ein Kollege des Teams von Schneider, der sowieso heute vor Ort ist«, erklärte Lausen. »Irgendwelche Thesen zur Tat?«

Reisberg freute sich, nicht bei der Obduktion anwesend sein zu müssen und vermutete aufgrund des offenen und leeren Tresors einen Raubmord. Schwanitz irritierte die brutale Art der Folter, weshalb er persönliche Motive und starke Hassgefühle als Triebfeder sah.

»Frau Becker, wie denken Sie darüber?«, fragte Lausen, der wusste, dass Becker vor ihrer Ausbildung bei der Polizei ein paar Semester Psychologie studiert hatte. Er hoffte auf eine psychologische Interpretation des Tathergangs.

»Ich habe noch keine Meinung«, antwortete die junge Kommissarin. »Vielleicht ist es eine Mischung aus beiden Ansätzen. An einen normalen Raubmord glaube ich allerdings nicht. Auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Ohrensessel lag eine Armbanduhr. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, war das eine Breitling. Das sind Luxusuhren, die kosten normalerweise ein paar tausend Euro. So was lässt kein Raubmörder liegen.«

»Ja, die Uhr ist mir auch aufgefallen, gutes Argument.«

»Was ist mit dem Typen im grünen Sakko?«, fragte Reisberg. »Sollen wir den zur Fahndung ausschreiben?«

Lausen stand auf. »Nein, wir haben nichts gegen die Person in der Hand. Ein Zeugenaufruf in den Medien reicht für den Anfang. Unwahrscheinlich, dass dieser Mann unser Täter ist, der Zeitablauf passt nicht. Der Besucher kam um neunzehn Uhr. Er hätte sich drei Stunden mit Friedemann unterhalten müssen, bevor er mit der Folter anfing. Schwer vorstellbar. Beenden wir die Spekulationen. Herr Reisberg, Sie wissen, was zu tun ist. Kollege Bernstein kann Ihnen bei den Nachforschungen über Friedemann helfen. Frau Becker, Sie kümmern sich um die Ergebnisse der Spusi. Konrad, du versuchst, den Mann im grünen Sakko aufzutreiben und ich werde die Staatsanwaltschaft informieren. Neues Treffen um sechzehn Uhr im Büro.«

Während Hauptkommissar Lausen mit seinem Team zu Mittag aß, war der fast im Ruhestand befindliche Hauptkommissar Hansen bereits auf dem Weg zu seiner neuen Bleibe. Er fuhr in seinem vor wenigen Tagen gekauften, zehn Jahre alten Opel Astra Caravan hinter dem Wagen des Umzugsunternehmens her. Früher war er ohne eigenes Auto ausgekommen, hatte entweder den Dienstwagen oder Bus und Bahn benutzt. Der Dienstwagen war weg und die Kleinfamilie wollte in Zukunft durch die Gegend kutschiert werden. Somit war ein preiswerter Kombi die richtige Wahl, fand Hansen.

Die Möbelpacker hatten zügig gearbeitet und Hansens Hab und Gut nach einer Stunde in ihrem LKW verstaut. Er hatte ihnen am Schluss ein Bier angeboten, weil er glaubte, das sei so üblich. Die drei kräftigen Männer hatten dankend abgelehnt.

Bier gab es bei ihnen erst nach Feierabend. Moderne Zeiten, andere Sitten. Hansens letzter Umzug lag über zwanzig Jahre zurück. Damals wäre das Bier gut angekommen. Die in der Wohnung verbliebenen Reste sollte die städtische Sperrmüllabfuhr in ein paar Tagen abholen.

Nadja und ihre Tochter wohnten schon seit einem Jahr in der Vier-Zimmer-Wohnung, die nun das gemeinsame Domizil werden sollte. Hansen zahlte von Beginn an einen Teil der Miete. Nadja hätte die Kosten allein nicht tragen können, obwohl sie einen neuen, gut bezahlten Teilzeitjob im Krankenhaus Barmbek gefunden hatte. Eigentlich lief alles gut. Mareike profitierte von dem Konzept der integrierten Gesamtschule, die sie seit einem Jahr besuchte. Hier wurde sie gezielt gefördert und konnte trotz ihrer Lernschwäche mithalten.

Nadja hatte Hansen ein eigenes Zimmer zugestanden, das groß genug war, um darin neben dem Bett und dem Kleiderschrank einen Schreibtisch, ein Regal und einen bequemen Sessel unterzubringen. Sie musste ihn nicht stören, wenn sie wegen des Schichtdienstes in aller Frühe aufstehen musste und er konnte sie mit seinem Schnarchen nicht in den Wahnsinn treiben. Sie hatten alles im Voraus vernünftig geregelt. Trotzdem hatte er Angst, dass es schiefgehen könnte. Den Altersunterschied von zwanzig Jahren konnte man nicht wegregeln.

Hansen schreckte aus seinen Gedanken hoch. Der Möbelwagenfahrer vor ihm wollte einen falschen Abzweig nehmen. Hansen hupte und setzte sich mittels eines riskanten Überholmanövers vor den LKW, um die Führung zu übernehmen. Er kannte den Weg in sein neues Heim, war schon oft genug dort gewesen. Er hätte sich freuen müssen. Ein Leben ohne Nachtbereitschaft, ohne dutzende Überstunden, ohne Blutlachen, Lügen, psychisch Gestörte und Verwesungsgeruch. Das hätte ihn fröhlich stimmen sollen. Aber Hansen wusste, dass er all das vermissen würde.

Nadja stand wartend vor der Haustür, als der kleine Umzugstross sein Ziel erreichte. Ihre große Nase zeigte leicht gerötet einen beginnenden Sonnenbrand an.

Sie hatte sich diesen Tag freigenommen, um Harry helfen zu können. Mareike war in der Schule. Er ging zu Nadja, schaute wieder einmal fasziniert in ihre klaren, blauen Augen und umarmte sie.

Sie gab ihm einen Kuss. »Willkommen im neuen Zuhause. Vor dem Auspacken gibt es was zu essen. Ich habe Gulasch mit Nudeln gekocht.«

Sie winkte den Möbelpackern zu. Die freuten sich und folgten ihr bereitwillig. Hansen bewunderte ihr Organisationstalent und Zeitgefühl. Sie wusste, wer wann was brauchte und zauberte es genau dann hervor.

Nach dem Essen ging Hansen zusammen mit einem der Möbelpacker auf den Balkon, um eine Zigarette zu schmöken. In der Wohnung durfte er nicht rauchen. Der Möbelpacker stützte seine kräftigen Arme auf das Geländer. Da er ein halbärmeliges T-Shirt trug, konnte Hansen zahlreiche Tätowierungen auf den Unterarmen sehen.

»Schön haben Sie es hier«, sagte der Mann, während er den Ausblick prüfte. »Und Ihre Freundin macht ein klasse Gulasch. Sie sind zu beneiden.«

Bin ich das?, fragte sich Hansen zweifelnd und glücklich zugleich.