Für
Lene Thurøe Knudsen,
meine erste Leserin und Muse,
die meinen Geschichten Flügel verleiht,
Sven Ingmar Knudsen,
meinen Sohn, der mit mir die Liebe
zum Schreiben und Geschichtenerzählen teilt.
Mit herzlichem Dank
für das engagierte Lektorat von Andrea Langenbacher,
der dieses Buch viel zu verdanken hat.
Vorwort
In 365 Tagen umkreist unsere Erde die Sonne.
Wenn uns Erdbewohnern etwas „im Blut liegt“, dann sind es die großen Rhythmen unseres Planeten: Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Nichts liegt deshalb näher, als auch unser Leben im großen Rhythmus der Jahreszeiten zu begreifen: Jedes Menschenleben hat seinen Frühling, seinen Sommer, seinen Herbst und Winter. Und wenn wir schmerzlich Abschied nehmen müssen von unseren Liebsten, dann folgt auch unser Weg durch die Trauer dem Rhythmus, der allem Leben zu eigen ist.
Und doch setzen Abschied und Trauer eine ganz eigene Zeitrechnung in Gang: „Im Hohen Sommer starb mein Liebster. Seither ist in meinem Herzen tiefster Winter.“ So sagt es eine Frau in ihrer Trauer. – Es ist, als würde die Zeit mit einem Schlag auf Null gesetzt. „Tiefster Winter“ ist das Bild, mit dem die Trauernde ihre Gefühlswelt umschreibt. Mag draußen auch Hochsommer sein, in ihrem Innersten ist eine Zeit schlimmer Kälte angebrochen. Und es ist nicht die Art von Kühle, nach der sich mancher in schwülheißen Hochsommertagen sehnt. Es ist ein bitterkalter Winter, der alles zum Erfrieren, der alles zum Erstarren bringt. Ein Winter, der – ist er erst hereingebrochen – kaum vorstellbar jemals wieder enden wird.
Trauer um einen Liebsten brennt in unserer Seele wie eiskalter Schnee. Sie wirft uns aus vertrauten Bahnen, katapultiert uns in eine Welt des Schmerzes, der Leere und tief empfundenen Ausweglosigkeit.
Und dennoch – wenn auf etwas in unserer Welt Verlass ist, dann ist es dieses: Jeder Nacht folgt ein neuer Tag, jedem Winter folgt ein neuer Frühling. In den schlimmsten meiner Nächte verzweifle ich daran, weil die Nacht nicht enden will. Zur Mittwinternacht haben unsere Vorfahren gezweifelt: „Wird die Sonne noch einmal die eisigen Winterstürme vertreiben, wird das Licht die Dunkelheit besiegen?“
Durch Zehntausende von Jahren haben Menschen den tiefen Schmerz des Abschiedes durchlitten. Frühe Begräbnisse und liebevolle Grabbeigaben zeugen von der Trauer der ersten Menschen. Durch die unendlich vielen Jahre aber ist auch das zur Gewissheit geworden: Die Rhythmen der Natur, die Gezeiten des Lebens sind stark und mächtig.
Winter bleibt es nicht für immer. Irgendwann wird es Frühling werden.
Trauer ist ein langer Weg. Für viele ist der „Winter“ endlos lang. Die Tage sind grau und kalt und schlimmer noch sind die einsamen Nächte. Und auch wenn der „Frühling“ seine ersten Boten schickt, vergeht die Trauer nicht. Auch nicht im „Sommer“ und nicht im „Herbst“. Aber Trauer verändert sich. Über die Zeit wird die Trauer anders. Der Schmerz ist nicht mehr alles. Der Alltag wird wieder erträglicher. Manchen Kälteeinbruch wird es noch geben, denn der vergehende Winter kämpft mit dem kommenden Frühling. Es bleibt wechselhaft: Mein Herz ist wie April.
Aber auch April wird es in der Trauer nicht für immer bleiben. So wie die Erde auf ihrem Weg um die Sonne nicht stehenbleibt und die Welt draußen ihren Atem nicht anhält, so bleiben auch wir Menschen nicht in unserer Trauer stehen, sondern finden – irgendwann, nach bitteren, schmerzlichen Wegen – zurück ins Leben.
Dieses Buch lädt Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein, sich auf Ihrem Weg durch die „Jahreszeiten der Trauer“ von Erzählungen, Märchen und Geschichten begleiten zu lassen. In den Geschichten, die ich erzähle, spiegelt sich meine jahrzehntelange Erfahrung in der Begleitung von trauernden Menschen wider. Sie gehen mit in den „tiefsten Winter“, geben der Not und den Fragen des „Mittwinters der Trauer“ eine Sprache. Und lassen dann doch die Erfahrung und das Vertrauen spürbar werden, dass Schmerz und tiefste Not nicht das letzte Wort haben werden.
Geschichten sind gute Begleiter. Sie erzählen nicht in der Sprache des Verstandes, sondern mit den Bildern des Herzens. Und wenn Sie die eine oder andere Geschichte dieses Buches wirklich im Herzen anspricht, dann mag daraus auch eine kleine Kraft erwachsen, ein Quantum Mut, Ihren Weg durch den Winter der Trauer weiterzugehen; der Mut auch, nicht zurückzuschrecken wenn die ersten Boten des kommenden Frühlings sich zeigen.
Gute Geschichten haben eine seltsame Kraft. Sie wachsen in unseren Herzen weiter, wenn wir sie mitten hinein in unser eigenes Leben erzählen.
Vielleicht wird Sie das eine oder andere „zu Tränen rühren“. Das ist so in der eigenen Trauer. Sehr freuen aber würde es mich, wenn Ihnen meine Geschichten immer wieder auch einmal ein Lächeln schenken und ein Gefühl dafür, dass auch Ihr „Winter“ nicht ewig anhalten wird.
Der geliebte Mensch, von dem Sie haben schmerzlich Abschied nehmen müssen, wird der erste sein, der es Ihnen von ganzem Herzen gönnt.
Ihr
Hubert Böke
Im tiefsten Winter der Trauer
Wenn die Trauer um einen geliebten Menschen über uns hereinbricht, dann wird es in uns und um uns bitter, bitter kalt. Dann bricht die Zeit des tiefsten Winters an. Alles gerät unter eine undurchdringliche Eisschicht. Das Leben in uns gefriert, als wären wir selbst mitgestorben. Ich verstehe mich selbst, ich verstehe die Welt um mich herum nicht mehr. Auch die Wege zu anderen Menschen sind zugeschneit und für alle schwer begehbar.
„Seit dem Tod ihres Mannes hatte kein Sonnenstrahl mehr ihr Herz erreicht. Tief in ihr lauerte ein dumpfer Schmerz und lähmte alles Leben. Ihre Seele war ein See gefrorener Tränen, unter dem Eis aber brodelte eine große Leere“, so heißt es in der Erzählung Raunen. Sie wird in diesem Buch in drei Teilen erzählt. Jeder Abschnitt erzählt die Geschichte weiter und leitet in das nächste Kapitel ein.
Irgendwann, nach dieser Schockstarre der ersten Trauer, bricht die Eisdecke. All die Gefühle, die unter dem Eis wie weggesperrt waren, kommen herauf vom Grund der wunden Seele. All die Verzweiflung, all die Einsamkeit, all das Nicht-Begreifen, die Angst, der Zorn auf Gott und die Welt und wohl auch auf den, der uns (nicht freiwillig) verlassen hat.
„Es gibt Zeiten“, so erzählt die Geschichte vom Winterengel, „da frieren nicht nur die Menschen, da frieren auch die Engel.“
Es gibt Zeiten, da geraten wir mitten hinein in einen finsteren, kalten Wald wie Gretel und Hänsel und wissen nicht: Werden wir jemals wieder herausfinden? Wird die „Hexe“ siegen, das, was alle Lebenskraft frisst? Oder wird die Sonne des Lebens für uns noch einmal scheinen und neuer Lebensmut der Verzweiflung trotzen?
So fragen in Jules Stern auch die Menschen des Hohen Nordens, wenn der lange Winter anbricht und die Mittwinternacht kommt: „Wird die Sonne noch einmal die eisigen Stürme des Winters vertreiben, wird das Licht den Sieg über die Dunkelheit davontragen?“
Die Winterzeit der Trauer ist eine Zeit voller Schmerz, voller Ungewissheit, voller unbeantworteter Fragen. Und wir sind Gebeutelte im aufkommenden Sturm der Gefühle: „Wird dieser Schmerz jemals erträglicher und das Leben … irgendwann … wieder lebbar?“