Verena Kast

Altern – immer für eine Überraschung gut

Patmos Verlag

Einleitung

Ich werde älter. Noch spüre ich nicht allzu viel davon, noch kann ich vieles. Aber ich werde immer einmal von meinen Mitmenschen auf mein Alter und mein etwas eigenwilliges Umgehen damit hingewiesen. „Arbeitest du noch? Wie lange willst du denn noch arbeiten? Willst du dir das noch antun? Das ist doch Stress!“ Und irgendwie klingt an: Du könntest damit mutwillig dein Leben verkürzen. Ich wehre mich energisch dagegen, ins Alter „geredet“ zu werden, mit diesen und ähnlichen Bemerkungen auf ein bestimmtes Altersmodell festgelegt zu werden. Meine Befürchtung besteht wohl darin, dass ich es selbst auch noch „glauben“ und dass ich meine Art des Alterns plötzlich als fragwürdig einstufen könnte. Ich will selber entscheiden, was ich noch mache in meinem Alter, was mir noch Freude macht, was ich noch will – das ist doch die Freiheit des Alters, die ich hoch schätze, und die werde ich mir zu erhalten wissen.

Menschen altern unterschiedlich, Menschen gestalten auch unterschiedlich ihr Alter. Natürlich spüre ich auch selber, dass ich älter werde, das ist ja auch nicht neu. Seit einigen Jahren ertappe ich mich dabei, wie ich mir auf Reisen sehr deutlich sage: „Da werde ich nie mehr hinkommen …“ Natürlich könnte ich noch einmal dahin gehen, aber es sind zu viele Orte, die ich noch sehen möchte. Es gibt viele Orte in der Welt, die mich fasziniert haben, ich bin dennoch nicht mehr dahin zurückgegangen, aber ich habe es mir früher nicht gesagt. Denn da war ja noch so viel Zeit, so viele Möglichkeiten. Und jetzt gibt es zwar immer noch genug Zeit, auch genug Möglichkeiten, aber nicht mehr für alles. Auch das Wörtchen „noch“ gebrauche ich viel öfter als früher. Ich bewege mich immer noch gerne, aber dennoch weniger rasch als früher. Ich mache mehr Pausen als früher, nehme mir mehr Zeit, mache nur noch eine Sache auf einmal – aber warum sollte ich nicht weiter das machen, was mir bis jetzt in meinem Leben Freude gemacht hat?

Wenn ich mir in diesem Buch Gedanken zum Altern mache, meine ich überhaupt nicht, dass diese für alle Menschen zutreffen könnten. Auch bin ich noch eine „junge Alte“, eine Angehörige des dritten Lebensalters, das man etwa von 65 bis 84 ansetzt, dem dann das vierte Lebensalter folgt, etwa von 85 bis zum Tod. Schwieriger, so wird geschrieben, wird das Leben in diesem vierten Lebensalter; auf dieses sehr hohe Alter werde ich nur gelegentlich einen Blick werfen.

Das dritte Lebensalter indessen, das kann man heute an vielen Orten lesen, ist ein sehr gutes Alter: Körperlich und geistig noch fit, befreit von Erwerbsarbeit, viel unterwegs. Die siebte Dekade, das Alter zwischen 70 und 80, gilt als die emotional befriedigendste Phase des Lebens, auch wenn das zunächst überraschen mag. Von dieser Warte aus schreibe ich – ich bin jetzt 72. Ob das emotional wirklich die beste Dekade ist, kann ich noch nicht beurteilen, werde es aber wohl auch nicht beur­teilen können. Wie soll ich das vergleichen, ist da ­überhaupt etwas Vergleichbares? Die Vergleiche sind statistisch. Dennoch: Mich freut es, wenn solche Altersbilder – gestützt von robusten Untersuchungen – in die Welt gesetzt werden. Die Bilder, die wir vom Altern ­haben, beeinflussen in hohem Maße unsere Sicht dieses Prozesses und haben so einen Einfluss darauf, mit welchen Erwartungen und Befürchtungen wir an diesen Lebensabschnitt herangehen. Ich selber bin mit einem sehr geliebten alten Großvater aufgewachsen, den ich heute auch als ein wenig weise bezeichnen würde, war aber auch umgeben von anderen alten Menschen, die Wert darauf legten, dass ich in ihrer Umgebung spielte, die mir das Kartenspiel beibrachten, damit sie weiter ­ihrem Hobby frönen konnten, nachdem einer der alten Männer gestorben war. Auch das lernte ich: Menschen sterben.

Ich sehe das Altern als einen Prozess mit Entwicklungsaufgaben, die uns herausfordern. Als Prozess fängt gutes Altern meines Erachtens schon früh an. Schon früh war mir die Idee, dass Leben „abschiedlich“1 gelebt werden muss, weil es den Tod gibt, zentral wichtig. Diese Idee schien und scheint mir richtig zu sein und bestimmend für mein Leben – wohl auch für das Leben überhaupt: loslassen und immer wieder sich einlassen; enden lassen und wieder neu beginnen. Dieses Thema wird nun aber im Alter viel existentieller, muss deshalb noch einmal neu in seinen Implikationen bedacht werden.

Was ist mit der damit verbundenen Flexibilität und Kreativität im Alter? Darum geht es mir in diesem Buch. Wie kann man einwilligen ins Älterwerden und sich dabei nicht nur nicht verlieren, sondern auch immer wieder neu mit sich selbst in Kontakt kommen, ­immer wieder neu das Leben gestalten, trotz der Ver­luste, sich eine gute Lebensqualität bewahren, eine erfreuliche Zeitgenossin bleiben, in Verbindung mit anderen Menschen? Aus der eigenen Erfahrung, aus vielen Gesprächen mit Altersgenossinnen und Altersgenossen, die zum Teil scharf den Problemen des Alterns ins Auge blicken, habe ich zudem die Themen gefunden, mit ­denen ich mich hier auseinandersetze.

Ich schreibe als Psychotherapeutin, halte das Alter aber in keiner Weise für eine Krankheit. Die Jung’sche Psychotherapie hat schon immer die zweite Lebenshälfte als eine wichtige Periode im Leben verstanden, in der der Mensch sich nach innen wendet, bis jetzt Ausgespartes im Leben aufnimmt und dadurch mehr zu sich selbst kommt. Heute weiß man viel über die Veränderungen, die sich im Alterungsprozess manifestieren; aus einer psychotherapeutischen Perspektive, die nach Ressourcen fragt, kann man zum einen die Sicht des Alters neu bestimmen, aber auch einfach aufzeigen, was denn bleibt, wie man den Kontakt zu den Ressourcen halten kann, wenn man denn will.

ÜBER DIE AUTORIN

Verena Kast, Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Zürich. Sie hat zahlreiche, viel beachtete Werke zur Psychologie der Emotionen, zu Grundlagen der Psychotherapie und der Interpretation von Märchen und Träumen verfasst. Bei Patmos zuletzt: Auf dem Weg zu sich selbst, 2015.

ÜBER DAS BUCH

Keine Frage: Alle Menschen altern. Manche schwierigen Veränderungen sind damit verbunden, aber auch unerwartete positive Überraschungen. Die renommierte Jung’sche Analytikerin Verena Kast, selbst Anfang siebzig, ermutigt dazu, flexibel auf die Herausforderungen zu reagieren, die in dieser Lebensphase auf uns zukommen. Sie zeigt: Gerade im Alter gilt es, die Überraschungen, die das Leben so mit sich bringt, anzunehmen und kreativ mit ihnen umzugehen.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0736-0

IMPRESSUM

Weitere interessante Lesetipps finden Sie unter:

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© 2016 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

ISBN 978-3-8436-0736-0 (Print)

ISBN 978-3-8436-0737-7 (eBook)

LESEEMPFEHLUNG

Verena Kast

Auf dem Weg zu sich selbst

Werden, wer ich wirklich sein kann

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Emotionen als Quelle der Lebendigkeit, Träume als Wegweiser, das Reifen am Du –Verena Kast umkreist Themen, die mit dem Abenteuer Selbstwerdung zu tun haben. Selbstwerdung, auch Individuation genannt, ist ein lebenslanger Prozess. Es geht darum, sich zu einem autonomen und gleichzeitig beziehungsfähigen Menschen zu entwickeln – der zu werden, der man wirklich sein kann. Mit zahlreichen Denkanstößen motiviert die renommierte Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin die Leserinnen und Leser dazu, sich auf den Weg zu machen, die eigenen Potenziale zu entfalten.

Als Printausgabe erhältlich:

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0634-9

Als eBook-Ausgabe erhältlich:

www.patmos.de/EBOOK978-3-8436-0635-6

Inhalt

Einleitung

Das Wohlbefindensparadox

Flexibilität

Flexibilität und Starrsinn

Flexibilität als schöpferische Haltung

Bedürfnis nach Kontrolle

Vor-Sorge

Fantasien des Vertrauens

Die Fähigkeit des Hinnehmens

Flexibilität und Kontrolle

Das Bedürfnis nach Kontrolle als Grundbedürfnis

Umgang mit Angst

Äußere Kontrolle – innere Kontrolle

Emotionen und Gefühle als Möglichkeit der Orientierung

Angst als Macht

Lebensqualität trotz Angst

Schamangst

Humor

Freude

Vorfreude

Interesse

Die Simultaneität positiver und negativer Emotionen

Distanzierung von Spannungen

Trauern und Einsamkeit

Annäherung an den eigenen Tod

Erinnerung als Ressource

Nähe durch erzählte Erinnerungen

Persönliches und kulturelles Gedächtnis

Vom Umgang mit den großen Sorgen

Selbstständigkeit und Abhängigkeit

Der alternde Körper

Dankbarkeit als Gegengewicht

Mitsorgende und Mittragende

Was wird besser im Alter?

Lob der Vorstellungskraft

Die Erinnerung an gute Erfahrungen

Die Wirksamkeit von Placebos

Vertrauende Erwartung auf überraschende Prozesse

Abschiedlich leben

Loslassen

Hoffnung

Ars moriendi als Lebenskunst

Schöpferische Einsamkeit

Dank

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Das Wohlbefindensparadox

Es ist ja keine Frage, wir alle altern: Die Entwicklungen in unserem Körper bewirken, dass wir unselbstständiger werden – das ist das Schicksal, das zu akzeptieren ist. Es verkürzt sich nicht nur unser Zeithorizont, wir bewegen uns auch immer mühsamer auf ihn zu. Die Treppen scheinen steiler zu werden, kleine Knöpfe an Blusen und Hemden entwickeln ein Eigenleben, die Menschen sprechen noch schneller und leiser als bisher, die Zähne werden länger, die Muskeln schwächer, wir können nicht mehr so rasch gehen, wie wir es gewohnt waren, kommen schneller außer Atem, alles geht zunehmend etwas langsamer, das Hörvermögen nimmt ab, wir sehen nicht mehr so gut, reagieren zunehmend langsamer – und Stellen am Körper können plötzlich schmerzen, von denen wir bisher nicht einmal wussten, dass es sie gibt. Hinzu können ernsthafte Erkrankungen kommen.

Dennoch: Altern – so wie es sich halt abspielt – halte ich nicht für eine Krankheit, sondern für eine ganz normale Lebensphase mit speziellen Herausforderungen, so wie jede Lebensphase ihre Herausforderungen hat. Wir werden im Alter aber nicht nur schwächer und sterben dann. Trotz all dieser vielfältigen Verluste ist unser Wohlbefinden erstaunlicherweise so gut wie in jüngeren Jahren, zum Teil sogar besser. Staudinger hat dafür den Ausdruck „Wohlbefindensparadox“2 geprägt. Wir werden auch glücklicher – statistisch gesehen –, sagen uns andere Studien3: Mit 20 sind wir glücklich, dann nimmt das Gefühl der Lebenszufriedenheit ständig etwas ab, nach 45 geht es wieder aufwärts. In der zweiten Lebenshälfte, oder man könnte auch sagen: im dritten Lebensalter, nimmt das Wohlbefinden zu, wird allerdings ­geringer bei den Hochbetagten.4 Blanchflower und ­Oswald5 meinen, wir könnten – immer statistisch gesehen – erwarten, dass wir in unseren frühen 80er-Jahren so glücklich sind, wie wir mit 20 waren. Wichtiger noch als diese Prognose, die ja durchaus erfreulich ist, ist die Bemerkung, dass dieses Wohlbefinden nicht primär mit glücklichen Lebensereignissen zu tun habe, sondern mit einer tiefen, spezifisch humanen Veränderung im alternden Menschen. Was könnte das sein?

Diese Veränderung erinnert an die Theorie des Individuationsprozesses, den C. G. Jung beschrieben hat.6 Jung war der Ansicht, dass in der Mitte des Lebens vermehrt Depressionen auftreten, und dass hinter diesen Depressionen Leben verborgen sei, das auch gelebt werden könnte – das bis jetzt ausgespart worden sei. Er versuchte nachzuweisen, dass nach der Mitte des Lebens die innere Welt wichtiger wird, mehr belebt wird, und damit auch die Frage nach dem Sinn. Diese neue Entwicklung wird möglich, indem man sich auch mit dem Unbewussten – über Träume, Imaginationen, gemalte Bilder – in Verbindung setzt. Stone7 vermutet den Grund, warum Menschen in der Mitte des Lebens wieder glücklicher zu werden beginnen, in Umweltbedingungen (etwa mehr Zeit), in psychologischen Einflüssen, etwa dadurch, dass man im Alter die Welt anders wahrnimmt, weil man viel Erfahrungen hat, Kompetenzen ansammeln konnte, oder sogar in biologischen Einflüssen, etwa in den veränderten endokrinen Ausschüttungen.

Carstensen8, die wohl die bedeutendsten und auch robustesten Forschungen zum Thema Wohlbefinden bei jüngeren und bei älteren Menschen durchgeführt hat, ist der Ansicht, die Zufriedenheit und die emotionale Stabilität im Alter habe damit zu tun, dass der wahrgenommene Zeithorizont sich verkürzt, und sie weist nach, dass dadurch eine Veränderung in der Motivation entsteht: Weil nicht mehr viel Lebenszeit ansteht, suchen Menschen nach dem, was für sie emotional bedeutsam ist, und das pflegen sie dann auch.

Viele verschiedene Forscher scheinen sich also darin einig zu sein, dass sich mit dem Altern auch etwas eher Überraschendes einstellt, dass eine Harmonisierung, Bereicherung und Belebung des emotionalen Lebens erfahrbar ist, was zu mehr Wohlbefinden führt, trotz aller Schläge, die beim Altern ja auch einzustecken sind. Also nicht notwendigerweise die Altersdepression, die Verbitterung, sondern wir sind auch zufriedener im Alter, glücklicher als vorher – obwohl Einbußen unabwendbar sind. Ein Paradox eben – oder vielleicht doch nicht. Natürlich kann das Altern bei den verschiedenen Menschen auch ganz unterschiedlich aussehen. Wer schon immer eher verbittert war, wird es eher auch im höheren Alter sein. Wer eher vertrauensvoll war, wird dieses Vertrauen auch ins Alter mitnehmen können. Wer mental und körperlich wenig beeinträchtigt ist, wird sich leichter an Umstellungen anpassen. Es gilt also weder, das Altern zu idealisieren noch es zu verteufeln – es ist eine Entwicklungsaufgabe, und um diese Herausforderungen soll es in diesem Buch gehen. Was hilft uns, diese Herausforderung anzunehmen?

Flexibilität

Flexibilität und Starrsinn

Wenn der Boden schwankt, muss man flexibel werden oder flexibel bleiben. Im Alter schwankt der Boden in mancherlei Hinsicht. Und das nicht nur, weil sich gelegentlich Schwindelanfälle einstellen, sondern auch, weil so vieles, was sicher und verlässlich schien, worauf man glaubte, bauen zu können, bei sich und bei anderen ins Schwanken gerät. Sich auf das Schwanken einstellen, innerlich mitgehen, sich nicht dagegen auflehnen, flexibel sein – so lassen sich viele der unvermeidlichen Imponderabilien des Alters ausbalancieren.

Stellen wir uns vor: Wir sind in einem nicht allzu großen Boot auf dem Wasser, wir wollen aufstehen, vielleicht den Platz wechseln oder auch aussteigen – das Wasser ist bewegt. Das Boot schwankt. Wenn wir dieses Schwanken wahrnehmen, wir uns darauf einstellen, es uns gelingt, mit unserem Körper mit diesen Bewegungen mitzugehen, sie als gegeben anzunehmen – dann können wir sie ausbalancieren, fallen wir nicht ins Wasser. Wer dagegen ängstlich stocksteif in diesem Boot steht, wird mit hoher Sicherheit über Bord gehen, ins Wasser fallen. Kann dieses Bild Hinweise geben, wie mit den Schwankungen im Alter umzugehen wäre?

Flexibilität heißt hier, sich anzupassen an das, was ist, und das, was einem zustößt; mitzugehen mit dem Fluss des Lebens – und dennoch nicht die Form, die eigene Identität zu verlieren. Flexibel meint ursprünglich, biegsam zu sein, um nicht zu zerbrechen, und immer wieder in die alte Form zurückspringen zu können. Mitzugehen mit den Anforderungen des Lebens, sich dabei aber doch nicht zu verlieren, bei sich selbst zu bleiben, ist gefragt. Leben ist im Fluss, der Veränderungen sind viele, besonders wenn wir älter und alt werden: Veränderungen im äußeren Leben, Veränderungen im Umgang mit sich selber, dem alternden Körper, der alternden Seele, den Mitmenschen, dem Verlust von Mitmenschen. Viele dieser Veränderungen sind nicht vorauszusehen – und deshalb brauchen wir eine Haltung der Flexibilität, denn zu kontrollieren sind viele davon nicht.

Nun verbindet man das Alter nicht gerade mit Flexibilität. Da spricht man doch eher vom Starrsinn der ­Alten, einer Form der ängstlichen oder auch trotzigen Kontrolle. Und es mag ja auch sein, dass es alte Menschen gibt, die etwas starrsinnig werden, vielleicht trifft auch zu, dass alle Menschen in gewissen Belangen als starrsinnig erlebt und bezeichnet werden können, weil sie einfach nicht von einer Haltung, die ihnen wichtig ist, abzubringen sind, weil sie mit einer übertriebenen Festigkeit dem sie Ängstigenden zu trotzen hoffen. Ich behaupte nicht, dass es keinen Starrsinn gäbe, sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Menschen. Gebrauchen wir allerdings den Ausdruck Starrsinn, dann heißt das auch, dass wir mit dem Menschen, dem wir dieses Attribut zuschreiben, im Moment nicht umgehen können. Er steht starr im Getriebe des Lebens – unbeugsam – und das stört den Fluss des Lebens, denn wir können nicht mit ihm in Verhandlung treten, in einen Dialog treten. Ein schroffes Nein wird uns entgegengesetzt, mit dem wir in der Regel nicht flexibel umgehen können, mit dem nicht flexibel umzugehen ist. Man kann dann auch gemeinsam keine Lösung miteinander finden, man kann eine schwierige Situation auch nicht gemeinsam ausbalancieren.

Die Flexibilität im Alter ist dem gegenüber eine „wissende“ Flexibilität. Sie rechnet mit Schwächen und Unzulänglichkeiten, sie ist weit entfernt von Perfektionismus, sie weicht aus, wo es notwendig ist, riskiert zu stolpern und vertraut darauf, wieder festeren Tritt zu gewinnen. Sie weiß gelassen um die vielen Veränderungen im Leben und hofft dennoch auf Kontinuität, weiß um die Kontinuität in der eigenen Persönlichkeit, Kontinuität in der Veränderung.

Flexibilität als schöpferische Haltung

Wenn wir von Schöpferischsein sprechen, denken wir oft an ein Produkt: Jemand erfindet eine neue Theorie, schreibt einen Roman, malt ein Bild, komponiert eine Oper. Das, so sind wir uns einig, machen die schöpferischen Menschen. Schöpferisch zu sein ist aber auch eine Haltung mit einer Perspektive und als Haltung allen Menschen zugänglich. Es ist eine Haltung, die das, was interessiert, neu zu verstehen, zu durchdringen versucht und es in einen Zusammenhang mit Bestehendem bringt, so dass dieses Bestehende aus einer anderen ­Perspektive gesehen werden kann, sich auch anders ­anfühlt, also auch anders wird. In der schöpferischen Haltung nehmen wir nur wenig für gegeben hin, sondern werfen den Blick darauf, wie scheinbar Gegebenes auch verändert werden kann oder wie man mit einer neuen Einstellung auch eine andere Wahrnehmung des Gegebenen erreichen kann, eine Wahrnehmung, die lebenstauglicher und lebendiger ist. Alles kann auch anders sein, neu; alles, auch Störendes, ist in dieser Haltung interessant, ein Anlass, sich damit auseinanderzusetzen: in einer mehr lebenspraktischen Weise, indem man Wege sucht, wie man sich in vertrackten Lebenslagen doch noch vom Boden erheben kann, in einer mehr spirituellen Form, wie man einer Situation, die einem sinnlos erscheint – etwa der Tod eines geliebten Menschen vor der Zeit – doch noch Sinn abtrotzen kann oder sich auch entscheiden kann, zunächst ohne Sinn zu leben.

In einer schöpferischen Haltung sind wir davon überzeugt, dass wir Einfluss auf unser Leben haben, immer wieder Einfluss auf unser Leben nehmen können, dass eben nichts ein für alle Mal gegeben ist und daher auch verändert werden kann. Aber auch umgekehrt: Wenn wir Menschen mit einer schöpferischen Haltung sind, sind wir auch – meist unbewusst – davon überzeugt, dass nur wenig bleibt, wie es ist, und dass dieses Wissen dennoch nicht unserer Persönlichkeit und unserem Leben den Boden entzieht. Gerade darauf vertrauen wir: Was immer auch geschieht, es geschieht mir, und ich kann in irgendeiner Weise damit umgehen. In dieser Haltung befürchten wir nicht die ständig zu erwartenden Veränderungen, sondern wir können sie gelassen angehen, wenn sie denn eingetroffen sind. Gewiss gilt das nicht für alle Veränderungen: Ein plötzlicher Krankheitseinbruch oder der Verlust einer uns nahestehenden Person wird uns dennoch erschüttern und auch Ängste auslösen.