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Kurzbeschreibung: 

Sie hat keine Fahrkarte, dieses Mädchen, das ihm im Zug gegenübersitzt, dessen ist sich Ben sofort sicher. Er selbst hat nämlich auch keine. Aber im Gegensatz zu ihr weiß er, wie man beim Schwarzfahren unentdeckt bleibt. Schließlich hängt vom Unentdecktbleiben momentan buchstäblich sein Leben ab, seit er mit einem Rucksack voll geklautem Haschisch vor einer Dealerbande fliehen musste. Marieke ist ratlos. Vor Kurzem hat sie herausgefunden, wieso ihre Mutter ihren Vater selbst Jahre nach der Scheidung noch hasst. Nun traut sie sich nicht zu dem geplanten Vater-Besuch und ist kurzerhand in den falschen Zug gestiegen. Aber was passiert, wenn sie erwischt wird? Die Zugfahrt endet für beide auf einem einsamen Bahnsteig mitten im Nirgendwo, und an eine Weiterfahrt ist vorerst nicht zu denken. Widerwillig beginnen Ben und Marieke, gemeinsam nach einem Ausweg zu suchen – und lernen dabei, sowohl einander als auch sich selbst zu vertrauen. Ein Buch über Freundschaft und Liebe, die selbst auf Trümmerfeldern zersplitterter Familien gedeiht.


Tabea Petersen

Marieke & Ben

Zug ins Unbekannte


Roman


Edel Elements

Kapitel 1 – Mama Rieke

Marieke, 26. Februar

„Felix, nicht schon wieder!“ Schlaftrunken versucht Marieke, den kleinen Körper von sich wegzuschieben. Doch Felix bewegt sich keinen Millimeter, sondern gibt nur ein unwilliges „Mhmm!“ von sich. Wenn sie ihn jetzt erneut anschubst oder anspricht, ja, auch nur eine falsche Bewegung macht, wird er aufwachen. Er wird aufwachen und anfangen zu schluchzen, bis Annika verschlafen und blass aus ihrem Schlafzimmer getapst kommt und ihn zu sich hinüberträgt. Dann wird Marieke wach liegen, auf die Geräusche aus dem Nebenzimmer lauschen und sich über sich selbst ärgern, weil sie Dirk und Annika nicht einmal diesen kleinen Gefallen tun konnte. Nein, diesmal nicht, beschließt sie. Diesmal soll Annika nicht extra aufstehen. Marieke hält den Atem an. Eine Weile bleibt sie regungslos liegen und lauscht auf Felix’ Atemzüge, bis sie regelmäßiger werden. Dann legt sie behutsam die Hand auf seinen Kopf und streicht ihm über den weichen Haarschopf.

„Mhmm.“ Sein Brummen klingt freundlicher und endet in einem zufriedenen Seufzer, als er die kurzen Ärmchen um ihren Hals schlingt und sich behaglich an sie schmiegt. Ein kurzes Zucken läuft durch seinen Körper, dann bleibt er still liegen. Nur seine tiefen Atemzüge durchdringen die Stille. Ach, Felix.

Eigentlich müsste sie sie alle hassen, Dirk und Felix und vor allem Annika, um Elisabeths Willen. Elisabeth sagt es nicht laut, doch Marieke weiß, dass sie nicht vergisst. Nicht vergessen will und erst recht nicht vergeben, niemals: dass Dirk sie verlassen hat, damals, als er und Elisabeth noch Mama und Papa hießen. Dass er nicht zurückgekommen ist, sondern stattdessen Annika gefunden hat, nett und fröhlich, und dann Felix bekam – eine neue Frau und ein neues Kind. „Er will uns nicht mehr, er braucht uns nicht mehr, er hat ja jetzt die Neuen.“ Marieke ist sich nicht sicher, ob Elisabeth das tatsächlich irgendwann gesagt hat. Dass sie es dachte, kam auf jeden Fall deutlich zum Ausdruck. Das muss die Zeit gewesen sein, als Marieke beschloss, nicht mehr Mama und Papa zu sagen. Sie würde nicht weinen, und wenn Mama weinte, tröstete sie sie: nannte sie Elisabeth und strich ihr übers Haar, wie Papa es früher getan hatte. Und wenn es stimmte, dass Papa sie nicht mehr haben wollte, würde sie am besten überhaupt nicht mehr an ihn denken, so! Später besuchte Marieke ihn doch wieder regelmäßig, aber da nannte sie ihn Dirk. Sie durfte helfen, als Dirk und Annika in eine gemeinsame Wohnung zogen, und als sie heirateten, trug sie ein neues Kleid und ein Körbchen mit Blumen. Später ließ Annika sie den Kinderwagen mit dem Baby schieben. Sie konnte sie nicht hassen.

Annika ist nicht nur nett, sondern auch tüchtig – so tüchtig, dass Marieke sich neben ihr linkisch und unnütz vorkommt. Marieke kommt zu Besuch in ein blitzblank geputztes Haus, kann sich zum Essen an den gedeckten Tisch setzen und weiß nichts mit sich anzufangen. Felix sucht ihre Nähe, wenn er sich langweilt oder sich im Dunkeln fürchtet. Manchmal geht er Marieke auf die Nerven, doch eigentlich haben seine tapsigen Annäherungsversuche etwas Rührendes. Außerdem ist Babysitten so ziemlich das Einzige, was sie überhaupt in diesem schrecklich ordentlichen Haus tun kann. Babysitten und Hundesitten. Marieke seufzt. Felix’ warmer kleiner Körper liegt schwer und gleichzeitig tröstlich halb neben, halb auf ihr, und sein Atem streift ihre Wange.

Tageslicht dringt durch die bunt bedruckten Vorhänge herein, es ist Morgen. „Ma-Marieke“, murmelt Felix verschlafen. Mama Rieke, so nennt er sie andauernd. Marieke kann sich nicht einmal daran erinnern, wie es eigentlich dazu kam. Vermutlich kam Felix einfach während der Sprechlern-Phase bei ihrem Namen öfter ins Stottern. Nach einer Weile hat sie es wohl aufgegeben, den kleinen Schnitzer zu verbessern, weil sie ihn irgendwie süß fand, und so blieb es eben dabei.

Marieke versucht sich aufzurappeln, doch schneller, als sie aufstehen kann, ist der kleine Kerl auf ihren Schoß geklettert und schlingt schon wieder seine Arme um ihren Hals wie ein kleines Äffchen. Affen-Kind und Affen-Liebe. Wenn sie das am Montag den anderen Mädchen aus ihrer Klasse oder denen aus der Fußballmannschaft erzählte, würden die sicher mit den Augen rollen und sie bedauern. Doch sie wird es nicht erzählen. Warum nicht, kann sie selbst nicht erklären. Es ist ein bisschen wie in den Fantasy-Büchern, die sie früher gern gelesen hat, Harry Potter oder Narnia: Die Regionalbahn, in die sie sich jeden 2. Freitagnachmittag setzt, um zu Dirk zu fahren, ist wie der Hogwarts-Express der Eingang zu einer anderen Welt. Sie setzt sich inmitten des geschäftigen Treibens am Hauptbahnhof in der Innenstadt in den Zug und steigt eine knappe halbe Stunde später mitten im Grünen wieder aus, an einem frisch gepflasterten, aber menschenleeren Bahnsteig unter einem makellosen Schild mit dem Namen der neu gebauten Reihenhaussiedlung, in der Dirk und Annika wohnen: gepflegte neue Häuser und schnurgerade Straßen, auf denen sie kaum je einen anderen Menschen trifft. Während die Silhouette der Stadt am Zugfenster an ihr vorbeigleitet, lässt sie auch ihr altes Leben hinter sich zurück.

„Habibti, Liebes, ey, du tust mir so leid“, sagt ihre Freundin Suleima oft, wenn Marieke am Freitagmorgen schon mit der fertig gepackten Reisetasche über der Schulter in die Schule kommt. Dabei sind Gefühlsäußerungen dieser Art ansonsten selten bei Suleima.

Marieke widerspricht ihr nicht. Suleima würde es nicht verstehen: dass Marieke trotz ihrer knapp 16 Jahre einen ganzen Samstagvormittag damit verbringen kann, mit ihrem fünfjährigen Halbbruder Lego-Häuser zu bauen, Rennen mit Matchbox-Autos zu fahren oder den Kleinen absichtlich beim Fußball im Garten gewinnen zu lassen. Dass sie freiwillig mit Max, Dirks schwarzem Labrador, stundenlang durch Wald und Wiesen stapft, auch bei Regen. Dass sie abends Schach oder Risiko mit Dirk und Annika spielt und freiwillig um kurz nach neun ins Bett geht. Noch ein wenig liest, dann durchschläft bis zum nächsten Morgen und nichts vermisst, denn bei Dirk lebt sie ein anderes Leben.

Am Nachmittag geht Marieke mit Felix auf den Spielplatz am Waldrand. Außerhalb der von Zäunen und noch recht mickrigen Hecken umrahmten Grundstücke ist dies der einzige Ort, an dem man ab und an Leute trifft. An Mariekes linker Hand zerrt Felix, an der rechten zieht Max an seiner Leine. Gar nicht schnell genug kann es ihnen gehen. Während Felix auf dem Klettergerüst turnt, dreht sie mit dem schnüffelnden Max ein paar Runden um den Spielplatz, bleibt geduldig stehen, wenn ein fremder kleiner Stift den Hund streicheln will, und winkt im Vorbeigehen Felix zu, der begeistert oben von der Rutschbahn zurückwinkt. Das kleine Großmaul gibt bestimmt wieder vor den anderen an, das macht er andauernd: „Meine große Schwester ist cooler als deine, die spielt im Fußballclub, ätsch! Mein Hund ist größer, unser Auto ist schicker, und überhaupt, mein Papa ist viel stärker als deiner!“ Typisch Knirpse!

Die Abendbrotzeit naht, aber Felix mag nicht nach Hause gehen.

„Einmal rutschen, nur noch einmal“, bettelt er immer wieder.

„Felix, nein. Nein hab ich gesagt! Komm endlich!“ Jedes Mal, wenn sie den Kleinen beinahe eingeholt hat, schlägt er mit verschmitztem Grinsen einen Haken und flitzt in die entgegengesetzte Richtung davon. Max, den Marieke neben einer Bank angebunden hat, spürt ihre Unruhe und beginnt zu kläffen. Endlich gelingt es Marieke, Felix an der Kapuze seines Anoraks zu greifen. Sie zieht ihn mit sich zu der Bank und bindet Max los.

Doch dann geht alles ganz schnell: Der Hund macht unerwartet einen Satz nach links. Im selben Moment hat sich Felix aus Mariekes Griff befreit und setzt sich zur anderen Seite in Bewegung – genau auf die Straße zu. Marieke sieht alles wie in Zeitlupe: den herannahenden Laster, Felix’ Schritte – einen, zwei.

„Felix!“ Der eigene Schrei gellt ihr in den Ohren. Max zerrt an der Leine, Marieke verliert das Gleichgewicht und stolpert. Im Fallen bekommt sie Felix am Handgelenk zu fassen, und beide landen im nassen Gras am Straßenrand. Der Fahrtwind des vorüberbrausenden Lkw streift Mariekes Gesicht und wirbelt ihr Haar durcheinander. Ohne nachzudenken hat sie mit der Hand ausgeholt, die laut auf Felix’ Wange trifft. Ihre sich überschlagende Stimme und Felix’ Weinen übertönen die Motorengeräusche der Autos.

„Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach auf die Straße rennen!“

Als sie sich aufrappeln, ist Felix’ Gesicht verheult und voller Rotz. Marieke klopft sich den Schmutz von der Hose und fährt mit einem Papiertaschentuch über Felix’ Gesicht.

„Ni... nix sagen, okay?“, hickst der Kleine, vom vielen Schluchzen ganz außer Atem. „Bitte sag Mama und Papa nix.“

„Ist ja gut, Felix, ich sage nix.“

Seine rechte Wange ist knallrot, dort, wo ihre Hand ihn getroffen hat. Sie hat ihn geschlagen, trotzdem ist er es, der sie bittet, ihn nicht zu verpetzen. Weil sie die Große ist, Mama Rieke. Marieke fühlt sich ausgelaugt und müde wie nach einem verlorenen Match. Bleischwer sind ihre Glieder, während sie zwischen Felix und Max nach Hause trottet. Deren Zuhause, nicht ihres. Weiß sie überhaupt, wo sie zu Hause ist, hat sie ein Zuhause? Am liebsten würde sie sich einfach hier am Straßenrand zu Boden fallen lassen und nie mehr aufstehen.

Diese Schwere überkam sie früher oft bei Elisabeth, wenn sie nach der Schule oder nach einem Dirk-Wochenende in die Wohnung kam und auf dem Flurboden hinter der Wohnungstür verstreute Zeitungen und maschinengeschriebene Briefe lagen, die Elisabeth nicht aufgehoben hatte. Das war ein Zeichen. Das vorwurfsvolle Blinken des Anrufbeantworters auf der Fluranrichte war ein anderes, oder diese unheilvolle Spannung, die immer dann in der Luft lag, wenn es Streit gegeben hatte. An diesen Zeichen konnte Marieke sofort die Stimmung ablesen. Sie kennt Elisabeths Stimmungen, vielleicht besser als Elisabeth selbst. Seit Axel bei ihnen wohnt, hat es noch keinen schlimmen Streit gegeben. Axel lächelt auch dann noch, wenn Elisabeth unruhig in der Wohnung auf und ab läuft und faucht wie eine wütende Katze. Verschanzt sich Elisabeth mit Malerkittel und Farben in ihrem Atelier, stellt Axel ihr frisch aufgebrühten Kaffee vor die Tür und schiebt kleine Kekse unter dem Türspalt hindurch. Axel liest immer die Post und geht immer ans Telefon, auf Axel ist Verlass. Der ängstliche Klumpen, der in Mariekes Magen gelegen hat seit dem Tag, an dem Elisabeth Axel zum ersten Mal eingeladen hatte, war mit jedem Tag geschrumpft, bis sie ihn irgendwann kaum mehr spürte.

An diesem Sonntagabend bekommt Marieke trotzdem keinen Bissen vom Abendessen hinunter, obwohl Axel Gemüsesuppe mit frischen Kräutern gekocht hat. Axel kocht gut.

„Geht es dir gut?“, fragt er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. Marieke nickt und konzentriert ihre ganze Kraft darauf, seinem Blick standzuhalten.

„Mhmm.“

Vorhin im Zug hätte sie fast das Aussteigen verpasst. Wie betäubt saß sie am Fenster und starrte halb blind auf die draußen vorüberziehende Landschaft.

„Schlägerin-Lügnerin-Schlägerin-Lügnerin“, sangen die Räder auf den Schienen. Das Quietschen der Bremsen ließ sie zusammenfahren. Aufzustehen und ihre Reisetasche durch den Gang zu tragen schien ihr unmöglich. Irgendwie hat sie es schließlich doch hinaus auf den Bahnsteig geschafft, die Treppe hinunter und durch die Vorhalle, über den Bahnhofsvorplatz und hinein in den Bus. Dann wieder hinaus, die Straße entlang. Die Reihen der drei- und vierstöckigen Gründerzeithäuser in der Innenstadt schienen ihr heute endlos. Düster ragten die Häuserzeilen in den Abendhimmel wie ein Spalier aus hageren, grauhaarigen Herren mit erhobenen Zeigefingern, die sie aus bebrillten Augen prüfend und streng betrachteten. Marieke schauderte. Endlich hatte sie die schwere, hölzerne Eingangstür erreicht. Jetzt nur noch das Treppenhaus, die geschwungene Treppe mit dem altmodischen Geländer, dann war sie in der Wohnung in Sicherheit. Doch als Axel sie nun beim Essen fragt, wie es ihr geht, kann sie nicht antworten. Kann nicht schlucken, kann nicht atmen. Wenn nur Elisabeth nichts merkt!

Kapitel 4 – Gestrandet

Ben, 10. März

Sie hat keine Fahrkarte. Dieses Mädchen, das dort auf der anderen Seite des Ganges sitzt, hat keine Fahrkarte. Allein die Art, wie sie aus ihren Gedanken aufschreckt, als sie den Schaffner ins Abteil kommen hört. – Nennt man die Typen überhaupt noch Schaffner? Wahrscheinlich nicht, aber wie dann? Egal. Jedenfalls verhält sich die Kleine total auffällig. Wühlt hektisch in ihren Taschen und zählt das Kleingeld in ihrem Portemonnaie. Das hilft ihr jetzt auch nicht mehr, selbst wenn das Geld reichen sollte. Mit Fahrkarte im Zug kaufen ist Essig, darauf lässt die Bahn sich nicht mehr ein. Es sieht ohnehin nicht so aus, als ob ihre paar Münzen reichen würden, egal, wo sie hinwill.

Hoffentlich hat der Kontrollfuzzi sie noch nicht bemerkt, sonst ist es auch mit Bens unauffälligem Abgang vorbei: einfach ganz ruhig aufstehen und gehen, so als wäre gar nichts dabei. Wenn man es richtig anstellt, wird sich der Typ, wenn er zu Bens Sitzreihe kommt, schon gar nicht mehr daran erinnern, dass dort jemand gesessen hat.

Doch als Ben sich erheben will, kann er nur mit Mühe einen Fluch unterdrücken. Scheiße. Er hatte geglaubt, der Fuß hätte sich inzwischen halbwegs beruhigt, aber nix ist. Er blutet wie ein Schwein. Der Schuh ist schon komplett durchgesifft, und gleich wird er eine fette Blutspur auf dem Gang hinterlassen. Von wegen unauffälliger Abgang! Jetzt fängt diese Rotzgöre nebenan auch noch an, ihre Taschen zusammenzuraffen. Will die etwa versuchen, sich an ihm vorbei zu drängeln, um schneller wegzukommen? Nicht mit ihm!

Er kann die nackte Panik in ihrem Gesicht sehen, als er sich betont langsam vor ihr den Gang entlangschiebt. Trotz des fiesen Pochens in seinem Fuß muss er ein Grinsen unterdrücken. Pech gehabt, Baby! Doch die Genugtuung ist von kurzer Dauer. Wohin jetzt? Aufs Klo, das muss fürs Erste reichen. Hoffentlich ist es frei! Sein Bein hat wieder angefangen zu zittern. Verflucht, was hat er sich da bloß eingebrockt? Nein, nicht er selbst. Seine Mutter hat ihm das eingebrockt, und er kann ihr nicht einmal klarmachen, was sie ihm damit angetan hat. Er muss jetzt für eine Weile irgendwo untertauchen und Geld beschaffen. Vielleicht schafft er es, die Pelzjacke und den restlichen Stoff zu verticken. Wenn er das Geld beisammen hat, kann er nach Hause zurückkehren und sich Samir und die anderen vom Hals schaffen. Danach muss er weitersehen. Den Job in der Werkstatt wird er sich abschminken können. Kein Bummeln, kein Krankfeiern, das war die Abmachung. Wenn er im Nachhinein versuchen würde, sich beim Meister für sein Fehlen zu entschuldigen, wird der ihn nicht einmal mehr ausreden lassen, so cholerisch, wie der ist.

Beinahe ein Jahr lang hat Ben für den Mann gearbeitet. Er kann die rundliche Gestalt mit dem wirren grauen Haar und der verwaschenen Arbeitskombi mit geschlossenen Augen vor sich sehen, genau wie das Firmenschild an der Fassade: „Autowerkstatt Meisterbetrieb“ in überdimensionalen Blockbuchstaben, darunter in geradezu winziger Schnörkelschrift: „Inhaber M. Berczyk“. Der Meister selbst hat wahrscheinlich nie gerafft, was er seinen Kunden damit antut. Ben jedoch konnte, als wieder einmal ein Kunde eine gefühlte Ewigkeit lang mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen vor dem Schild stand, seinen Mund nicht halten. Als der Kunde ihn hektisch flüsternd nach dem Namen auf dem Schild fragte, und wie um Himmels willen man das aussprechen sollte, antwortete Ben laut und deutlich: „Na, Meister Betrieb!“ Das mühsam unterdrückte Feixen der Kollegen im Hintergrund verriet Ben, dass der Gag gut angekommen war. Der forschende Blick, den Samir ihm danach zuwarf, war Balsam für seine ausgehungerte Seele gewesen: Aha, diese deutsche Kartoffel, der kleine Spacko, war also immerhin für einen Joke gut. Vielleicht war er ja zu noch mehr zu gebrauchen. Der neue Spitzname für den Meister war bald in aller Munde, und der Meister selbst hatte nichts einzuwenden, im Gegenteil. Er nahm das Ganze gnädig als Ehrenbezeichnung auf – und Ben gehörte dazu.

Aber jetzt hast du’s voll verkackt, Alter! Ben blinzelt krampfhaft, um das Brennen in seinen Augen unter Kontrolle zu kriegen. Das fehlte jetzt noch, dass er hier anfängt zu heulen. Wenn jemand heulen wird, dann die kleine Tran-Suse hinter ihm, denkt er, während er die Tür der engen Toilettenzelle von innen verriegelt. So, jetzt sieh zu, wie du klarkommst da draußen.

„Die Fahrscheine bitte!“

Der Schaffner-Kontrolleur-Typ war eben schon ziemlich nah, aber an dem Füßescharren vor der Klotür kann Ben hören, dass die Tussi stehen geblieben ist. Sie steht tatsächlich da wie ein Schaf und wartet, wie kann man so blöd sein? Meine Fresse, jetzt geh endlich weiter, na los! Er weiß selbst nicht, wieso er das tut, wieso er die Tür wieder öffnet und das Mädchen hastig nach drinnen zerrt. Die kleine Göre ist auch noch bepackt wie ein Lastesel. Vor Schreck kippt sie natürlich vornüber und knallt mit ihrem ganzen Gewicht plus Rucksack und Reisetasche gegen Ben. Als ob er nicht schon wackelig genug auf den Beinen wäre! Bloß schnell die Klappe wieder zu, bevor es jemand sieht! Gerade so gelingt es Ben, die Tür zuzudrücken. Dann stützt er sich stöhnend am Klodeckel ab.

Sie sagt nichts, rührt sich nicht, starrt ihn einfach nur aus großen Augen wie hypnotisiert an. Mann, ist die schwer von Begriff!

Ben betrachtet das Profil des Mädchens im trüben Licht der Spots über dem Waschbecken. Wie alt sie wohl ist, vierzehn oder so? Schmales Gesicht, helle Haut mit Sommersprossen. Die Lippen fest zusammengepresst, die Augen niedergeschlagen. Sie muss seinen Blick spüren. Röte steigt vom Hals her ihre Wangen hinauf, und immer noch schweigend streicht sie sich hektisch mit den Fingern ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren.

Überhaupt, diese Frisur: Wie Angela Merkel in jung und schlank – falls die überhaupt mal jung gewesen ist. Papis braves Mädchen, wahrscheinlich künftige Bürokauffrau und Versicherungs-Sachbearbeiterin bis zur Rente, wo sie, bis auf ein paar Falten im Gesicht, noch genauso aussehen wird. Vielleicht wird sie sogar immer noch die gleichen Klamotten tragen, Jeans und Strickpulli. Wenn sie weiter so auf ihren Lippen herumkaut, fangen die unter Garantie gleich an zu bluten.

Wie Papis braves Mädchen wohl heißt? Nichts Englisches oder Französisches, da ist er sich sicher. Um Himmels Willen nichts, was sie mit den Chantals, Celestines und Cindys dieser Welt auf eine Stufe hinabsetzen könnte. Wahrscheinlich was Altdeutsches, nobel klingendes wie Antonia oder Theresa. Oder skandinavisch. Ein Doppelname: Ronja-Marie oder Lisa-Sofie. Auf jeden Fall mindestens drei Silben, eher vier. Aber er wird es nie herausfinden, denn Madame hält es anscheinend für unter ihrer Würde, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Aber egal, sobald sie beide hier raus sind und er ihr den verdammten Hals umgedreht hat, ist er fertig mit ihr. Was geht ihn ihr Name an?

„He, schiebt ihr beiden da drinnen ’ne Nummer, oder was? Dann macht’s kurz, ich muss pinkeln!“

Oh, Shit! Sie sind gesehen worden, und so wie der Kerl da von außen an die Tür hämmert, wird er nicht ohne Weiteres aufgeben. Sie müssen hier raus!

Vorsichtig öffnet Ben die Tür und ignoriert die panischen Blicke des Mädchens. Hilft nix, Baby, da musst du durch. Hoffentlich haben sie Glück, und der Schaffner ist schon weit genug weg! Fehlanzeige. Der Typ in der dunkelblauen Uniform kommt gemächlich durch den Gang auf sie zugeschlendert, und an seinem schmierigen Grinsen kann Ben ganz genau erkennen, dass er Bescheid weiß.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Wieder reagiert Ben reflexartig, ohne nachzudenken: Als der Boden des Waggons plötzlich unter ihnen zu ruckeln beginnt und der Zug mit quietschenden Bremsen an einer Station zum Stehen kommt, hämmert er auf den Knopf der Tür direkt neben ihnen und zerrt das Mädchen mit sich. Die beiden stolpern hinaus auf den Bahnsteig und hasten blindlings weiter, während ihnen die Rufe des Kontrolleurs in den Ohren klingen.

Nur verschwommen nimmt Ben Treppenstufen wahr. Halbdunkel und ein muffiger Geruch schlagen ihm im Fußgänger-Tunnel entgegen. Keuchend kommt Ben am Fuß der Treppe zum Stehen, während über ihnen der Zug wieder anfährt. Glück gehabt! Auf dem Fliesenboden neben Ben ist die Reisetasche des Mädchens gelandet. Miss Merkel-Junior hält sich ein paar Treppenstufen über ihm am Geländer fest und starrt ihn schon wieder an wie ein Alien. Die könnte sich ruhig mal entschuldigen oder so, schließlich hat sie ihm die Fahrt vermasselt. Zum Dank hat er ihr auch noch sechzig Euro Strafe erspart. Was will die eigentlich?

„W-was ist mit deinem Fuß?“

Das wollte er eigentlich gerade verdrängen, aber sie hat es gemerkt. Ganz so beschränkt, wie er dachte, ist sie also doch nicht.

„Nichts“, quetscht er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„A-aber das sieht aus, als ob es wirklich wehtut. Soll ich dir Hilfe holen, oder so?“

„Ey, so’n Quatsch!“, faucht er. „Ich fahre mit dem nächsten Zug weiter und fertig.“

Weiter, wohin? Doch diese Frage erübrigt sich ohnehin, stellt er wenig später fest. Am Ende des Tunnels glotzt ihnen von der schmierigen Glasscheibe, hinter der sich normalerweise der Fahrplan verbirgt, stattdessen ein Comic-Maulwurf mit Bauarbeiter-Helm entgegen. Wohl so eine Art Maskottchen der Deutschen Bahn. „Aufgrund von Gleisbauarbeiten kommt es zu Ausfällen auf folgenden Streckenabschnitten …“ Kein Wunder, wenn die Leute in den Bahnhöfen randalieren, denkt Ben. Wie dieses blöde Vieh schon grinst! Wenn er jetzt ’nen Hammer zur Hand hätte oder irgendein anderes Werkzeug, würde er …

Hinter ihm steht mit hängenden Schultern das Mädchen.

„Kannst du nicht deine Eltern anrufen oder so, damit die dich abholen?“, schlägt Ben in beinahe versöhnlichem Ton vor. „Wenn sie mich kurz mitnehmen könnten …“

Sie nickt, schluckt und beginnt in ihrer Tasche zu wühlen.

„Wie … wie heißt du eigentlich?“, piepst sie und sieht dabei aus, als wollte sie gleich anfangen zu heulen. Was soll die Frage, wenn sie offenbar Angst hat, den Kopf abgerissen zu kriegen?

„Ben“, knurrt er. Eine einzige Silbe, kurz und schmerzlos. Ben, die olle Rennkartoffel, dessen eigene Mutter nicht mehr wusste, wer sie geschwängert hat. Bei den arabischen Jungs bedeutet Ben „der Sohn von“, und danach wird immer der Vorname des Vaters genannt. Nur er hat nichts für danach. „Und du?“

Na los, Miss Antonia-Sofie-Therese, zeig mir, wie du glänzen kannst.

„Marieke.“

Marieke? Ist das alles? Wurde sie nach ihrer Oma benannt, oder so? Immerhin drei Silben, aber sonst war Papi gar nicht kreativ. Es sei denn, sie hat irgendeinen coolen zweiten Vornamen, den sie ihm aber kaum verraten wird. Die Frage war wohl sowieso als Ablenkung gedacht, denn sie kramt immer noch in der Tasche nach ihrem Handy. Selbst im trüben Flackerlicht der Tunnelbeleuchtung kann Ben erkennen, wie ihre Hände dabei zittern. Oje, da hat aber jemand Dampf vor seinen Alten, denkt er beinahe mitleidig. Komm schon, Kleine, denk dir halt ’ne Ausrede aus. Ich deck dich, egal, was du denen erzählen willst. Sie werden dich schon nicht fressen.

Kapitel 3 – Geheimnisse

Marieke, 8. März

Die Zeit ist vergangen wie im Nebel, stumpf, farblos und kalt. Ein Tag, zwei Tage, eine Woche, neun Tage. Marieke hat aufgehört zu zählen. Ab und an brachen Sonnenstrahlen durch den Nebel: Lachen und Scherze auf dem Schulhof, Suleimas Hand warm auf ihrer und ihre tiefe, ein wenig heisere Stimme, als sie gemeinsam in den Schlachtruf ihrer Fußballmannschaft einstimmen. „Wer sind wir? – blau!“ Irgendjemand brüllt dazwischen: „Und zwar die Farbe, nicht der Zustand, ihr Spackos!“ – „Was wollen wir? – Den Sieg!“ Der Schlachtruf stammt von Suleima. Nachdem sich die Mädchen auf Aufforderung der Trainerin einen ganzen Nachmittag lang an mehr oder weniger sinnlosen Reimen versucht hatten, hatte Suleima sich schließlich durchgesetzt: „Warum nicht einfach: Sieg? Darum geht’s doch, oder nicht?“

Der Rasen ist grau und schlammig nach dem Winter. Das Stadion hat schon bessere Zeiten gesehen, aber wenn es gegen Mannschaften von außerhalb geht, lassen die Mädchen auf ihre Stadt nichts kommen. Durch den dünnen Stoff ihres Trikots und ihrer blauen Trainingsjacke spürt Marieke die kurze, intensive Wärme der ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, auch wenn die Luft noch so kalt ist, dass der Atem der Spielerinnen wie kleine Dampfwölkchen aus ihren Mündern aufsteigt. Marieke jedoch genießt den gleichmäßigen Rhythmus ihres Herzschlages und ihrer Atemzüge, fühlt sich warm und lebendig, geweckt von der Frühlingssonne.

„Khan – Schubert – Salomon!“, kommandiert die Trainerin. Salomon, das ist Marieke. In weißen Blockbuchstaben steht der Name unter der Spielernummer dreizehn auf dem Rücken von Trikot und Trainingsjacke. Die Nummer dreizehn wollte sonst niemand haben, auch wenn natürlich keiner zugegeben hatte, abergläubisch zu sein. Die Trainerin wiederum weigerte sich, die Nummer einfach auszulassen. Also bekam Marieke sie, ihr machte es nichts aus. Eigentlich mag sie die Nummer sogar. Sie passt zu Salomon.

„Gut so, Salomon, weiter!“

Marieke nimmt einen Ball von Tonia an, passt hinüber zu Suleima. Kreuzen und wieder annehmen, dann vor zu Lexi. Lauf, Lexi, lauf! Aber Lexi verliert den Ball, die gegnerischen Verteidigerinnen sind schneller. Jetzt nur niemanden durchlassen! Marieke findet ihren Platz wie von selbst, ohne nachzudenken. Im Grunde ist es auch ganz einfach: immer dort, wo Not am Mann ist, in der Mitte des Geschehens. Sie spürt das Spiel und weiß, was zu tun ist. Aber dann entscheidet sich alles im Bruchteil einer Sekunde. Marieke kann nicht sagen, wo ihr Fehler lag, wann sie nicht aufgepasst hat. Plötzlich hat eine der gegnerischen Verteidigerinnen den Ball nach vorn gepasst, an Marieke vorbei zur eigenen Stürmerin. Suleima rast auf die gegnerische Stürmerin zu, gleichzeitig kommt Jessi aus dem Tor, und die Stürmerin liegt am Boden. Als sie mühsam wieder auf die Beine kommt, ist sie blass, und an ihrer Nase klebt Blut. Auch die gegnerische Trainerin ist erschrocken und wirft böse Blicke in die Runde, während sie ihre Spielerin beim Verlassen des Spielfeldes stützt. Marieke fröstelt. Die Kälte kriecht ihr unters Trikot, durchdringt sie bis ins Blut, und auch der Nebel ist wieder da. Schweigend steht sie im Umkleideraum neben den anderen und lauscht der Strafpredigt ihrer Trainerin: „Unfaires Spiel … Foul … ich schäme mich für euch!“ Jessi und Suleima werfen einander hinter dem Rücken der Trainerin vielsagende Blicke zu und rollen mit den Augen, doch Marieke rührt keinen Muskel, und in ihrem Kopf ist Leere.

Später begleitet sie Suleima nach Hause und hilft noch wie so oft beim Auspacken der Waren in dem kleinen Lebensmittelgeschäft, das Suleimas Eltern gehört. Während sie Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig Colaflaschen, Konservendosen und Cornflakes-Packungen zureichen, lichtet sich der Nebel im Kopf.