Cover.jpg

Christiane Stenger
Antje Tiefenthal

DEINE
BESSERE
HÄLFTE

Warum wir Rechts- oder
Linkshänder sind und was das
für unser Leben bedeutet

Cover.jpg

EINLEITUNG

Wunderbar, Sie haben diese Seite aufgeschlagen. Wetten, dass das Ihre rechte Hand für Sie erledigt hat? Falls Sie jetzt überrascht sind, weil wir mit unserer Vermutung richtiggelegen haben: Wir sind keine Hellseher. Die Erklärung ist viel banaler – nämlich pure Statistik. Die Welt besteht nun mal zu knapp 90 Prozent aus Rechtshändern. Sollten Sie die ersten Seiten allerdings mit der Linken umgeblättert haben, gehören Sie wahrscheinlich zu der deutlich übersichtlicheren Gruppe der Linkshänder. Sie sind quasi das kleine gallische Dorf, das – mit links – den Zaubertrank rührt und – ebenfalls mit links – den Römern gallische Höflichkeit beibringt. Ob Sie das Buch jedoch am Ende auch mit derselben Hand schließen werden, mit der Sie es geöffnet haben, oder ob sich die Kräfteverhältnisse Ihrer »starken« und »schwachen« Seite am Ende verschoben haben, wird sich auf der abenteuerlichen Reise zeigen, auf die wir Sie in diesem Buch einladen wollen.

Denn die Zusammenhänge in Sachen Händigkeit sind wahrhaftig abenteuerlich. Unsere Hände werden zum Beispiel von der jeweils gegenüberliegenden Seite im Gehirn gesteuert. Das heißt: Die linke Hirnhälfte führt die rechte Hand mit dem Latte macchiato an die Lippen. Sie lenkt auch den rechten Daumen auf den Auslöseknopf, um ein Selfie für die Freunde zu knipsen. Bei Linkshändern steuert die rechte Hirnhälfte die linke Hand mit der Gabel zum Kuchenstück oder lotst Daumen, Zeige- und Mittelfinger zielsicher in die Tiefen der Chipstüte, um auch wirklich noch die allerletzten Krümel zu erwischen. Ganz gleich, ob rechts oder links: Unsere »Lieblingshand« wird also von unserer »besseren Hälfte« gesteuert. Warum wir überhaupt eine bessere Hälfte haben und was diese Tatsache für Auswirkungen auf Ihr eigenes Leben hat, wollen wir Ihnen auf den nächsten Seiten zeigen und erklären.

Als die Idee zu diesem Werk entstand, war uns die ganze Tragweite des Themas noch gar nicht bewusst. Wir begannen das Buch als gallische Dorfbewohnerin (Antje Tiefenthal – Linkshänderin) und römische Legionärin (Christiane Stenger – Rechtshänderin). Wie sich das während der Arbeit zu diesem Buch verändert hat, werden Sie Stück für Stück erfahren. Ihr Bild über das Thema Händigkeit wird am Ende, wie das Gemälde bei Loriots grandiosem Sketch, vermutlich etwas »schiefer« hängen. Und nicht nur bei Ihnen. Uns geht es genauso!

Falls Sie Kinder haben (oder welche planen), dann ist das Wissen in diesem Buch für Sie ein Muss, um die richtigen Entscheidungen für Ihre Nachkommen treffen zu können: Soll Ihr linkshändiges Kind im Cello-Unterricht den Bogen mit links führen oder auf rechts »umlernen«? Was ist, wenn es mit links gegen den Ball tritt, aber mit der Gabel in der rechten Hand das Gemüse verweigert?

Dabei beschäftigen sich nicht nur Menscheneltern mit der Frage, ob ihre Sprösslinge links- oder rechtshändig sind. Die Frage nach der besseren Hälfte taucht selbst in der Tierwelt auf: Das Walross ist Rechtsflosser. Gelbhaubenkakadu und Helmkakadu bevorzugen ihre linke Kralle. Und die Winkerkrabbe ist beidseitig, sie winkt mit links oder mit rechts.

Mit welcher Pfote das Känguru am liebsten boxt, erfahren Sie gleich im ersten Kapitel. Sie wollen wissen, mit welcher Hand Sie sich am besten gegen ein attackierendes Beuteltier wehren sollten? Die Antwort darauf finden Sie in unseren dazugehörigen Selbsttests. Zehn Fakten über links und rechts, die Sie bestimmt noch nicht wussten, folgen im zweiten Kapitel. Daraufhin verraten wir Ihnen die wichtigsten Informationen über das Gehirn, die Sie für unsere gemeinsame Reise durch das Thema Händigkeit benötigen. Im dritten Kapitel wärmen wir uns mit einem kleinen Rundflug über Brain City auf, bevor unsere nächste Etappe im vierten Kapitel mit »Typisch links« beginnt.

Wer »links« sagt, muss auch »rechts« sagen, deshalb lernen wir im fünften Kapitel all das kennen, was »Typisch rechts« ist. Im sechsten Kapitel kehren wir auf einer urigen Berghütte ein, machen einen Abstecher mit der Zeitmaschine und gehen ganz nebenbei der Frage nach, ob es eigentlich auch Beidhänder gibt. Bei einer guadn Brotzeit diskutiert es sich ja bekanntlich am besten. Weiter geht’s in Richtung Bergspitze.

Ihnen geht schon jetzt die Puste aus? Entweder Sie sind einfach untrainiert oder Sie gehören vielleicht zu den umgeschulten Linkshändern – für sie kann es unter Umständen schwieriger sein, den Gipfel zu erreichen. Warum das so ist, lesen Sie im siebten Kapitel.

Wer bis ganz nach oben will, muss schon im Tal eine ordentliche Strecke zurücklegen. Wir zeigen Ihnen darum im achten Kapitel, wie Sie die Händigkeit bereits im frühen Kindesalter erkennen und fördern können. Doch warum stumm und verbissen auf das Ziel zusteuern? Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen läuft es sich schließlich besser – deshalb machen wir im neunten Kapitel einen Exkurs in die Welt der Musik und schauen im zehnten Kapitel, was unser Thema Händigkeit mit Sport zu tun hat.

Knapp vor der Gipfelerstürmung machen wir im elften Kapitel noch ein kurzes Stretching und ein paar Auflockerungsübungen, bis wir dann im finalen Kapitel zwölf endlich am Ziel unserer Reise angekommen sind, den neuen Ausblick genießen und noch einmal zurückschauen auf den Weg, den wir gemeinsam gegangen sind. Zum Abschied zeigen wir Ihnen, wie Sie künftig von den Reiseerfahrungen profitieren.

Nicht nur für Sie wird dieses Buch ein Abenteuer sein, auch für uns war und ist es eine aufregende Expedition in unbekanntes Gebiet. Wir hoffen, Sie haben genauso viel Freude an dem Buch wie wir. Zurren Sie die Wanderschuhe fest. Mit links oder rechts – egal: Es geht los!

Ihre Christiane Stenger und Antje Tiefenthal

Für Opa Dieter

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Kapitel 1   Links und rechts – eine kleine Einführung

Die Hand Gottes

Linke Hand, rechte Hand, was denn nun?

Sind Sie Linkshänder, Rechtshänder oder beides?

Punkt, Punkt, Komma, Strich …

Kapitel 2   Zehn Fakten über links und rechts, die Sie bestimmt noch nicht wussten

Was stimmt, was nicht?

Fakt 1: Nichts Genaues weiß man nicht!

Fakt 2: gute Hände, schlechte Hände

Fakt 3: von Linkspfötern und Rechtsriechern

Fakt 4: Pferdekutschen vs. Paddelboote

Fakt 5: Psychotricks im Supermarkt

Fakt 6: Haste mal ’ne Kippe?

Fakt 7: das Drama des stotternden Königs

Fakt 8: Die Sache hat einen Haken

Fakt 9: Norden, Süden, Osten, Westen

Fakt 10: auf die linke Tour

Kapitel 3   Wie Hand und Hirn Hand in Hand zusammenarbeiten

Das Gehirn und die Hand

Händigkeit

Seitigkeit

Was ist Ihr Lieblingsfuß, Lieblingsohr und Lieblingsauge?

Zwei Welten in einer

Das Wunder Gehirn

Brain City

Zusammen spielt die Musik

Kapitel 4   »Typisch links«

Schlau, schlauer, Linkshänder?

Mythos oder Wahrheit?

Linkshänder sind die besseren Mathematiker …

… und sind angeblich kreativer als Rechtshänder

Status: Es ist kompliziert

Linkshänder lesen anders …

… und schreiben anders

Linkshänder haben ihren eigenen Feiertag

Berühmte Linkshänder

Kapitel 5   »Typisch Rechtshänder«

Was wissen Sie schon über Rechtshänder?

Es war einmal …

Warum gibt es so viele Rechtshänder?

Zwo, eins, Risiko!

Beim Knutschen gilt: rechts vor links

Flexibel in Rekordzeit

Alles nur Fake?

Kapitel 6   Der Mythos vom Beidhänder

Wie gut kennen Sie Beidhänder?

Eine Frage der Definition

Sind wir nicht alle ein bisschen beidhändig?

Neustart im Kopf

Kein Ende in Sicht

Doppelt hält besser

Kapitel 7   Das Chaos und seine Folgen

Dauerbaustelle Gehirn

Achtung, Verwechslungsgefahr!

Das Durcheinander im Kopf

Der Kampf mit den Buchstaben

Schönschrift oder Sauklaue?

Schritt für Schritt zurück

Kapitel 8   Händigkeit in der Kindheit und Schule

Zeigt her eure Hände

Stand der Dinge versus Wunschdenken – Theorie und Praxis

Die fantastische Entwicklung des kindlichen Gehirns

Wie Ihnen Ihr Kind seine Händigkeit verrät

Die In-Group

Schreiben und Lesen lernen mit der dominanten Hand

Linkshänder erkennen und fördern

Kapitel 9   Händigkeit und Musik

Wie Herr Losó seinen Flügel fand

Musiker und ihre Instrumente

Houston, is there a problem?

Vor- und Nachteile musikalischer Linkshänder

Wie halte ich nun mein Instrument?

Kapitel 10   Und was ist eigentlich mit Sport?

Die Leichtigkeit der Seitigkeit

Warum Linkshänder in manchen Sportarten Vorteile haben

Sollen wir jetzt alle mit links sporteln?

Was wir für unser Training lernen können

Sport hilft Hirn

Kapitel 11   Reine Übungssache

Übung macht den Meister

Die liegende Acht

Bei Müllers hat’s gebrannt!

Die Brezelherzen

Schreiben lernen für Linkshänder

Kapitel 12   Ausblick

Auf der Zielgeraden

Tipp 1: Keep calm and carry on

Tipp 2: Fragen Sie einen Experten

Tipp 3: Denken Sie über eine Rückschulung nach

Tipp 4: die Zukunft der Handschrift

Tipp 5: Was Hänschen nicht lernt …

Tipp 6: eins plus eins gleich eins

Dankeschön

Literaturverzeichnis

KAPITEL 4

»TYPISCH LINKS«

Schlau, schlauer, Linkshänder?

Linkshändern werden fantastische Eigenschaften nachgesagt. In manchen Büchern und Artikeln heißt es über sie, dass sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben, musikalisch oder schauspielerisch veranlagt sind, Farben mögen, ganzheitlich denken sowie Kreativität und Willensstärke zu ihren Persönlichkeitsmerkmalen zählen. Sie wollen das auch? Sie wären gern ein Linkshänder, dem diese positiven Eigenschaften nachgesagt werden? Wenn man der Ratgeberplattform wikiHow glauben darf, ist das eigentlich ganz einfach. »Übe jeden Tag, deine linke Hand zu benutzen«, heißt es dort. Oder auch: »Hebe mit deiner linken Hand Gewichte.« Und: »Trainiere das Schreiben mit der linken Hand nur zu Hause. Schreibe in der Schule oder auf der Arbeit wenigstens so lange mit deiner dominanten beziehungsweise rechten Hand, bis du ordentlich und schnell mit deiner linken schreiben kannst. Dies wird dir Zeit ersparen und verhindern, dass deine Arbeit unordentlich aussieht«.32

Wir müssen Sie enttäuschen. So werden Sie nicht zum Linkshänder. Die Ratschläge sind nicht nur falsch, sondern fast schon fahrlässig. Denn wer plötzlich seine dominante Hand links liegen lässt und aus einer Laune heraus die andere Hand für motorisch komplizierte Tätigkeiten nutzt, schult sich quasi selbst um. Ebenso wenig erfolgsversprechend ist der Tipp, je nach Situation mal die eine und mal die andere Hand zu benutzen. Das macht Sie nicht zum Linkshänder, sondern wahrscheinlich nur müde, unkonzentriert und gestresst.

Wie aber werden Sie nun zum Linkshänder, falls Sie schon immer einer werden wollten? Wenn Sie bislang gut aufgepasst haben, ahnen Sie es vielleicht bereits oder wissen es schon: gar nicht. Entweder Sie sind bereits Linkshänder – und wissen es vielleicht nur nicht – oder eben Rechtshänder und weder an der einen noch an der anderen Tatsache lässt sich etwas ändern. Schon im Bauch der Mutter bevorzugen Babys, wie schon kurz erwähnt, ab der 13. Schwangerschaftswoche einen bestimmten – vornehmlich den rechten – Daumen zum Nuckeln. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie auch später die jeweilige Hand bevorzugen.33 Kurz: Schon vor der Geburt ist so gut wie festgelegt, ob das ungeborene Kind später Linkshänder oder Rechtshänder wird.

Mythos oder Wahrheit?

Obwohl seit Jahrzehnten das Gegenteil bewiesen ist, hält sich der Irrglaube, dass wir an unserer Händigkeit etwas ausrichten können, hartnäckig – ebenso wie jede Menge weiterer Klischees, Mythen und Vorurteile über Linkshänder. Zu den besonders beharrlichen Theorien zählt die, dass Linkshänder eine geringere Lebenserwartung als Rechtshänder haben. Der Psychologe Stanley Coren, der seine wissenschaftliche Karriere in den USA startete und danach 30 Jahre lang bis 2007 an der kanadischen University of British Columbia lehrte und forschte, stellte in den Siebzigerjahren fest, dass der Anteil an Linkshändern immer weiter abnimmt, je älter sie werden. Seine Schlussfolgerung: Linkshänder sterben früher. Um seine Theorie zu untermauern, recherchierte er weiter, sammelte selbst Daten und kam auf ein gruseliges Ergebnis: Rechtshänder leben neun Jahre länger als Linkshänder.34 Zum Vergleich: Greift ein Mann zehn Mal am Tag zur Zigarette, verliert er etwa neun Jahre an Lebenserwartung. Glaubt man Stanley Coren, ist es gesünder, viel Alkohol zu konsumieren, an Fettleibigkeit zu leiden oder jede Menge rotes Fleisch zu essen, als Linkshänder zu sein. Doch der Professor für Psychologie machte einen entscheidenden Denkfehler: Er berücksichtigte nicht die Tatsache, dass unter den Rechtshändern, die angeblich länger lebten, auch viele umgeschulte Linkshänder waren – damals war das Umschulen der linken auf die rechte Hand noch selbstverständlich.

Später widerlegten gleich mehrere Wissenschaftler Stanley Corens Theorie, wie zum Beispiel die britischen Forscher, die die Daten von 6 000 Menschen im Alter zwischen 15 und 80 Jahren erfassten und neun Jahre später überprüften, wer von den einstigen Probanden noch lebte. Sie konnten im Hinblick auf die Lebensdauer keine nennenswerten Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern ausmachen.35 Das Leben von Linkshändern ist also nicht automatisch kürzer als das von Rechtshändern. Fun Fact: Stanley Coren gab seine Forschungen über Linkshänder bald auf – und beschäftigte sich im weiteren Verlauf seiner akademischen Karriere lieber mit der Intelligenz von Hunden. Das brachte ihm mehr Erfolg ein als seine Untersuchungen über Händigkeit; mit seinem IQ-Test für Vierbeiner erregte er weltweit Aufmerksamkeit.

Neben der angeblich niedrigeren Lebenserwartung heißt es über Linkshänder oft, dass sie schneller und häufiger erkranken als der Rest der Menschheit. Dabei geht es nicht um einen einfachen Schnupfen, sondern um weitaus ernstere Leiden: Der »Gegensatz zwischen Genie und Krankheit liegt bei Linkshändern eng beisammen. Aus ihren Reihen kommen übermäßig viele Autisten, Schizophrene, Bettnässer und Stotterer«, schrieb 1989 das Magazin Der Spiegel. Und weiter: »Jahrzehntelange Beobachtungen brachten ans Licht: Linkshänder werden eher zuckerkrank, leiden häufiger an Schlafstörungen, tendieren zu Trunksucht und verspäteter Pubertät.«36 Klar, das ist ein paar Jahrzehnte her und inzwischen haben zahlreiche Folgestudien die Untersuchungen, auf die sich der Spiegel-Artikel damals bezog, widerlegt, doch einmal in die Welt gesetzt, halten sich solche Halbwahrheiten erstaunlich lange. Um endgültig damit aufzuräumen: Linkshändigkeit ist kein Gendefekt und keine Krankheit.

Für die Wissenschaftler um Psychiater Stefan Gutwinski von der Charité Berlin ist »Linkshändigkeit im Regelfall eine Normvariante, eine Spielart der Natur« – also eine Abweichung vom Durchschnitt, so wie es auch bei sexueller Vorliebe, Haar- oder Augenfarbe unterschiedliche Ausprägungen gibt. Für das Forscherteam sind Links- und Rechtshändigkeit keine Anzeichen einer erhöhten Anfälligkeit für spezielle Erkrankungen. Die dominante Hand sei nur im Einzelfall Ausdruck von zerebralen Entwicklungsstörungen und könne dann mit bestimmten Krankheiten verbunden sein. Linkshänder sind also so normal und gesund wie Rechtshänder.37

Daran wurde lange gezweifelt – sind Linkshänder doch seit jeher in der Unterzahl und fielen in ihrem »Anderssein« immer wieder auf, wurden spöttisch beäugt, ausgeschlossen oder verfolgt. Die Hexenjagd im Mittelalter ist nur ein Beleg dafür. Da überrascht es also auch wenig, dass im Laufe der Zeit Linkshändigkeit immer wieder mit Gewalt und Verbrechen in Verbindung gebracht worden ist. So wurden auch zwei der größten Gangster der Geschichte der Kriminalität – Billy the Kid und Jack the Ripper – vorschnell als Linkshänder »abgestempelt«. Über Billy the Kid, den Revolverhelden aus dem Wilden Westen, ist nur wenig bekannt. Wo und wann er geboren wurde, ist nicht eindeutig geklärt – ebenso wenig, ob er tatsächlich aus einem Hinterhalt heraus erschossen wurde oder doch ungestraft davonkam. Viele Historiker und Biografen, die sich mit Billy the Kid befassten, bezeichneten ihn als Ambidexter, als Beidhänder – vielleicht deshalb, weil er mit zwei Revolvern gleichzeitig geschossen haben soll. Ein rares Foto des Mannes, von dem es nur wenig hieb- und stichfeste historische Belege gibt, zeigt ihn allerdings mit dem Gewehr in der linken Hand. Die Sache scheint auf der Hand zu liegen: Die Legende ist Linkshänder! Bis das Original der Fotografie auftauchte: Das belichtete Eisenblech, eine sogenannte Ferrotypie, bewies eindeutig, dass er die Schusswaffe auf der rechten Seite hielt, alles andere waren nur Papierabdrucke, die natürlich seitenverkehrt sind. Das ist selbstverständlich immer noch kein eindeutiges Indiz dafür, ob Billy the Kid nun rechts- oder vielleicht trotzdem linkshändig war. Nur eines wissen wir sicher: Billy the Kid ist nicht der Beweis dafür, dass Linkshänder krimineller veranlagt sind als andere, ebenso wenig wie Jack the Ripper.

Über den Serienmörder, der im ausgehenden 19. Jahrhundert in Londons Stadtteil East End Angst und Schrecken verbreitete, schrieb der Chirurg Thomas Bond, der die Leiche eines der Opfer untersuchte und die weiteren Fallakten studierte: »Alle fünf Morde wurden ohne Zweifel von derselben Person begangen. In den ersten vier Fällen schienen die Kehlen von links nach rechts durchschnitten worden zu sein. Im letzten Fall ist es wegen der tiefgreifenden Verstümmelungen unmöglich, eine Aussage darüber zu treffen, in welche Richtung der tödliche Schnitt geführt wurde (…).«38 Auch der mit dem Obduktionsbericht beauftragte Arzt Henry Llewellyn erkannte, dass die Messerstiche von links nach rechts führten. Er schlussfolgerte daraus, dass der Mörder eventuell linkshändig sei. Ein Irrtum! Die Bewegungsrichtung passt eher auf einen Rechtshänder als auf einen Linkshänder, sicher belegen lässt sich beides nicht. Einmal in Umlauf gebracht, lassen sich Gerüchte nicht mehr so leicht aus dem kollektiven Gedächtnis radieren. So schrieb zum Beispiel wieder der Spiegel vor 40 Jahren: »(…) tödlich sicher führte Jack the Ripper mit links das Mordmesser.«39 Und 1999, also über 100 Jahre nach der Mordserie, postulierte das Hamburger Abendblatt: »Alles, was von Jack the Ripper als sicher gelten kann, ist die Tatsache, dass er Linkshänder war!«40

Doch zum Glück gibt es sie auch, die guten Geschichten über Linkshänder. »Es war eines der ersten Dinge, die mich in Deutschland verblüfften: Neben der erstaunlichen Menge von Apotheken und Frisörsalons gab es unbegreiflich viele Linkshänder, und zwar in meiner Generation. Unter meinen Freunden, die mit mir in der sogenannten Sowjetunion aufwuchsen, kannte ich keinen einzigen. Und hier: Dutzende, Hunderte, einer interessanter als der andere, schöner, attraktiver, sie waren alle sexy, die Linkshänder. Diese verqueren Bewegungen, diese ungeschickte Anmut! Ich habe sie beneidet, als gehörten sie zu den Auserwählten, wie die Engel im ‚Himmel über Berlin‘.«41 So schön schreibt Schriftstellerin Katja Petrowskaja in der FAZ-Kolumne Bild der Woche über Linkshänder. Zugegeben, wir haben uns nach diesen Worten selbst gleich ein bisschen in die linkshändigen Tollpatsche da draußen verknallt – und ganz allein sind wir mit diesen Emotionen nicht. Eine gute Freundin hielt als Single am liebsten nach Linkshändern Ausschau, die seien schließlich kreativer, musischer, schlauer, cooler, irgendwie besonders. Wirklich Erfolg hatte sie mit ihrem Dating-Prinzip nicht: Inzwischen ist sie mit einem Rechtshänder verheiratet.

Doch was davon stimmt wirklich? Sind Linkshänder tatsächlich sexyer? Oder intelligenter? Stimmt es, dass es unter den Linkshändern besonders viele mit einer kreativen Veranlagung gibt? Und ist es richtig, dass so viele von ihnen ungeschickt und tollpatschig sind?

Eins nach dem anderen! Zuerst einmal in aller Kürze: Jein. So pauschal können wir diese Eigenschaften den Linkshändern nicht zuschreiben. Wer im vorherigen Kapitel gut aufgepasst hat, weiß bereits, dass zwar die rechte Gehirnhälfte als die kreativere von beiden gilt und dass die linke Hemisphäre eine etwas stärkere Tendenz zu logischem und analytischem Denken hat. Das sagt aber per se nichts über das Wesen von Links- und auch nicht von Rechtshändern aus. Auch die anfangs genannten Merkmale eines Linkshänders wie Sozialkompetenz, Musikalität, Willensstärke und eine Vorliebe für Farben kann man ganz gewiss nicht nur Linkshändern zusprechen. Genauso wenig wie die angeblichen Stärken der Rechtshänder, die bei Zahlen, Zeit, Ordnung, Logik, Erzählen und im analytischen Denken liegen sollen. Diese Vorurteile beruhen wahrscheinlich noch auf dem Modell, das das Gehirn in zwei ganz unterschiedliche Gehirnhälften mit ganz eigenen Aufgaben einteilte. Dann gibt es ja auch noch das Vorurteil, dass so viele Genies, wie zum Beispiel Isaac Newton und Marie Curie, Linkshänder gewesen sein sollen. Da kann man schon mal durcheinanderkommen. Wer kann denn nun mit Zahlen besser? Wer ist kreativer? Schauen wir uns ein paar Vorurteile mal genauer an.

Linkshänder sind die besseren Mathematiker …

Die Mythen über die positiven Vorzüge der Linkshänder halten sich ebenso beharrlich wie die schaurigen Ammenmärchen, dass Linkshänder früher sterben oder gewalttätiger sind. Nun mal endlich Butter bei die Fische: Was ist wahr? Sind Linkshänder in der Tat genialer als der Rest der Menschheit? Eine aktuelle Studie von 2017 liefert zumindest eine Teilantwort – und Rechtshänder müssen jetzt ganz tapfer sein: Das internationale Forscherteam hat herausgefunden, dass Linkshänder in Mathe tendenziell begabter sind als Rechtshänder. Dafür haben die Wissenschaftler der Universitäten in Liverpool, Mailand und Maastricht über 2300 italienische Schüler im Alter von sechs bis 17 Jahren verschiedene Matheaufgaben lösen lassen.42

Oft fragen die Forscher bei vergleichbaren Studien nur danach, ob ihre Probanden Links- oder Rechtshänder sind. Das hat den Nachteil, dass zum Beispiel umgeschulte Linkshänder nicht erfasst und auch gar nicht erst erkannt werden. Diesmal allerdings untersuchten die Wissenschaftler die Händigkeit gründlicher und fragten danach, welche Tätigkeiten die Schüler mit welcher Hand erledigen. Statt einer Dichotomie – einer Gliederung nach zwei Gesichtspunkten – entstand auf diese Weise eine Skala: von konsistenten, also besonders stabilen Linkshändern, bis zu extremen Rechtshändern, die alles mit der rechten Hand erledigen. Dazwischen liegt eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Händigkeitstypen – manche sind eben weniger linkshändig oder rechtshändig als andere.

Diese Methode ermöglichte den Forschern eine genauere Differenzierung zwischen Händigkeit, Alter, Schwierigkeitsgrad und Geschlecht. Das Ergebnis: Bei leichten Tests erzielten Links- und Rechtshänder gleich gute Ergebnisse. Wurden die Aufgaben jedoch komplexer und anspruchsvoller, waren die Linkshänder im Vorteil. Vor allem männliche Linkshänder stachen mit besonders guten Ergebnissen heraus. Diejenigen Schüler, die (fast) immer ihre rechte Hand benutzen, erzielten nur unterdurchschnittliche Ergebnisse.

Ein kleiner Trost für alle Rechtshänder: Kinder, die (fast) alles mit links machen, schnitten auch nicht besser ab als ihre Mitschüler. Die Forscher können die Ergebnisse also nicht linear interpretieren. Sprich: Eine simple Deutung à la »Je rechtshändiger, desto schlechter, und je linkshändiger, desto besser in Mathematik« wäre schlicht falsch. »Der bloße Vergleich zwischen Rechts- und Linkshändigkeit ist ungenügend, um zu beschreiben, wie die Händigkeit und die Mathefähigkeiten miteinander interagieren«,43 beschwichtigen die Wissenschaftler.

Etliche Forscher haben bereits vor Jahrzehnten die Leistungen von Rechts- und Linkshändern verglichen und sind zu ähnlichen Resultaten gekommen. Sie konnten alle keine entscheidenden Unterschiede zwischen den zwei Gruppen nachweisen. Auch Chris McManus, Professor für Psychologie an dem University College London und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Händigkeit, kam zu einem vergleichbaren Schluss, als er den IQ und die Händigkeit von 11 000 britischen Schulkindern miteinander verglich. Der durchschnittliche Intelligenzquotient war auf beiden Seiten identisch. Bis McManus einen genaueren Blick auf die Verteilung warf: Der Anteil an Linkshändern war sowohl unter den Hochbegabten als auch unter den besonders Leistungsschwachen höher als unter den normal begabten Kindern.44 Wenn man sich also allein auf die Studie von McManus beruft, heißt das: Einige Linkshänder sind zwar deutlich intelligenter – aber einige Linkshänder liegen eben auch signifikant unter dem Durchschnitt.

… und sind angeblich kreativer als Rechtshänder

Neben der vermeintlich höheren Intelligenz wird Linkshändern oft ein größeres kreatives Potenzial zugeschrieben. Ausnahmetalente wie Johann Wolfgang Goethe, Leonardo da Vinci oder Pablo Picasso müssen als Beleg für die schmeichelhafte These ebenso herhalten wie die weit verbreitete Annahme, dass es besonders viele linkshändige Musiker, Künstler, Schauspieler und Schriftsteller gibt. Doch weder das eine noch das andere ist ausreichend bewiesen. Oft sind die Listen berühmter Kreativer, die ihre linke Hand bevorzugen, geradewegs falsch. Unter die echten Linkshänder mischen sich solche, die nur für welche gehalten werden, aber gar keine sind, wie etwa Picasso. Selbst über die Händigkeit von da Vinci wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert – manche Experten zweifeln daran, ob er wirklich ein geborener Linkshänder war oder seine Werke ausschließlich mit der linken Hand gemalt hat.45

Auch wissenschaftliche Analysen können den vermeintlichen Vorzug der Linkshändigkeit nicht bezeugen. Unbestritten ist, dass kreativ veranlagte Menschen nicht nur in einer Bahn, also geradlinig, denken, sondern mehrgleisig unterwegs sind. Die Annahme, dass solch kreative Straßen allein in Right Town von Brain City, also in der rechten Hemisphäre, verortet sind, hat die Wissenschaft inzwischen widerlegt. Die Forscher um Lisa Aziz-Adeh von der University of California zeigen in ihrer Untersuchung, dass beide Hirnhälften gebraucht werden, um eine kreative Aufgabe zu lösen.46

Barbara Sattler sieht dennoch einen kleinen Unterschied zwischen Links- und Rechtshändern, wie sie in einem Interview erklärt: »Angenommen, sie haben etwa gleiche Voraussetzungen, dann hätten es Linkshänder durch die Dominanz der rechten Gehirnhälfte etwas leichter, kreativ zu sein.« Die Psychotherapeutin leitet in München seit 30 Jahren eine Beratungsstelle für Linkshänder. Im Laufe der Jahrzehnte hat sie bei Linkshändern häufig folgende Verhaltensweisen und typische Charaktereigenschaften beobachtet. Dazu gehören unter anderem:

strategisches Denken

Neigung zum autonomen Subjektivismus und Einzelgängertum

Bedürfnis, oft »mit sich und den eigenen Träumen allein zu sein«

Bevorzugung des offenen Führungsstils

Vertrauen in die Kraft des persönlichen Beispiels – Vorbildhaftigkeit

erhöhtes Sicherheitsbedürfnis

Neigung zu Sturheit

Ideenreichtum, Assoziationsfähigkeit, Neigung zum Dogmatismus

Kritizismus

in der Regel nachtragend

durch Angst vor Manipulation manipulierbar47

Finden Sie sich in den Erfahrungswerten wieder? Gleichen Sie einmal ab – in welchen Punkten erkennen Sie sich wieder? In welchen nicht? Wir lassen die Liste mal so im Raum stehen. Wir persönlich finden es schwierig, allgemeine Charaktereigenschaften mit der Händigkeit in Verbindung zu bringen.

Nicht in der Theorie bewiesen, aber in der Praxis häufig erlebt ist eine besondere Form des Linkshänders: der Grübler-Typ. Viele Linkshänder haben sich so gut an die rechtsdominante Gesellschaft angepasst, dass sie viele alltägliche Aufgaben eigentlich auch mit rechts erledigen können. Andere wiederum sind gar keine strikten Linkshänder und erledigen eh die eine oder andere Tätigkeit besser mit rechts. Glück haben diejenigen, die damit souverän umgehen und zielstrebig in jeder Situation die passende Hand parat haben. In seiner Arbeit als Feinmotoriktherapeut hat Hauke Stehn regelmäßig mit Linkshändern zu tun, denen das nicht so leicht gelingt. Er hat sich schon früh auf die Diagnostik von schreibauffälligen rechts- und linkshändigen Kindern spezialisiert; inzwischen arbeiten viele Therapeuten nach der von ihm entwickelten Methode. Linkshänder, die in ihrer Spontanmotorik gehemmt sind, nennt er »Grübler«. »Das heißt, er reagiert zögerlicher und langsamer als andere, bevor er eine Bewegung ausführt«, so Stehn. Die Grübler unter den Linkshändern müssen über Themen nachdenken, über die die meisten Rechtshänder in ihrem Leben noch nicht einen Gedanken verschwendet haben: Schneidet das Brotmesser, das immer nur auf der rechten Seite geschliffen ist, besser in der linken oder der rechten Hand? Funktioniert der für Rechtshänder entwickelte Dosenöffner irgendwie auch mit links oder ist das völlig unmöglich? Von welcher Seite trifft die Bowlingkugel besser die Pins am Ende der Bahn? Dreht sich die Schraube gerade raus oder in die Mutter? Kleckert es weniger, wenn der Pfannkuchenteig von links oder von rechts in die Pfanne gefüllt wird? Fragen über Fragen, auf die es erst eine Antwort gibt, wenn der Grübler in aller Ruhe darüber nachgedacht oder am besten beide Varianten ausprobiert hat.48

Status: Es ist kompliziert

Kein Wunder, dass viele Linkshänder mit Grübeln beschäftigt sind. Schließlich müssen sie in einer Welt zurechtkommen, die nicht für sie gemacht ist. Oft klemmt, drückt, schmiert oder kleckert etwas. Simple Alltagsgegenstände wie handelsübliche Spiralblöcke fordern den Linkshänder heraus: Wohin mit der Hand? Auf die Spiralen? Oder irgendwie den Arm um das Blatt winden? Denn wenn ein Linkshänder auf der ersten rechten Seite mit dem Schreiben beginnt, ist die Spirale im Weg. Logisch – natürlich könnten sie den Block auch einfach umdrehen, aber dann ist gleichzeitig das Deckblatt auf der Rückseite und der Karton oben. Das wäre vielleicht noch akzeptabel, aber die Löcher zum Heften wären dann auch auf der falschen Seite. Gut wäre ein Linkshänderblock mit rechtsseitiger Bindung. Noch besser: ein Block mit einer Spirale oben und nicht links oder rechts an den Seiten. So können Links- und Rechtshänder jederzeit bequem schreiben, ohne dass eine Drahtspirale nervt. Auch Scheren schneiden nur in einer Hand richtig gut – vornehmlich der rechten. Wer schon einmal versucht hat, mit einer normalen (Rechtshänder-)Schere in der linken Hand sauber und schön zu schneiden, weiß, wovon wir reden. Antje kennt das aus eigener Erfahrung:

Im Werkunterricht habe ich früher alles gegeben und trotzdem hat es immer nur für eine Drei gereicht. Dabei konnte ich mit links akkurat schreiben und wunderschön malen. Warum gelang mir das beim Werken nicht? Was ich als kleine Grundschülerin nicht wusste: Die Werkzeuge waren für Rechtshänder ausgelegt – sie funktionierten einfach nicht oder nur schlecht, wenn man sie in der linken Hand hielt.

Tröstend wirkt sich der Umstand aus, dass wenigstens die Computertastatur Linkshänder-freundlich gestaltet ist. Christopher Latham Scholes, der »Vater der Schreibmaschinen«, erfand 1874 die noch heute übliche QWERT-Tastatur. Zuvor waren die Tasten in alphabetischer Reihenfolge belegt – die neue Anordnung sollte verhindern, dass die Schreibmaschine-Typen verhaken, wenn Rechtshänder zu schnell tippen. Deshalb legte Scholes häufig zusammen auftretende Buchstaben auf möglichst entfernt voneinander angeordnete Hebel. Davon profitieren fast 150 Jahre später die Linkshänder: Die Schreibmaschine ist passé, die Tasten können nicht mehr verklemmen, aber die häufig verwendeten Buchstaben wie »a«, »e«, »r«, »s« und »t« liegen für sie trotzdem bequem dicht beieinander auf der linken Seite der Tastatur. Das lässt sie sogar etwas schneller tippen als die rechtshändigen Kollegen. Eventuell problematisch wird es für Linkshänder erst dann, wenn sie zügig und am besten ohne Hinschauen viele Ziffern tippen müssen – das Zahlenfeld liegt auf einer normalen PC-Tastatur auf der rechten Seite. Skeptiker mögen jetzt ganz richtig anmerken, dass auf jeder Tastatur auch oben über den Buchstaben ein Zahlenfeld verläuft. Doch nur der Rechtshänder kann auf den rechts angeordneten Zahlentasten sehr schnell tippen. Schon die Wissenschaftshistorikerin Vilma Fritsch meinte vor einem halben Jahrhundert ganz passend: »Es ist nicht praktisch, Linkshänder zu sein.«49 Recht hat sie. Denn viel hat sich daran bis heute nicht geändert.

Mir kommen da zum Beispiel unsere Frühstückstassen in den Sinn – vier große Becher, jeder in einer anderen Farbe mit einem anderen fröhlichen Gesicht. Zwischen meiner Schwester und mir brach ein kleiner Kampf aus, wer welche Tasse bekommt. Ich bekam am Ende die grüne Tasse mit dem frechen Smiley-Gesicht und war zufrieden. Das Problem: Stellte ich die Tasse an meine linke Seite mit dem Griff nach links, zwinkerte sie meine mir gegenübersitzende Schwester an und nicht mich. Den Spaß wollte ich ihr nicht gönnen. Meine Tasse sollte bitte nur mich und niemanden sonst anlachen. Also stellte ich die Tasse auf die rechte Seite und trank fortan wie ein Rechtshänder meinen Tee – so ist es bis heute geblieben. Inzwischen kann ich beides ganz gut – ich stoße gern mit links an, mit rechts ist aber auch okay. Das Klecker-Risiko ist übrigens bis heute auf beiden Seiten gleich hoch.

Der Grat zwischen charmant-tollpatschig und peinlich-unbeholfen ist für einige Linkshänder schmal. An einem Tag, an dem alles irgendwie schnell gehen musste und selbstverständlich trotzdem nichts klappte, hetzte ich nach meinen Erledigungen nach Hause, zog den Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn in die Tür und drehte. Nichts passierte. Ich atmete tief durch, probierte es noch einmal. Wieder nichts. Die Tür ließ sich partout nicht öffnen. Mist. Ich war genervt, jede Minute, mit der ich mich damit befasste, war eine Minute zu viel. Als mein Mann extra aus dem Büro kam, nahm er mir den Schlüssel aus der Hand, drehte … und schloss völlig gelassen die Tür auf! Wie war das möglich? Ich hatte nicht aufgeschlossen, sondern abgeschlossen. So einfach war das. Typisch ich.

Für Linkshänder drehen sich Korkenzieher und Schrauben schlichtweg in die falsche Richtung. Was das heißt, erklärt besonders anschaulich das Prinzip Schraubverschluss: Dreht ein Linkshänder den Deckel der Zahnpasta-Tube auf die für ihn typische Weise – nämlich nach links –, schraubt er die Tube auf. Dreht dagegen ein Rechtshänder in der für ihn charakteristischen Bewegung nach rechts, schraubt er den Deckel zu. Das ist in diesem Fall natürlich völlig unproblematisch, erklärt aber, warum es in anderen Situationen schnell zu einem Missverständnis kommen kann. Doch zum Glück hat das Universum ein Herz für Linkshänder: Die Erde dreht sich von einem Punkt über dem Nordpol aus gesehen nach links. Es kommt also, wie so oft im Leben, immer auf die Perspektive an!

Linkshänder lesen anders …

… und zwar gleich in dreifacher Hinsicht. Zum einen blättern sie anders als Rechtshänder – logisch, schließlich halten sie in der Regel das Buch mit der rechten und schlagen die Seite mit der linken Hand um. Das klingt nach einem kleinen, unwesentlichen Unterschied, in der Praxis heißt das aber: Linkshänder fangen am liebsten von hinten an zu lesen. Schließlich ist das Blättern für sie in die entgegengesetzte Richtung bequemer.

Der Zusammenhang zwischen dieser Tatsache und meinem persönlichen Leseverhalten ist mir erst bei der Recherche zu diesem Buch klar geworden: Ich fange Magazine grundsätzlich von hinten zu lesen an, mir sind die Kolumnen und Vorschauen im hinteren Teil so sehr vertraut wie anderen das Editorial und Inhaltsverzeichnis. Und selbstverständlich habe ich mich früher, in Zeiten, als es noch keine App, kein Wikipedia und kein Google gab, auch rückwärts durch Lexika, Duden, Telefonbücher und Register gearbeitet. Das Alphabet in umgekehrter Reihenfolge abzuspulen war für mich als ABC-Schützin eine ganz schöne Herausforderung. Klar, ich hätte auch andersrum blättern können, aber auf die Idee bin ich als Siebenjährige gar nicht erst gekommen. Ich bin kein Einzelfall, mein Leseverhalten ist typisch Linkshänder.