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Am nächsten Morgen startet der Zug um 8 Uhr in Richtung Trondheim. Der Himmel ist lange rosa. Dann lange „blausa“, ein Wort, das Tucholsky erfand, als er über das schwedische Schloss Gripsholm schrieb. Denn die Sonne geht im Norden langsam auf und unter (anders in Äquatornähe, wo sie abends um sechs Uhr ins Meer plumpst und sofortige Dunkelheit nach sich zieht). Das führt zu langen Dämmerungen in zarten Farben.

Eine Frau mit Teleskop-Wanderstöcken steigt zu, sie schraubt die Stöcke zusammen und verstaut sie in einem Rucksack, hängt ihre dicke hellblaue Daunenjacke an den Haken. Sie hat kurze graue Locken, zart wie Eiderentenkükenbauchflaum. Sie packt ihr Strickzeug aus, mehrere blaue und rote Knäuel, und werkelt am Ärmel eines Norwegerpullovers – wirklich und tatsächlich strickt sie ein Norwegermuster.

Die Zugstrecke führt übers norwegische Inland, Richtung Küste. Meine Gedanken springen zu einer Reise mit der berühmten Bergenbahn, die die Hardangervidda, eine unwirtliche und deshalb schöne Gegend, durchquert.

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Ich hatte einmal Gelegenheit, über diese Region mit der berühmtesten Outdoor-Winter-Freundin Norwegens zu plaudern: mit Königin Sonja. Es war zugegebenermaßen ein sehr kurzes Gespräch. In Oslo wurde ein norwegischer Tourismus-Preis verliehen, dazu wurden ausgewählte Journalisten aus Europa eingeladen.

Meine Einladung fußte auf meiner langjährigen Norwegen-Publikations-Expertise, oder genauer gesagt: auf Losglück. Also stand ich da im Nobel-Friedenszentrum und war ziemlich aufgeregt. Einleitend sollte es einen Foto-Vortrag geben über Friluftsliv, wie die Norweger alles nennen, was vor der Haustüre stattfindet. Da sich dort auch die Königin gerne aufhält, würde Ihre Majestät dero Bilder zeigen und von den Reisen erzählen.

Sonja von Norwegen, eine zierlichen Dame mit ondulierten hellbraunen Haaren, ist eine Bürgerliche, 1937 in Oslo geboren. 1959 lernte sie Harald kennen, der war damals Kronprinz von Norwegen – und sein Vater gegen die Heirat. Neun Jahre dauerte es, bis der alte Herr einknickte. Sie war die erste Königin überhaupt, die den Boden der Antarktis betreten hat; in Schnee und Eis fühlt sie sich wohl, der Winter sei „ihr Favorit“ sagte sie, während sie ihre Fotos von Ski-Ausflügen zeigt. Im Plauderton führt die Königin mit ihren Bildern durchs Land, zu Aufnahmen der Landschaft um Lillehamer erklingt Griegs Peer-Gynt-Suite, und ein Foto, auf dem sie von oben bis unten eingemummelt ist, kommentiert sie lakonisch: „Das Wetter kann unangenehm sein.“

Zusammen mit Freundinnen trifft sich Sonja von Norwegen nicht zum Bridge, sondern zum Skilaufen, sogar in der Stadt. Da staksen die Damen in Oslo am königlichen Palast bergauf, im Vigeland Skulpturenpark postieren sie sich vor dem Sinnataggen, dem zornigen kleinen Nackedei. Ein „unglaublicher Spielplatz“ sei die Natur, wir sehen sogar die gestürzte Monarchin, lachend liegt sie im Schnee. Als ihr liebstes Ski-Abenteuer bezeichnet sie eine Tour im Hardangerfjord, vom Meer auf den Berg hinauf.

Der Vortrag ist zu Ende, der Preis überreicht. Die Königin und ihr Hofstaat verlassen den Saal, alle stehen auf. Dann geht es nach nebenan, eine paar handverlesene Journalisten – mitsamt mir – dürfen nun mit Ihrer Majestät plaudern. Alle warten geduldig, ich wische mir die Handinnenflächen trocken am schwarzen Kleid.

„Keine hohen Absätze, kein auffälliger Schmuck, nicht zu viel Haut“, hatte es im Vorfeld geheißen. Jetzt nahen Männer mit Knopf im Ohr, und mit routiniertem Smalltalk arbeitet die Königin die Presse ab. Sie rückt immer näher und dann fühle ich die königliche Hand in meiner.

Wohin ich denn meine Leser schicken würde, fragt sie. „Im Winter auf die Hardangervidda.“ „Oh, der Schnee“, sagt Ihre Majestät Königin Sonja von Norwegen, „ich kann es kaum erwarten, bis der Winter richtig losgeht.“ Wir stehen uns halt doch nahe, die Königin und ich.

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Bei mir hatte es allerdings eine Weile gedauert, bis ich das erste Mal über die Hardangervidda ziehen konnte. Mein erster Anlauf war im Frühling, ich wollte von Hütte zu Hütte wandern. Ich war Studentin in München, es gab das Internet noch nicht und Norwegen war so exotisch wie Thailand. Ich sammelte an Informationen, was ich bekommen konnte, und flog los. Es war Anfang Mai und beim Landeanflug am nächstgelegenen Flughafen sah ich mit Verwunderung linkerhand eine riesige weiße Fläche: Die Hardangervidda, noch tief verschneit. Darauf waren ich und meine zusammengeliehene Wanderausrüstung nicht eingestellt, ich verbrachte also eine Woche in einer zugegeben zauberhaften Hütte an einem See.

Erst Jahre später sollte ich die tief verschneite Hardangervidda wirklich erkunden, diesmal besser ausgerüstet und auf Telemarkski. Diese Ski sind breiter als Langlaufski, ihre Fersenbindung ist lose, so dass man den Fuß anheben und damit auch außerhalb von Loipen querfeldein laufen kann.

Um den größten Nationalpark Norwegens zu durchqueren, braucht man etwa eine Woche. Man geht von Hütte zu Hütte und sieht erst nach gut 160 Kilometern wieder Autos und Steinhäuser. Dazwischen ist alles weiß. Ich war mit einer Gruppe unterwegs und auf dieser Durchquerung schneite es jeden Tag, in meiner Erinnerung verdichtet sich die Woche zu einem einzigen Tag in Weiß.

Los ging es in Finse, der Bahnstation der Bergenbahn. Anfangs bewegten wir uns unbeholfen und unkoordiniert. Grobmotorisches Staken und Schieben entfuhr den Großstadtgliedern, Skistöcke fuchtelten durch die Luft, Ski kreuzten sich. Manchmal lag man im Schnee, hilflos wie ein Käfer mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken. Den einen ging es zu schnell, sie hechelten hinterher, den andern war es zu langsam, sie zogen voraus wie einsame Polarforscher.

Am zweiten Tag schneite es stärker, doch allmählich formierte sich der Haufen zu einer Gruppe, fand zu einem Rhythmus. Orientierung im konturlosen Weiß gaben die „Kvister“. Mit diesen Reisigbesen war die gesamte Strecke markiert, so trägt im Winter die kahle Hardangervidda Bäume. Man mag sich in Vorfreude vorstellen, wie wundervoll eine solche Tour den Kopf leert, und über was man dabei alles nachdenken könnte. Das stellt sich aber selten ein.

Durch den Kopf zieht vor allem das Geräusch des Vordermanns, das Quietschen seiner Bindung, das Tappen seiner Schritte. Und man selbst ist mit Elementen und Elementarem beschäftigt: Wind. Kälte. Essen. Trinken. Gehen. Schlafen.

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Vielleicht war es neben Forscherdrang und Heldentum auch das, die Konzentration auf das Wesentliche, was Männer wie Fridtjof Nansen hinaustrieb aus den Städten. Auf den Polarforscher stieß ich auf meinen Winterreisen oft. Über die Hardangervidda ist er auch gegangen – für ihn war es kaum mehr als eine Trainingstour.

1884 lief er von Voss in der Nähe von Bergen nach Oslo, um an einem Skirennen teilzunehmen, und dieselbe Strecke wieder zurück. Vier Jahre später durchquerte er Grönlands Inlandeis. „Gestern endlich sind wir von unserem Lagerplatz fortgekommen. Trotz des Wetters, das so schlecht wie nur irgend möglich war, und des wütenden Schneesturms aus Osten freuten wir uns, unsere Wanderung wieder aufzunehmen“, schreibt Nansen in In Nacht und Eis.

Auf der Hardangervidda kehrten wir abends in Hütten ein, die Gesichter glühten, vor Freude und aufgeschmirgelt vom Wind, wie Eulen sahen alle aus – mit hellen Gletscherbrillenrändern um die Augen. Bald verkrochen wir uns in die dicken Schlafsäcke, die allein den halben Rucksack füllten. Wer zum Abendessen den Durst des Tages löschte, hatte später ein Problem: Raus aus dem Schlafsack, rein in die Skischuhe, Nachtwanderung. Das Häusl steht immer abseits, immer im Windkanal, immer schneit und bläst es nachts noch mehr als am Tag.

Am letzten Tag unserer Tour schien plötzlich die Sonne. Euphorisch schrieb ich in mein Reisetagebuch: „War bislang Landschaft nur das, was unter den Ski lag, so weiten sich nun Blick und Herz. Wie frisch geschlagene Sahnehäubchen präsentiert sich die Hügelwelt rundum. Jetzt erst merkt man, wie das Schneetreiben beengte. Wie man immer nur auf den Rucksack des Vordermanns starrte, wie sich der Horizont auf diese Gruppe beschränkte.

Plötzlich ist da Welt, ist da Gegend, ist da etwas, durch das man seit Tagen schon läuft. Dies ist ja das entscheidend Schöne: Sich nicht in einer Hütte einzurichten, kein Nest zu bauen, sondern: reisen. Jeden Tag brechen wir erneut auf, packen unser ganzes Hab und Gut ein, und sei es auch nur das Hab und Gut dieser Reise, und ziehen weiter. Dabei legt man eine beachtliche Strecke zurück. Man kann sich danach die Hardangervidda-Karte über das Sofa hängen. Wenn Gäste kommen, darf man sagen: Da bin ich gelaufen. Im Winter. Ja, die ganze Strecke!“

Das Gehen in der tief verschneiten Landschaft war wirklich kräftezehrend, stündlich mussten wir uns beim Spuren, beim Vorausgehen abwechseln, damit die Nachfolgenden Energie sparen konnten. Vorne zu gehen war am anstrengendsten – und am schönsten. Nur wer vorausschnürt, fühlt sich allein in dieser Unendlichkeit. Und fühlt sich, ja doch, wie Nansen. Nur wer als erster geht, geht in der Bilder Flut. Nur wer als erster geht und vergisst, dass jeden Abend eine geheizte Hütte die Gruppe beherbergt.

Nur wer als erster geht und nur nach vorne schaut, in den Schnee, auf die weiße Leinwand und dorthin sein Kopfkino Bilder projizieren lässt, der kann verstehen, was Nansen und Amundsen und all die anderen immer wieder hinaus- und immer weiter in den Norden trieb.

Auch ich kann davon nicht genug bekommen. Ja, es ist eine unglaubliche Schinderei, aber Glück ist es auch.

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Die Eisenbahn von Oslo in Richtung Norden heißt Hovedbane (Hauptbahn), sie war 1854 Norwegens erste Zugstrecke. Bald sind wir in Lillehammer, hier stehen schon Berge, olympisches Gebiet, an einem Flussufer liegen schwarze Felsen mit einer dünnen Schneeschicht, wie Brocken von Luftschokolade mit Puderzucker bestäubt. Im Grönländischen wäre das vermutlich ein einziges Wort …

Nebel zieht auf. Der sorgt für Raureif, der sich als Kristallschmuck an die Äste hängt. Ich erinnere mich an Weihnachtsspaziergänge auf der Schwäbischen Alb, alles um uns herum glitzerte schöner als der Weihnachtsschmuck am Baum. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Bezeichnung Raureif etwas mit den Raunächten zu tun habe. Weil um diese Jahreszeit der Wald oft so mystisch aussieht.

Die Wahrheit ist profaner. Auch das, was sich im Eisfach des Kühlschranks gerne ansammelt, ist im Grunde genommen Raureif: ein fester Niederschlag, der sich aus Nebel oder Luftfeuchtigkeit bildet. Resublimation wird dieser physikalische Vorgang genannt, was mich versöhnt, weil darin immerhin das Sublime, das Erhabene dieser Wintererscheinung steckt. Der Vorgang an sich ist bemerkenswert genug: Nadelförmige Eiskristalle bilden sich entgegen der Windrichtung. Sieht man so einen Ast oder einen Pfeiler, der diese Eisnadeln alle in eine Richtung streckt, zeigen diese also in den Wind. Auch wenn man das Gegenteil vermuten könnte.

Dies hängt mit der Luftfeuchtigkeit zusammen, sie ist im Wind höher als im Lee. Auf diese Art kann sich einiges an Gewicht auf den Zweigen ansammeln – sogar Bäume können dadurch zu Schaden kommen, und das wird – noch ein ungewöhnliches Wort – als Duftbruch bezeichnet. Der Wortstamm ist althochdeutsch, da bedeutete Duft Nebel oder gefrorener Dunst.

Sind das nicht wundersame Wörter: Raureif, Resublimation, Duftbruch? Sie bereichern unsere Sprache. Wenn aber die Winter weichen, wenn wir nicht mehr hinausgehen in die Kälte, diese Schönheiten nicht mehr wahrnehmen und auch nicht mehr darüber reden, wird das Deutsche diese Wörter verlieren.

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Wirklich beeindruckenden Raureif sah ich einmal auf einer Tour in Schweden, diesmal mit Schneeschuhen statt Ski, und wieder ging es über eine Hochebene, diese hieß Fulufjäll und ist der jüngste Nationalpark des Landes. Zusätzlich zu den großen Rucksäcken hatten wir Pulkas, eine Art Plastikwannen mit Zuggeschirr. Die waren beladen mit Schlafsäcken, Essen, Notfall-Ausrüstung. Sie wogen 40 Kilo, und wir zogen sie abwechselnd.

Am ersten Tag mussten wir erst einmal steil hinauf auf diese Hochebene, die Sonne schien durch den lichten Tannenwald, wir schwitzten. Am späten Nachmittag erreichten wir erschöpft die Tangastugan, eine Selbstversorgerhütte mit zwei Räumen, zwei Öfen, aber das Holz lag ungesägt vor der Hütte. Der einzige Mann der Gruppe fühlte sich verpflichtet, er sägte. Und beschwerte sich danach, das solle Urlaub sein?

Am zweiten Tag ging es flach übers baumlose Hochfjäll, den Pulka ziehend fühlte ich mich wie ein Wolgaschlepper. Der Wind blies schräg und eisig, statt Kvister standen hier weiß verkrustete Wegkreuze, sie trugen ebendiesen beeindruckenden Raureif und sahen aus wie mit Gips beworfen.

Vier Tage folgten wir dem südlichen Kungsleden, dem König der schwedischen Wanderwege, durch den Nationalpark. Doch am dritten Morgen war die Landschaft verschwunden. Nebel, Wolken, Schnee, der Wind blies Eiskristalle umher. Wir blieben in Sichtweite, waren vermummt mit Skibrillen, Schals bis zur Nase, dicke Handschuhe. Durchs weiße Nichts mühten wir uns voran. Ein physisch und psychisch anstrengender Tag. Zehn Kilometer, fünfzehn Kilometer, wir verloren das Gefühl für Zeit und Raum. Wir tranken Tee mit klammen Fingern, standen eng beieinander in der Kälte. Der Schnee peitschte waagrecht daher, die Brille beschlug innen und von außen gefror das Eis daran. Wir gingen weiter, nach Norden. Am späten Nachmittag schälte sich im Nebel die nächste Selbstversorgerhütte, die Rörsjönstuga, heraus.

Die Hütten haben weder Strom noch Wasser. Schnee schmelzen dauert viel zu lange. Tourguide Elke griff sich einen Wasserkessel, stapfte nach draußen. Sie wusste, wo im Sommer der Bach fließt. Dort legte sie sich in den Schnee, hieb mit der Axt ein Loch ins Eis. Brachte Trinkwasser. Nachts wurde der Wind zum Sturm, drückte Schnee durch die Ritzen der Hütte. Elke sagte: „Keiner geht mir alleine zum Toilettenhäuschen, nicht dass mir da noch einer wegfliegt.“ Am Morgen stiegen wir auf kürzestem Weg ab.

Da fragt man sich am Ende: Was war das für eine Tour? Urlaub oder Schinderei? Ansichtssache. Wieder daheim wirkt das Elementare der Schneeschuhtour nach. Wie wenig man braucht zum Leben! Alles passt in einen Rucksack. Und wie lebensnotwendig das Wenige sein kann. Wie schmal der Grat zwischen Abenteuer und Gefahr sein kann. Und inwiefern genau das das Abenteuer ausmacht.

Lässt sich Abenteuer nur dort spüren, wo es zumindest nach Gefährdung riecht? Wenngleich diese Tour nicht wirklich gefährlich war. Wir hatten genügend zu essen, die Hütten liegen nicht zu weit voneinander entfernt, und hätte sich einer verletzt, wäre die Zivilisation erreichbar gewesen. Es war nur kalt und windig.

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Als ich Mitte November in Berlin aufgebrochen war, erschienen die Stadtparks noch ungewöhnlich grün. Nun fahre ich durch Ausläufer des Rondane-Gebirges in Norwegen, hier finden sich keinerlei Anzeichen von Herbst mehr. Kein Blatt mehr an den Birken, Felder und Wiesen liegen strohfarben, Bäche tragen eine grisselige, noch lückenhafte Eishaut. Und bald darauf im Dovre-Nationalpark präsentiert sich die Landschaft wie eine Lithographie, alle Farben sind entwichen. Schwarze Felsen und Bäume, weiß der Himmel und der Schnee.

Auf dem Smartphone suche ich nach Begleitmusik, endlich reicht die Zeit, Schuberts „Winterreise“ in aller Ruhe anzuhören. Bam, bam, bam, bam, die ersten Akkorde in C-Moll, „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Ich höre Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier Alfred Brendel, allein: Es funktioniert nicht. Das ist keine Musik zum Zugfahren, das ist Musik zum Gehen, zum Wandern: „Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit.“ Dann eben ein andermal.

Ich schwenke um auf die Musik der Königin, Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite, keine Wintermusik, aber mir ist gerade so romantisch und hier in den Bergen steht die Peer-Gynt-Hütte, da möchte ich auch mal hin. Denn so schön und elegisch das Zugfahren ist, ich fühle mich eingesperrt, während die allerschönste Landschaft vorüber zieht.

Weiter im Binnenland warten Wälder. Schwerer, feuchter Schnee zieht den Bäumen die Äste auf den Boden. Und doch vermittelt der Schnee ein ganz anderes Grund- und Lichtgefühl. Schnee macht den Winter hell.

Menschen in dicken Arbeitsanzügen hantieren an Traktoren, Hauslichter brennen Tag und Nacht. An der Biegung eines schwarzen Flusses steht ein rotes Häuschen, genau eins. Ich möchte hinüberstapfen durch den knietiefen Schnee, Holz hacken, aufsperren, bleiben. Für zwei Wochen.

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In Berkåk ist es dann wirklich Winter: rote Häuser mit einer dicken Schicht Schnee auf dem Dach. Batzen von Schnee auf den Bäumen, Norden plus Höhe ist gleich früher Winter. Aber Norden minus Höhe ist auch grau: In Trondheim, am Meer angelangt, ist kein Fitzelchen Schnee zu sehen. Trübe liegt die Stadt am Fjord.

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Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright ©2018 Edel Germany GmbH,

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

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Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Lektorat: Tillmann Courth

Layout: schaefermueller publishing GmbH | Nina Maria Küchler

Satz: Datagrafix GSP GmbH

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0650-2

»Quest’ è ’l verno, mà tal, che gioja apporte.

So ist der Winter. Dennoch – welche Freude bringt er.

Antonio Vivaldi: Sonette zu den Vier Jahreszeiten

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Ich sitze im Flieger, auf dem Weg nach Grönland. Ich bin eingenickt, mein Kopf lehnt am Fenster. Ich wache auf, weil mir kalt ist, suche nach der Decke, die mir von den Knien gerutscht ist, finde sie nicht und schiebe die Fensterblende nach oben. Draußen ist es gleißend, blendend hell. Unter uns liegt endlos weit der Nordatlantik. Das Meer ist erstarrt. Packeisschollen breiten sich darauf aus, von oben sieht es aus wie eine frisch zugefrorene Pfütze. Nur in weltenweit groß. Das Eis ist von matter, grau-weißer Farbe. Darin eingepackt liegen wie verankert strahlend weiße Eisberge. Von der tiefstehenden Sonne beschienen, werfen sie lange Schatten auf das Eis. Am liebsten würde ich alle Passagiere aufwecken, alle Blenden nach oben schieben und laut rufen: „Seht euch das an! Gibt es Schöneres auf der Welt als den Winter?“

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Frühling, Sommer und Herbst ähneln einander. Nur der Winter steht für sich. Die Welt gerät in einen anderen Aggregatzustand: Wasser gefriert. Die Landschaft wird erst kahl, dann weiß. Was macht das mit den Menschen? Und warum lieben manche gerade dies?

Wie lebt man, wenn viele Monate lang Schnee liegt? In manchen Weltgegenden ist Eiseskälte nicht nur schön, sondern praktisch: So am Baikalsee, der im Winter meterdick zufriert und dann zur Transitstrecke wird zwischen Irkutsk und Ulan-Ude. Auch in Nunavut, dem Inuit-Territorium im äußersten Norden Kanadas, sind Hunderte Kilometer Eisstraßen nur im Winter befahrbar. Die grönländischen Jäger bewegen sich vorrangig mit Hundeschlitten – und mit Schneemobilen – fort.

Doch die Auswirkungen des Klimawandels verändern das Leben in hohen Breiten dramatisch. Das bekommen Menschen in diesen Regionen so deutlich zu spüren wie Inselbewohner in Äquatornähe. Nur wird darüber weniger berichtet.

Seit Jahrzehnten führen mich Reisen in den Winter; für dieses Buch konnte ich mich erneut eine ganze Saison lang intensiv mit allen Freuden und allen Fragen dieser Jahreszeit beschäftigen. Schon im November, dem Vorfreudemonat der Winterliebhaber, machte ich mich auf die Suche nach Schnee und nach Kälte. Ich fuhr hoch hinauf, eine Reise ans Nordkap gab mir tiefe Einblicke in die schier unerschöpfliche Kreativität der Menschheit. Als könnten wir uns an jede Art von Lebensbedingungen anpassen. Kalt – na und? Dunkel – na und?

Ein Busfahrer auf Magerøy erklärte mir, wie Dieselkraftstoff und Motoren bei Kälte funktionieren und wo mit Spikes gefahren wird. Ein Maurermeister in Bodø erzählte, wie Baustellen geheizt werden, damit der Beton hart wird. Und ein Psychologe forscht seit Jahrzehnten in Tromsø nach der Winterdepression – und findet sie nicht.

Alle Nordlandbewohner erzählen davon, wie sie es sich im Winter koselig, hyggelig, mysiga machen – verschiedene skandinavische Wörter für einen wohligen Zustand: helle Lichter in die Fenster stellen, Nachbarn zum Essen einladen und sich schon im November zu Weihnachtsfeiern treffen. Auch wenn manche zwischendurch für zwei Wochen zum Sonnetanken auf die Kanaren ausbüchsen.

Die allermeisten aber gehen mit großem Optimismus und Vorfreude in den Winter, jedes Jahr wieder. Mit einem Erfindungsgeist, der sich seit Jahrhunderten bewährt und der sie im rauen Klima bestehen lässt.

Die Faszination für Kälte, für Leben in extremen Bedingungen, zog Polarforscher an und hinaus in diese Welten. Ihnen folgten als Reisende im Kopf die Leser ihrer Bücher. Einige von ihnen standen auf aus dem gemütlichen Lehnstuhl, stellten eine Ausrüstung und ein Team zusammen, zogen ihrerseits los und schrieben wieder neue Bücher.

Auch meine Polar-Initiation hing mit einem Buch zusammen, mit Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit. Damit entdeckte ich für mich den Norden und die Sehnsucht. Woran liegt es, dass der eisige Norden so eine Faszination ausüben kann? Abenteurern und Extremsportlern wird gern Todessehnsucht oder zumindest eine gewisse Lebensverachtung unterstellt. Ich bin überzeugt, das Gegenteil stimmt.

Reisen in extreme Gegenden, unter extremen Bedingungen, lassen einen das Leben in einer Intensität spüren, die verlockend sein und süchtig machen kann. Ein rauschhafter Zustand, eine Reise wie ein Trip. Wenn auch oft erst im Nachhinein, denn den Expeditionsalltag prägt meist grässliche Langeweile. Monatelanges Ausharren auf einem Schiff, wochenlanges Gehen im Eis. Nur um dann – vielleicht als erster – an einem Punkt anzulangen, der sich zwar messen lässt, aber unsichtbar bleibt. Imaginär. „Land in Sicht!“, konnte der Maat von Columbus nach langen Wochen auf See ausrufen. „Nordpol in Sicht!“, das rief nie einer. Da waren nur Eis und Kälte.

Doch bei aller Faszination für den Winter und die Menschen, denen es gelingt, noch in der unwirtlichsten Umgebung zu überleben – die Jahreszeit behält ihren archaischen Schrecken für diejenigen, die dem Winter schutzlos ausgesetzt sind. Winter und Krieg sind eine tödliche Kombination, das war so auf Napoleons Rückzug aus Russland, beim „Gebirgskrieg“ 1915-1918 in den Dolomiten und 1942 bei der Schlacht um Stalingrad.

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Wer den Winter, den Schnee und die Berge liebt, der wird irgendwann mit Ski losziehen. Sei es auf einsamen Unternehmungen mit Tourenski, im Getümmel von Skipisten oder in Langlaufloipen. Wintersport war und ist ein Segen für abgelegene Bergtäler. Aber er kann ökologisch betrachtet auch ein Fluch sein. Manche Regionen in den Alpen versuchen, einen Mittelweg zu finden zwischen Ski-Halligalli wie in Ischgl und Abwanderung und Armut wie in einigen italienischen Alpenregionen.

So fuhr ich im Hochwinter ins Villgratental in Osttirol, dort möchte man den Wintertourismus neu denken, ohne großen Skizirkus, und warb sogar mit dem Spruch: „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts.“ Was unterhaltsam klingt und aus der Ferne einen geruhsamen Urlaub im Schnee verspricht, erhitzt vor Ort die Gemüter. Skilift – ja oder nein? Darüber können sich Dörfer und Dörfler böse zerstreiten.

Das Leichte und das Schwere – im Winter liegt das nah beieinander. Schnee ist ein besonderer Stoff. Eine einzelne Schneeflocke wiegt etwa vier Milligramm. Nahezu nichts. Doch Lawinen schieben tonnenschwere Schneemassen zu Tal.

Um vieles davon geht es in diesem Buch. In meiner Erinnerung waren die Winter früher länger, kälter, schöner. Aber stimmt das auch? Die Prognosen jedenfalls sind nicht gut, aufgrund des Klimawandels verschieben sich die Jahreszeiten und die Winter werden dramatisch kürzer. Werden wir Schnee bald nur noch an wenigen Tagen im Jahr erleben?

Winter hat mich schon als Kind fasziniert, als ich heimlich, weil verboten, Eiszapfen auf dem Nachhauseweg von der Schule schleckte. Ich liebe die Atemwölkchen, die wir im Winter vor uns hertragen als Sichtbarmachung unseres Lebendigseins. Es ist wie es ist und wie so oft bei der Liebe: Erklären kann man es nicht. Aber davon erzählen. Von den Facetten des Winters, von den dunklen und den hellen Tagen. Von der Winterliebe.

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Das ganze Jahr über ist es in der kargen Landschaft der Schwäbischen Alb etwas kälter als unten im Donautal, als entlang des Neckars oder gar drüben im Breisgau. Dass es in Deutschland Regionen geben soll, in denen Weintrauben wachsen, wo sogar Aprikosen geerntet werden, das erschien mir als Kind praktisch unvorstellbar. Bei uns auf der Rauhen Alb gab es Skilifte, minus zwanzig Grad im Januar und geerntet wurden Kartoffeln und Karotten. Aber wie ich es liebte!

Wenn zu Beginn der kalten Jahreszeit die ersten Schneeflocken vom Himmel tanzten, vielleicht liegen blieben, wenn sich Pfützen überzogen mit dieser so speziellen, feinen Schicht, wie ich sie später bei Crème brûlée wiederfand. Dieses Knacken, wenn man mit dem Absatz des Schuhs auf die Eisschicht kickt, so hell und fein und klirrend wie das Geräusch des Löffelchens auf der Kruste der Süßspeise.

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Schnee und Eis: Was ist das, wo gibt’s das heute noch? Darum soll es hier gehen. Crystal Myths. Der Stoff, der Winterfreunde high macht. Wie jeder weiß: Grönländer kennen über hundert Wörter für Schnee. Aber wie das so ist mit den Dingen, die jeder weiß: Oft stimmen sie nicht. Der Irrtum liegt darin, dass Eskimosprachen – tatsächlich gibt es verschiedene rund um den Nordpol – polysynthetisch sind, das bedeutet, dass sie viele Details in einem Wort enthalten, die etwa im Deutschen in längeren Phrasen erklärt werden müssen.

Ich habe vor einigen Jahren einen halben Winter in Ostgrönland verbracht. Ein paar Schneewörter habe ich mir gemerkt: „qiqumaaq“ – Schnee, dessen Oberfläche gefroren ist, „katakatanaq“ – harte Kruste von Schnee, die unter Fußstapfen nachgibt, „maujaq“ – weicher Schnee auf dem Boden. Die deutschen Übersetzungen sind umständlich, ja, aber man kann auch hierzulande einfach sagen: Harsch, Bruchharsch, Matsch.

Denn tatsächlich kennt auch das Deutsche jede Menge Wörter für Schnee: Locker-, Neu- und Pappschnee. Reif, Harsch, Firn, Sulz. Pulverschnee, Schwimmschnee, Schneebretter. Wechten, Altschnee, Bruchharsch. Büßerschnee, Faulschnee. Es gibt sogar ein Wort für den schneelosen Zustand: aper. Und weiter: Graupel, Griesel, Hagel. Gut, Hagel zählt nicht. Aber warum eigentlich nicht? Und dann wäre da noch das Eis. Glatteis, Blitzeis, gefrorene Wasserfälle, Packeis, Inlandeis, Gletschereis, Eisberge, Schwarzeis, Speiseeis.

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Was genau ist Schnee? Wie sehen Schneekristalle aus? Auf jeden Fall wunderschön. Auf dunklen Winterjacken lassen sich die Sternchen bewundern. Eine kleine Exkursion zur Kristallbildung: Ist es in den Wolken kälter als minus 12 Grad, gefrieren Tröpfchen an festen Teilchen, das können Blütenstaub-Partikel sein, Schmutzteilchen oder Vulkanasche. Schneeflocken sind also keine gefrorenen Regentropfen, sondern Eiskristalle.

Das Eis beginnt zu fallen. Lawinenähnlich sammelt der winzige Eiskristall bei seinem Weg durch die Wolken weiteres Material, verbrüdert sich mit Gleichgesinnten, mehrere Kristalle verhaken sich, werden schließlich zur Schneeflocke.

Frische Schneeflocken sind immer – immer – sechseckig. Das hat mit Chemie und der Struktur von Wassermolekülen zu tun. Was also so poetisch-leicht zur Erde schwebt, wird durch knallharte Naturgesetze gebildet: Aufgrund der Struktur der Wassermoleküle sind im Schneekristall nur Winkel von exakt 60° beziehungsweise 120° möglich. Zumindest in der Entstehungsphase.

Denn erstaunlicherweise heizen wachsende Schneekristalle: Sie geben beim Gefrieren Wärme ab. Wenn sie dann wieder schmelzen, zum Beispiel in wärmeren Luftschichten, können beim Herumwirbeln Zacken aus dem Sechseck brechen. Ihre Formenvielfalt übertrifft die weltweite Anzahl an Schneewörtern um ein Vielfaches.

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Als einer der ersten beschäftigte sich Johannes Kepler wissenschaftlich mit dem Phänomen Schneeflocken. Kepler war Mathematiker, Naturphilosoph, Theologe – ein Universalgenie. Bis heute kennt man ihn als Astronomen, der die Planetenbahnen um die Sonne beobachtete und neu berechnete. Doch er blickte nicht nur ins Universum, sondern auch durchs Mikroskop aufs gemeinhin Unsichtbare. 1611 veröffentlichte er ein Büchlein über die Entstehung der Schneeflocke, er vermutete richtig, dass deren Gestalt mit der Kälte zu tun habe, konnte dies aber noch nicht hinreichend begründen.

Weitere Fragen tauchten auf, als sich die Kryologie, die Wissenschaft von Schnee und Eis, allmählich zu formen begann und erforschte, warum etwa ein Schneeball zusammenpappt. Als Kontrahenten zweier verschiedener Meinungen traten in der Schneeballschlacht an: Michael Faraday, der sich mit elektrischer Spannung auskannte (der Faradaysche Käfig ist nach ihm benannt), sowie William Thomson, der spätere 1. Baron Kelvin, nach ihm heißt das Kelvin der thermodynamischen Temperaturskala.

Faraday vertrat die Ansicht, auf jedem Schneekristall liege ein dünner Film ungefrorener Materie, der zusammenfriere und den Schneeball auf diese Weise zusammenhalte, anders als bei einem Klumpen nassen Sandes. Thomson/Kelvin führte das Zusammenpappen hingegen auf sogenannte Druckaufschmelzung zurück: Unter Druck – dem Zusammenpressen des Schneeballs – schmelze der Schnee ein kleines bisschen, lasse der Druck nach, friere die Masse wieder ganz zusammen. Die These des Barons erwies sich als richtig. Lange meinte man, dass auch Schlittschuhlaufen auf diese Weise funktioniere: Durch den Druck der Kufen schmelze das Eis, wodurch ein Wassergleitfilm entstehe. Das allerdings ist nicht richtig, tatsächlich bringt die Reibungswärme der Kufen das Eis minimal zum Schmelzen.

Was den Schneeball betrifft, hätten sich die streitenden Physiker auch von den Linguisten inspirieren lassen können. Denn alle uns vertrauten Wörter für Schnee – vom althochdeutschen sneo übers altnordische snœr übers russische sneg – haben eine gemeinsame Wurzel: das indoeuropäische Wort sneigh*, und das bedeutet: sich zusammenballen, zusammenkleben.

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Der Forscher Johann Heinrich Flögel (1834-1918) war wohl einer der ersten, die Schneeflocken fotografierten. In einem Haus in Ahrensburg bei Hamburg fand man in den 1970er-Jahren historische Aufnahmen, bei denen sich erst 2010 herausstellte, dass sie unter dem Mikroskop fotografierte Schneekristalle (sowie aufgeschnittene Insektenhirne) zeigten. Auf einer der Aufnahmen hatte Flöge vermerkt, dass die fotografierte Flocke am 1. Februar 1879 gefallen sei und er, Flögel, die Aufnahme mit 46-facher Vergrößerung gemacht habe.

Um 1885 fotografiert Wilson Bentley 5000 Schneekristalle. Gibt es zwei Sandkörner, die identisch sind? Gibt es zwei Schneekristalle, die identisch sind? Eine kaum zu beantwortende, ins Philosophische ragende Frage.

Ich habe mir den Bildband des Schneeforschers Bentley besorgt, ich könnte stundenlang darin blättern, er hat etwas geradezu Meditatives, das ist Stoff für Süchtige wie mich: 226 Seiten mit Porträtaufnahmen nur von Schneekristallen und Eisblumen. Das Fotoalbum beginnt mit eher einfachen Sechsecken, geht über zu strukturierteren Formen und fein ziselierten, filigranen Kristallen und endet auf den letzten Seiten mit Eisblumen, wahren Winterschönheiten.

Das Erblühen dieser vergänglichen Kunstwerke erklärt W.J. Humphreys, der Herausgeber der Bentley-Fotos, ganz nüchtern wie folgt: Beim Fensterputzen entstehen feinste Kratzer, entlang derer die Frostblumen wachsen. Wissenschaft und Feldforschung zeigen sich am Winterfenster als Poesie.

Auf der ersten Seite des Buches ist der Fotograf selbst zu sehen, W.A. Bentley aus Jericho, Vermont. Er steht im Freien, vor einem weißen Holzhaus, vor sich aufgebaut eine Plattenkamera, die mit einem gestreiften Wolltuch abgedeckt ist. Er trägt einen hellen Hut und einen dunklen Wintermantel, auf dem sich einige Schneeflocken niedergelassen haben. Unverkennbar: sein buschiger Schnauzbart. Unter ihm lächelt Bentley still in sich hinein. Bestimmt hat er gerade wieder ein besonders hübsches Schneekristall vor die Linse bekommen.

Das wäre ein schöner Märchenstoff: Die böse Königstochter, die jeden köpfen lässt, der sie heiraten will, aber nicht in der Lage ist, ihr zwei identische Schneeflocken ins Schloss zu bringen. Ich hätte aber gerne ein Happy-End, eines, das in Gelächter und einer Schneeballschlacht des ganzen Hofstaats endet.

Aber Schnee sieht nicht nur verschieden aus, er fühlt sich auch immer wieder anders an. Der fluffige Pulverschnee in großer Kälte, der sich nicht komprimieren lässt, aus dem man keine Schneebälle formen kann, der sich mit dem Handschuh vom Autodach wischen lässt. Und am anderen Ende der Skala nasser Pappschnee, der das Schneeschippen zur Plackerei werden lässt, sich schwer auf Bäume legt, Hecken in die Knie zwingt. Sich aber fantastisch zum Schneemannbauen eignet.

Was ist der Unterschied zwischen Schnee und Eis? Das ist keine Scherzfrage, sondern ein Versuch, diese Materie des Winters zu ergründen. Dafür bin ich in die Schweiz gefahren, nach Interlaken. Die Stadt ist umgeben von Schnee und Eis; rund ums Jungfraujoch habe ich mich mit Menschen unterhalten, die eine besondere Nähe zum Eis in ihrem Leben haben.

Die Reise beginnt mit der spektakulären Fahrt der Jungfraujochbahn, 1912 eröffnet, eine touristische Attraktion. Auf der auf gut 2000 Meter gelegenen Kleinen Scheidegg gibt es eine Pause zum Umsteigen, umgeben von eisiger Kälte, eingeschüchtert durch den Blick auf die Eiger-Nordwand, ein schwarzes Monstrum, das sich hier in den Himmel streckt.

Die Bahn fährt wahrhaftig durch den Eiger hindurch, aufs 3454 Meter hohe Jungfraujoch. Ich hatte Glück, weil ich noch mit dem alten Zug fahren konnte; seit 2016 hält die Bahn nicht mehr an der Zwischenstation Eismeer. Manchmal verstehe ich die Welt der Touristiker nicht: Der Blick aus den riesigen Panoramascheiben, aus der Eiger-Nordwand heraus in die Bergwelt, war für mich atemberaubend. Allein schon deswegen hätte sich die – recht teure – Fahrt gelohnt. Doch nun wird da nicht mehr gehalten, um ein paar Minuten Zeit einzusparen.

Als ersten frage ich Martin Fischer, Betriebsleiter in der Forschungsstation Sphinx-Observatorium auf dem Jungfraujoch, nach dem Unterschied zwischen Schnee und Eis, den beiden Varianten gefrorenen Wassers. Fischer fasst es so zusammen: „Schnee hat Luft drin, Eis nicht“, und er muss es wissen, schließlich lebt er im ewigen Eis. Aber was heißt heute schon ewig? Fischer arbeitet seit 13 Jahren auf 3571 Meter überm Meer. In der Forschungsstation „wettert“ er fünfmal am Tag, übermittelt meteorologische Daten, und sieht dabei dem Aletsch-Gletscher beim Schmelzen zu, mit 22 Kilometern Länge der längste Eisstrom der Alpen und UNESCO-Weltnaturerbe.

Das Eis wird weniger, sagt der Forscher Fischer. „Ob es wärmer wird, darüber kann man nicht mehr diskutieren.“ In den ersten Jahren „regnete es höchstens einmal im Sommer. Jetzt hat es mehrere Tage Regen im Jahr!“ Dann schwemmt es einen halben Meter Schnee davon, der Gletscher verhungert. Vier bis fünf Meter Schnee fallen im Jahr aufs Jungfraujoch, früher waren es bis zu 16 Meter, weiß Fischer.

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Und wie wird Schnee zu Eis? Vier Metamorphosen wandeln Wasser zu Gletschereis: Feuchtigkeit steigt auf, fällt als Schnee, wandelt sich durch Schmelzen und Wiedergefrieren in grobkörnigen Firn, durchzogen von Luftkanälen. Erst wenn einlaufendes und gefrierendes Wasser diese Adern schließt, ist der Zustand Gletschereis erreicht. Eis ist, im Gegensatz zu Schnee, praktisch wasserundurchlässig. Weiß erscheint der Gletscher durch Lufteinschlüsse, Blaueis hingegen zeigt sich in Spalten beim Blick in die Tiefe, dort, wo das Eigengewicht die letzte Luft aus dem Eis quetschte.

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Gletscher sind Eisberge an Land: Münden Gletscher ins Meer, wie in der Bucht von Ilulissat auf Grönland, brechen Stücke ab und ziehen als Eisberge davon. Nur Packeis ist ein anderer Stoff: Es ist platt, flächig und besteht aus Meereis, also aus Salzwasser. Treibeis hingegen heißt alles, was auf großen Wasserflächen herumschwimmt, das können Packeis-Schollen sein oder Stücke von Eisbergen.

Als 1894 der Schweizer Unternehmer Adolf Guyer-Zeller die Konzession für den Bau der Bahn aufs Jungfraujoch bekam, musste er sich verpflichten, eine Forschungsstation zu errichten. Bis zu 5000 Besucher am Tag zahlen die fast 200 Franken und kommen für ein paar Stunden aufs Joch, drei Viertel von ihnen sind Asiaten.

Alle besuchen den Eispalast, künstliche Höhlengänge im Bauch des Gletschers. In den 1930er-Jahren hatten Bergführer begonnen, mit Eispickel und Säge diese Gänge aus dem Gletschereis zu schneiden. Blau mäandernde Bänder bilden die Wände, eine klare Kälte herrscht da unten. Die Jahresringe des Gletschers führen in die Vergangenheit. Der Faszination der Gletscherhöhle allein wollte man wohl nicht trauen. In Nischen sitzen kitschige Figuren, Hirsche, Vögel, aus glasklarem Eis geschnitzt. Das kommt aus einer Eisfabrik in Interlaken.

Was die Wissenschaftler im Sphinx-Labor erforschen, ist im Bauch des Gletschers wie in einem Bilderbuch aufgeblättert. Braune Adern durchziehen das Blau: Saharasand. Der kommt etwa einmal im Jahr, sagt Fischer. Sie untersuchen, wo genau aus Nordafrika die mineralischen Staube und biologisches Material herangeweht werden. Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull wird theoretisch noch in Hunderten von Jahren zu sehen sein. Doch praktisch wird es den Gletscher da vielleicht nicht mehr geben. Um bis auf Weiteres den Eispalast zu erhalten, schieben Schneeraupen vom Kühlauenen-Gletscher immer wieder Eis von oben nach.

Es gibt einen Foto-Point, im Inneren des Gletschers an dem sich alle knipsen lassen. Darüber hat sich im Eis ein Gewölbe gebildet, der Atem der Besucher bringt den Eispalast zum Schmelzen, Schicht für Schicht. Als wäre es eine politische Kunstinstallation, die den Klimawandel erklärt.

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Ich fahre zurück ins Tal, durch den Eiger, ich bekomme erneut Gänsehaut bei der Vorstellung, durch diesen in Bergsteigerkreisen weltberühmten Berg hindurchzufahren. Hauptsächlich zwischen den beiden Eisfeldern der Nordwand spielten sich die Dramen der Ersteigungsversuche ab. Und auf der Kleinen Scheidegg saßen die Zuschauer, richteten ihre Fernrohre in die Wand, wurden Zeugen der Abstürze und schließlich auch des Triumphes von vier deutschen Bergsteigern.

Ein Triumph, der politisch gewollt und gemeint war, es war 1938, die Durchsteigung wurde als „Zeugnis des unbeugsamen Siegeswillens unserer Jugend“ propagandistisch ausgeschlachtet. Wie lange sich die „Weiße Spinne“, das Eisfeld in der Nordwand, noch wird halten können, kann derzeit niemand sagen.

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Nicht unter, sondern auf Eis bewegt sich der Winterangler Beat Bührer, den ich am nächsten Tag treffe. Vor zehn Jahren stapfte er auf einen gefrorenen See und rammte mit seinem Eispickel ein Loch in die Oberfläche. „Das war eher gefährlich“, sagt der heute 34-Jährige. Nun steht er auf dem Hinterstockensee oberhalb Interlakens und setzt einen rasiermesserscharfen Eisbohrer an. „Beim Eisangeln bist du in der Natur, machst ein Loch, fischst, lauschst, fernab von allem. Mich fasziniert das Eis am Anfang des Winters. Wenn der ganze See auf vier Grad abgekühlt ist, ist er schwarzgefroren. Wenn es draufregnet, wird er wie ein Spiegel.“

All das verdankt Beat Bührer, und natürlich nicht nur er, der Dichte-Anomalie des Wassers, noch so eine Absonderlichkeit von H2