1 Einer aus dem Volk

»Jedes Mal, wenn mich ein Schweizergardist im Vatikan mit ›Eminenz‹ anredet, wundere ich mich. Ich ein Kardinal? Ich fühle mich noch immer wie Gokim Tagle, ein einfacher Priester, den der Herr berufen hat, zu dienen.« – Es ist keine falsche Bescheidenheit, die der »Baby-Kardinal« hier an den Tag legt (Tagle war einige Jahre lang der Zweitjüngste im Kardinalskollegium). Es entspricht dem Naturell von Bischof Chito (unter diesem Spitznamen kennt man ihn zuhause, und er selbst benutzt ihn in seinem Twitter-Account), sich dem anderen in aller Bescheidenheit und ohne jegliche Formalitäten zur Verfügung zu stellen. Dieser Stil wurzelt in seiner persönlichen Geschichte: der Geschichte eines Mannes, der in einer ganz einfachen und tiefreligiösen Familie aus dem Volk großgeworden ist.

Heute ist Kardinal Tagle eine Persönlichkeit von internationalem Format, Oberhaupt eines der bevölkerungsreichsten Erzbistümer der Erde, Theologe von Weltruf (er hat in den USA und in Italien studiert und in den verschiedensten Regionen des Globus die Ehrendoktorwürde erhalten) und in vielen Ländern, vom Weltwirtschaftsforum in Davos bis hin zur Bischofs­synode in Rom, ein geschätzter und gefragter Redner. Doch das Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, ist zutiefst von der Volksfrömmigkeit geprägt, den traditionellen Gebeten, der Marienverehrung … Dies ist ein unauslöschlicher Teil seiner Geschichte, der auch seinen pastoralen Stil beeinflusst hat.

Denn um den Menschen Tagle zu verstehen, muss man bei den familiären und kulturellen Wurzeln dieses Mannes beginnen, die eng mit der philippinischen Identität verbunden sind. Und diese wiederum ist von einem tief im Volkstümlichen wurzelnden Christentum und einem ausgeprägten Sinn für Familie und Gastfreundschaft gekennzeichnet.

Heute gilt Tagle vielen als einer der Kardinäle, die dem Stil und dem Lehramt von Papst Bergoglio am nächsten stehen, wie auch die zahlreichen Ämter beweisen, die Franziskus ihm anvertraut. Das ist nicht weiter verwunderlich: Sein Verhalten und seine Worte weisen dieselbe Einfachheit und Liebens­würdigkeit im Umgang mit den Menschen auf, wie wir sie beim argentinischen Papst zu schätzen gelernt haben.

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Erzählen Sie uns etwas von Ihrer Familie …

Die Familie meiner Mutter stammt aus der Gegend von Dagupan in der Provinz Pangasinan im Norden der Insel Luzon. Meine Mutter, Milagros Gokim, hat chinesische Vorfahren. Ihr Vater war als Junge gemeinsam mit einem Onkel aus geschäftlichen Gründen von China auf die Philippinen gereist und dann dortgeblieben: Er heiratete und kehrte nicht mehr nach China zurück. Meine Großmutter mütterlicherseits war ebenfalls philippinisch-chinesischer Abstammung.

Die Familie meiner Mutter war sehr groß, sie hatte acht Geschwister. Mein Großvater arbeitete für eine Zigarrenfabrik, und meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt. Es waren sehr fleißige Leute.

Die Familie meines Vaters stammte aus Imus, einer kleinen Stadt in der Provinz Cavite, 25 Kilometer südlich von Manila. Mein Vater, Manuel senior, hat seinen Vater früh verloren; er war während der japanischen Besatzung bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. Mein Vater wurde dabei verletzt. Er hat noch heute Bombensplitter in seinem Körper. Meine Großmutter väterlicherseits hat die Familie meines Vaters durchgebracht, alle fünf Kinder: vier Töchter und einen Sohn, meinen Vater. Sie hat mit ihrer Schwester in einem Restaurant als Köchin gearbeitet. Weil sie alleinerziehend war, musste meine Großmutter sehr hart arbeiten. Bei den Mahlzeiten in der Familie war sie oft nicht dabei, weil sie sich um das Restaurant kümmern musste. Später bekam sie Magenkrebs, an dem sie mit 69 Jahren starb.

Vater und Mutter waren normale und einfache Leute: Sie haben beide bei der Bank gearbeitet, der Equitable Bank: Dort haben sie sich auch kennengelernt. Sie haben am 26. August 1956 geheiratet. Ich bin ein Jahr später, am 21. Juni 1957, in einem Krankenhaus in Manila zur Welt gekommen. Aber mit der Familie haben wir immer in Imus gelebt. Ein Jahr nach mir wurde meine Schwester Irma geboren, doch sie ist wenige Minuten nach der Geburt gestorben. Mein Bruder Manuel junior kam 1962 auf die Welt. Er lebt seit einigen Jahren in den Vereinigten Staaten. Nach ihm hatte meine Mutter noch eine vierte Schwangerschaft, die aber mit einer Fehlgeburt endete.

Wie es damals in einigen philippinischen Familien üblich war, lebte die Familie meines Vaters bei uns im Haus: meine Urgroßmutter väterlicherseits, die 93 Jahre alt geworden ist, meine Großmutter väterlicherseits, die Geschwister meines Vaters (nur seine ältere Schwester war verheiratet, sie hatte drei Kinder) und fünf Cousins und Cousinen. Da wir alle zusammenlebten, haben wir gelernt, sorgfältig mit Zeit und Raum umzugehen, Dinge zu teilen und Opfer für das gemeinsame Wohl aller zu bringen.

Glauben Sie, dass Sie von Ihrer Herkunft und Ihrer Fami­liengeschichte her noch etwas »Chinesisches« an sich haben?

Ich glaube, dass ich einige chinesische Eigenschaften geerbt habe, auch wenn mein Großvater den größten Teil seines Lebens auf den Philippinen verbracht hat. Ich erinnere mich noch an einige Bräuche, die er gepflegt hat: dass er zum Beispiel, um seine Mutter zu ehren, Lebensmittel vor ihr Foto gelegt und dazu ein paar Weihrauchstäbchen angezündet hat, dass er das neue Jahr mit Knallkörpern und Feuerwerk begrüßt hat oder auch, dass er bei den Mahlzeiten mit der Familie immer so viel aufgefahren hat. Nach chinesischer Sitte kann und muss man alle Ausgaben kontrollieren, aber nicht die für das Essen! Neben diesen Angewohnheiten haben wir von unserem chinesischen Großvater gelernt, alten Menschen mit Respekt zu begegnen, der Familie gegenüber loyal zu sein, einfach zu leben, das heißt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren; wir haben den Wert der Erziehung und eine Arbeitsethik kennengelernt, die auf Motivation, Sorgfalt und Treue basiert.

Als ich neun Jahre alt war, bat mich mein Großvater, Chinesisch zu lernen, weil keines seiner Enkelkinder Chinesisch sprach. Einen ganzen Sommer lang bekam ich Privatstunden bei einer Chinesin und lernte Mandarin und Hokkien. Die anderen Kinder im Kurs waren jünger als ich, deshalb war ich ihnen in den Lektionen voraus. Aber ich hatte keine Möglichkeit, das Chinesische zuhause oder in den normalen Schulstunden zu üben. Also ging ich irgendwann nicht mehr hin. Heute tut es mir leid, dass ich mit dem Chinesisch-Unterricht nicht weitergemacht habe.

Wo sind Sie zur Schule gegangen?

Meine Eltern schickten mich an eine Schule in der Stadt Parañaque, etwa 15 Kilometer von zuhause entfernt; sie wurde von Scheut-Missionaren aus Belgien geleitet, also von Mitgliedern der Kongregation vom Unbefleckten Herzen Mariens. Das waren ganz einfache Priester mit einem wirklich bescheidenen Lebensstil. Sie konzentrierten sich auf das, was für die christliche Erziehung der Jugendlichen wichtig war. Sie wollten nicht, dass wir viel Geld ausgaben; sie sagten uns, wir sollten unser Geld für unsere Familien sparen. Also mussten wir unsere Schulbücher nicht kaufen, sondern durften sie kostenlos bei der Schule ausleihen: Jeder Schüler war gehalten, sorgfältig mit seinen Büchern umzugehen, weil wir sie am Ende zurückgaben; wer pfleglich damit umgegangen war, musste nichts bezahlen. Dieser Stil, den die Scheut-Patres mir beibrachten, hat mir sehr dabei geholfen, das Prinzip der »Bewahrung« zu verstehen, das ja auch für die Schöpfung gilt: Dem Menschen wird etwas anvertraut, das ihm nicht gehört, sondern das er als ein Erbe an andere weitergeben muss.

Bei den belgischen Missionaren lernten wir Schüler eine große Einfachheit kennen, eine gelebte Armut und Aufmerksamkeit für die Armen und eine klare Auffassung davon, was im Leben Vorrang hat. Sie erlaubten uns keinerlei Ablenkungen; sie gewöhnten uns daran, uns auf den Weg zu konzen­trieren, der direkt vor uns lag. An einen der belgischen Missionare erinnere ich mich noch besonders gut, ich meine Pater Paul Foulon, meinen Lehrer, der auch der Schulleiter war. Er war sehr streng, aber auch ein kluger Mann. Als Kinder hatten wir Angst vor ihm, sogar sein Schatten flößte uns Ehrfurcht ein; doch als wir dann älter wurden, begriffen wir, wie sehr er seine Schüler liebte. Heute ist er im Ruhestand; er lebt in Belgien, aber wir haben noch Kontakt zueinander.

Was erscheint Ihnen von all den Dingen, die Ihre Eltern Sie von klein auf gelehrt haben, noch heute besonders bedeutsam?

Meine Großeltern und meine Eltern haben mir eingeschärft, hingebungsvoll und hart zu arbeiten: »Wenn du etwas machst, dann mach es gut«, das war einer ihrer Grundsätze. An ein anderes Motto erinnere ich mich auch noch deutlich: »Sei für die anderen ein guter Nachbar … Wenn jemand dich um etwas bittet, dann tu es, wenn du kannst!« Vor allem anderen jedoch haben meine Eltern mich den Glauben gelehrt. Sie haben während des Krieges sehr gelitten. Mein Großvater väterlicherseits war ja, wie schon gesagt, 1944 während des Krieges bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen. Meine Großmutter blieb zurück und musste allein für meinen Vater und seine vier Schwestern sorgen. Mein Vater, der damals 14 Jahre alt war, war ebenfalls verletzt worden. Und meine Großmutter arbeitete hart in einem kleinen Restaurant, das ihrer Schwester gehörte, damit sie ihre Kinder zur Schule gehen lassen konnte. Die Familie meiner Mutter kam aus einer anderen Gegend, sie waren umgezogen, weil sie einen Ort suchten, wo es sicherer war, denn als Chinese war ihr Vater bei den japanischen Behörden damals nicht gut angesehen. Doch sie haben überlebt: weil sie an Gott geglaubt haben und daran, dass man einander helfen muss. Als wir noch klein waren, haben sie uns immer viele Geschichten über den Krieg erzählt, und ich war sehr überrascht, dass sie es geschafft haben, sich in so schweren Zeiten über Wasser zu halten. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass der Glaube und die gegenseitige Hilfe die Menschen stark machen können: Das habe ich von ihnen gelernt. Zusammenfassend kann ich sagen, dass mein Glaubensweg dank meiner Familie, der Kontakte zu den Priestern der Gemeinde und der Missionare an der Schule ein ganz normaler Weg gewesen ist.

Wie würden Sie Ihre religiöse Erziehung beschreiben?

Ich bin mit dem Glauben großgeworden, vor allem in meiner Familie, die eine ganz normale Familie war: Sie bestand aus hart arbeitenden Menschen und sie hat mich zu einfachen Werten erzogen: dem Glauben, der Familie, der Liebe zur Kirche, guten Manieren, gesunden Grundsätzen. Meine Eltern haben sich sehr in der Kirche engagiert. Von meiner Mutter habe ich gelernt zu beten, sie hat mit mir die einfachen Gebete der christlichen Tradition gebetet: das Vaterunser, das Avemaria, den Rosenkranz … Mit drei Jahren kannte ich die wichtigsten Gebete und konnte allein den Rosenkranz beten.

In unserer Nachbarschaft gab es eine Tradition: Die Statue der Fatima-Muttergottes wurde von einem Haus zum anderen getragen, in jedem Haus blieb sie eine Woche lang, und die betreffende Familie musste in dieser Zeit den Rosenkranz beten; am Ende der Woche kam die Statue dann zu einer anderen Familie. Ich erinnere mich noch, dass die Familien mich immer als Vorbeter einluden, auch als ich noch ganz klein war. Das machte mir Spaß, denn so kam ich mal von zuhause weg und konnte mir die Wohnungen der anderen ansehen. Außerdem bekam ich nach dem Rosenkranz immer etwas zu essen, ein Stück Kuchen oder sonst etwas Süßes, und das gefiel mir natürlich sehr.

Als ich größer wurde, zeigten mir meine Verwandten, wie man aktives Mitglied einer christlichen Gemeinde wird. Unsere Beteiligung am Gemeindeleben basierte hauptsächlich auf den Besuchen der Sonn- und Feiertagsmessen, an denen wir regelmäßig teilnahmen. Mein Vater gehörte zu den Kolumbusrittern1 und meine Mutter zur katholischen Frauenliga,2 beides Organisationen, die karitative Initiativen zugunsten der Armen förderten.

Gab es eine Gestalt des Glaubens, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend besonders beeindruckt hat?

In unserer Gemeinde Nuestra Señora del Pilar in Imus gab es, als ich noch ein Junge war – 13 oder 14 Jahre alt ‒ einen jungen Priester namens Redentor Corpuz. Unser Haus war nur wenige Schritte von der Kathedrale und dem Marktplatz entfernt, sodass wir die religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Großereignisse von Imus aus nächster Nähe mitverfolgen konnten und immer daran teilnahmen. Padre Corpuz organisierte die Jugendtreffen und die Bildungsarbeit mit den Jugendlichen; besonders aktiv waren, soweit ich mich erinnere, die Kolumbusknappen, die an die Kolumbusritter angeschlossen waren. Ich wollte nicht bei ihnen mitmachen, aber mein Vater zwang mich hinzugehen. Ich muss gestehen, dass ich rückblickend doch froh darüber bin, dass er mich genötigt hat, denn in dieser Gruppe habe ich die Priester immer besser kennengelernt und viele Freunde gefunden. Wir waren an vielen Projekten beteiligt: angefangen beim Katechismus für die Kleinsten bis hin zu den weihnachtlichen Hilfsaktionen für die armen Gemeinden (wir haben Essensspenden ausgeliefert, Sportveranstaltungen für Jugendliche organisiert usw.). Wir haben auch einen Chor gegründet, um die Gottesdienste mitzugestalten (ich bin nicht ganz unmusikalisch).

Damals lernten wir und die anderen unter Anleitung von Padre Corpuz, Verantwortung für andere zu übernehmen. Seine Persönlichkeit beeindruckte mich sehr; er kam häufig zu uns nach Hause, unterhielt sich mit mir und wurde mir ein guter Freund. Ich fragte mich, weshalb dieser Mann, der doch älter war als ich, mein Freund werden wollte: Was fand er bloß interessant an einem Jungen wie mir? Denn er stellte mich vielen seiner Freunde vor, die in diesen Kreisen etwas zu sagen hatten; viele waren hochgestellte Persönlichkeiten, und sie alle waren gegen die Diktatur von Präsident Marcos. Ich war der Jüngste in diesem Grüppchen und hörte aufmerksam zu, wenn sie über Gerechtigkeit diskutierten, über Menschenrechte, über Freiheit … Ich verstand nicht alles, aber diese großen Fragen interessierten mich; und diese Personen, mit denen Padre Corpuz befreundet war, waren sehr bedeutend. Ich erinnere mich insbesondere an Yolanda Narvaez, die jetzt der Gesellschaft der Sozialen Schwestern angehört.3 Damals war sie
Mitglied einer Gruppe, die sich »Binhi« nannte, »Samenkorn«. Einige andere Mitglieder dieser Gruppe, zum Beispiel Pilar Capistrano und die Eheleute Erasmo, sind heute noch in der Fokolarbewegung aktiv, oder sie engagieren sich als Laien für die Evangelisierung (Mie Joson und Robert Castañeda) oder im karitativen Bereich (Lina Jacinto).

Sie haben es selbst gesagt: Die philippinische Volksfrömmigkeit ist Ihnen von klein auf vertraut. Wenn es etwas gibt, das dem westlichen Besucher auf den Philippinen besonders auffällt, dann ist es genau das: diese überaus verbreitete Volksfrömmigkeit. Ständig kommen die Leute aus der Kirche oder gehen hinein, bleiben vor den Madonnen, Jesus und Heiligenstatuen stehen und beten, manchmal auch mit lauter Stimme. Wie wichtig ist die Volksfrömmigkeit für Sie?

Einige Aspekte der philippinischen Volksfrömmigkeit sind ein Erbe der hispanischen Präsenz in un­serem Land (die kirchliche Jurisdiktion auf den Philippinen begann unter der mexikanischen Regierung). Dennoch bringt sie auch einen Aspekt der philippinischen Kultur zum Ausdruck, die den physischen Kontakt bevorzugt, das Anschauliche, die Riten, die Musik und Menschen, die zusammenkommen. Die Heiligenbilder und -statuen gewährleisten diesen Kontakt und geben den Gläubigen Sicherheit, was die Nähe Gottes, der Muttergottes und der Heiligen betrifft. Eine Heiligenstatue zu berühren ist kein Götzendienst, wie Außenstehende uns manchmal vorwerfen, sondern setzt Einbildungskraft voraus. Das heißt, die Leute wissen sehr genau, dass eine Statue aus Gips oder Holz nicht der Herr selbst, sondern nur ein Bild von ihm ist. Wir könnten sagen, dass Bilder und Statuen stellvertretende oder im weiteren Sinne sakramentale Hilfsmittel sind. Ein anderes Element, das hervorge­hoben werden muss, ist die Tatsache, dass die Volksfrömmigkeit neben der »offiziellen« Liturgie, die unverzichtbar bleibt (Messe, Sakramente usw.), den Armen und den einfachen Menschen eine Möglichkeit bietet, ihre Initiative und Kreativität auf eine Weise zum Ausdruck zu bringen, die von ihrer kulturellen Warte aus natürlicher und näherliegend ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Formen der Volksfrömmigkeit an der Basis angefangen haben und erst in einem zweiten Schritt von der offiziellen Autorität der Kirche anerkannt worden sind.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, dass die Volksfrömmigkeit den einfachen und armen Menschen ein weites Feld der aktiven Beteiligung eröffnet, das über das strukturierte Engagement der offiziellen Komitees oder Gruppen hinausgeht. Meiner Meinung nach führt die Beteiligung der Menschen am Glaubensleben größtenteils über die Volksfrömmigkeit. Außerdem müssen wir bedenken, dass wir es auch im Bereich der Volksfrömmigkeit mit einer sozialen Überschneidung zwischen Arm und Reich zu tun haben: Sie alle sind Philippiner, und die Volksfrömmigkeit verbindet sie alle über die sozialen Klassen oder kulturellen Unterschiede hinweg. So wird die Volksfrömmigkeit auf vielerlei Weise zu einem symbolischen Ort der Begegnung zwischen Glaube und Kultur.

Wie kann die Kirche diese besondere religiöse Ausdrucksform nutzbar machen?

Als Seelsorger sind wir uns der Risiken, die die Volksfrömmigkeit für den Glauben mit sich bringen kann – von übermäßiger Sentimentalität bis hin zum Synkretismus ‒, deutlich bewusst. Deshalb ist es wichtig, den Gläubigen eine solide biblische, katechetische und liturgische Bildung zu vermitteln. Die Mehrheit der katholischen Philippiner sind offen für dieses Angebot; im Übrigen muss die Inbrunst, die sich in den Andachtsformen äußert, im Gemeindealltag so kanalisiert werden, dass sie eine Beteiligung an den verschiedenen kirchlichen Aktivitäten begünstigt.

Nehmen wir als Beispiel das Fest des Black Nazarene (des Schwarzen Nazareners) von Quiapo:4 Die Gläubigen, die sich zu diesem Anlass in der Basilika versammeln, kommen zu einem großen Teil aus den armen Regionen und finden im leidenden Jesus einen Gefährten, der mit ihrem Leid vertraut ist. Sie wollen die Statue oder auch nur das Seil berühren, das an der Statue festgebunden ist. Es sind Menschen, die außer Jesus nichts haben, woran sie sich festhalten könnten. Dank der Initiative des Pfarrers und des örtlichen Komitees, das das Fest orga­nisiert, helfen viele dieser frommen, kranken und leidenden Menschen nun anderen Armen und Kranken. Auf diese Weise verwandelt sich die Volks­frömmigkeit in einen Dienst und eine gemeinschaftliche Tätigkeit. Ich muss hinzufügen, dass die Volksfrömmigkeit auch mir selbst sehr geholfen hat.

Bei welcher Gelegenheit?

Während meines Studiums in den Vereinigten Staaten, von 1987 bis 1991, habe ich immer die Novene zur Muttergottes von der immerwährenden Hilfe, zu den Schutzengeln und zum heiligen Antonius von Padua gebetet, der auch auf den Philippinen sehr bekannt ist. Zuhause war ich bei diesen Andachten oft der Vorbeter gewesen, doch jetzt, in den Vereinigten Staaten, war ich ein einfacher Gläubiger. Trotzdem spürte ich eine enge kulturelle und spirituelle Verbindung zu meinem Volk und zu meinen Leuten. In der Verwirrung und Traurigkeit, die einen manchmal überkommt, wenn man allein im Ausland ist, ist der Glaube, der sich in der Volksfrömmigkeit ausdrückt, tröstlich. Jetzt verstehe ich die Menschen besser, die Mittwoch für Mittwoch zur Muttergottes von der immerwährenden Hilfe beten! Während meiner Zeit in den Vereinigten Staaten konnte ich auch aus nächster Nähe mitansehen, mit welchen Problemen die Migranten zu kämpfen haben und wie schwierig es ist, sich selbst und die daheimgebliebene Familie zu ernähren. In den Vereinigten Staaten habe ich Familien Not leiden sehen, die auf den Philippinen sehr wohlhabend gewesen waren. Der Glaube und die Hoffnung, dass der auferstandene Herr wirklich jeden Tag die Sonne wieder neu aufgehen lässt, wurden für sie und für mich – jeden Tag ‒ entscheidend. Ohne den Glauben gibt es keine Hoffnung!

Inhalt

Einleitung

1 Einer aus dem Volk

2 Ein Arzt weniger, ein Priester mehr

3 Priester, um von den Armen zu lernen

4 Zweite Liebe Theologie

5 Manila, Philippinen

6 Asien heute und morgen

7 Die Ökologie und die »Genugtuung« der Enzyklika Laudato si’

Zum Abschluss …

Anmerkungen