Thomas Achenbach

Männer trauern anders

Was ihnen hilft und guttut

Patmos Verlag

ÜBER DEN AUTOR

Thomas Achenbach ist Redakteur, Blogger und zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des Bundesverbands Trauerbegleitung. Als Trauerbegleiter ist er spezialisiert auf die Themen Männertrauer und Trauer im Arbeitsleben. Er ist verheiratet und lebt mit Frau und Kind in Osnabrück.

Auf seinem Blog „Trauer ist Leben“ schreibt er über die Trauer und alles, was mit ihr in Verbindung steht: https://trauer-ist-leben.blogspot.com

ÜBER DAS BUCH

»Frauen weinen und Männer fressen alles in sich rein« – ganz so drastisch wie dieses Klischee sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zwar nicht. Dennoch unterscheidet sich die Herangehensweise von Männern, mit ihrer Trauer umzugehen und den Schmerz zu bewältigen, deutlich von der weiblichen. Aber wenn es nicht das Gespräch mit der besten Freundin ist – was tut trauernden Männern dann gut? Wie können Angehörige, Freunde oder Kolleginnen einen Mann in seiner Trauer unterstützen?

Anhand vieler Beispiele aus der Praxis und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen vermittelt der erfahrene Trauerbegleiter Thomas Achenbach umfassendes Wissen und praktische Tipps, um Männer in einer Verlustkrise ihren Bedürfnissen entsprechend unterstützen zu können.

Ein Buch, das hilft, trauernde Männer besser zu verstehen und zu begleiten.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-1131-2

IMPRESSUM

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© 2019 Patmos Verlag,

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in der Schwabenverlag AG, Ostfildern

www.patmos.de

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagabbildung: ████

ISBN 978-3-8436-1131-2 (Print)

ISBN 978-3-8436-1152-7 (eBook)

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Inhalt

Einleitung

1 Männer trauern, aber anders

Über die Unterschiede in der Trauer

2 Einfach niedergedrückt geht gar nicht

Männer und Ohnmacht

3 Männer reden, aber anders

Ein Ausflug in die Kommunikationswissenschaft

4 Rausch, Exzess und Depression

Wenn nur noch Extreme möglich sind

5 Schmerzfallen, Einsamkeit und ­Männergesundheit

Alltag ohne Alltäglichkeit

6 Arbeit trotz Trauer und Verlustkrise

Wohltuend und irritierend zugleich

Intermezzo: Wie finde ich einen guten ­Trauerbegleiter?

7 Männer und Musik

Wo sich Trauer ausleben lässt

8 Aufgaben bewältigen statt Phasen aushalten

Ein hilfreicher Perspektivenwechsel für Angehörige und Trauerbegleiter

9 Draußen sein ganz ohne »gestaltete Mitte«

Was trauernden Männern guttut

Nachwort: Von der Trauer zur Sinnsuche

Anhang: Trauerphasen-Modelle im Überblick

Anmerkungen

Dank


Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Dank

Ein besonders herzlicher Dank gilt der Berliner Buchautorin und Trauerbegleiterin Eva Terhorst, ohne die dieses Buch niemals zustande gekommen wäre.

Dank an alle Männer und alle Trauerbegleiterkollegen, die ihre Geschichten mit mir geteilt haben.

Dank an die Männergruppe innerhalb des Hospizvereins Hagen a. T. W. sowie an Klaus Schlautmann-Haunhorst.

Dank an meinen ganzen Ausbildungsjahrgang aus dem Haus Ohrbeck für das gegenseitige Stärken, Zutrauen und Lachen.

Dank an meine Familie für die Unterstützung und die Freiräume und an Katja wegen des zusätzlichen Stress-Abbekommens.

Ein dickes Danke muss noch gehen an Regina Holzinger-Püschel und ihre Initiative in Sachen Männertrauer.

Ihr habt alle einen wichtigen Teil hierzu beigetragen.

1 Männer trauern, aber anders

Über die Unterschiede in der Trauer

Es gibt keine Männertrauer – oder doch?

Damit wir uns richtig verstehen: Die Männertrauer, also die eine, nach festen Kriterien messbare – die gibt es nicht. Denn wie Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise reagieren, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und immer ganz individuell. Das gilt für Männer ebenso wie für Frauen. Ich kenne verwaiste Väter, die rund ein Jahr nach dem Verlust ihres Kindes trotz allem Schmerz und tiefer Verzweiflung eine gewisse seelische Stabilität erreichen konnten, wenn sie sich in Aktivitäten wie beispielsweise die Gartenarbeit stürzten. Aber ich kenne auch verwitwete Männer älteren Semesters, die nach demselben Zeitraum immer wieder regelrechte Tobsuchtsanfälle bekamen und sich – von außen betrachtet – so gar nicht »im Griff« zu haben schienen.

Man könnte sich fragen: Müsste das nicht umgekehrt sein? Müsste nicht ein Vater, der sein Kind verloren hat, immer wieder solche Tobsuchtsanfälle bekommen? Und müsste nicht der Witwer, der doch auf ein langes und hoffentlich erfülltes Eheleben zurückschauen kann, viel rascher zu einer neuen Stabilität zurückfinden? Die Erfahrung zeigt: Ganz so einfach ist es eben nicht. Das liegt alleine schon daran, dass es nach dem Verlust eines Menschen keine quantifizierbaren und immer gleichen Kriterien gibt, wie der Verlauf des Trauerprozesses zu sein hat, sein wird, sein sollte. Das ist tatsächlich bei jedem Menschen ganz anders, es gibt kein Muster, an das man sich halten muss, aber auch keines, das Halt geben könnte. Jeder Trauerweg verläuft anders und braucht seine eigene Zeit. Entlastung und vielleicht Heilung von dem Schmerz und der Verzweiflung finden Trauernde am ehesten dann, wenn sie ihren höchst individuellen Weg erkennen und gehen.

Viele Faktoren beeinflussen die Trauer: Ob es bereits persönliche Vorerfahrungen mit den Themen Tod und Verlust eines nahestehenden Menschen gibt, ist ebenso von Bedeutung wie die persönliche Disposition oder der bislang in der Familie oder im persönlichen Umfeld erlebte Umgang mit Krisen und Schicksalsschlägen.

Männer wie Frauen können erleben, dass einen die Trauer in einer Weise umpflügen und zu Boden werfen kann, wie man es sich nie zuvor hätte vorstellen können. Trauer kann jeden treffen und niederwerfen – muss sie aber nicht. Sie kann unmittelbar nach dem Verlust einer geliebten Person auftreten – oder erst Jahre später zum Vorschein kommen, langsam oder mit plötzlicher Wucht. Sie kann Menschen zerstören, sie jahrelang ohnmächtig gefangen halten – oder sie kann ein sanfter Stich im Inneren sein, der sich nur gelegentlich bemerkbar macht. Kurzum: Wie sich Trauer auswirkt, ist grundsätzlich und unabhängig vom Geschlecht sehr unterschiedlich.

Und doch gibt es Beobachtungen und Erfahrungen, die alle schon gemacht haben, die als Trauerbegleiter Menschen unterstützen oder sich in Hospiz- oder Palliativzusammenhängen bewegen: dass Männer sich dort kaum blicken lassen.

Trauercafés oder Trauergruppen werden zu 80 bis 90 Prozent von Frauen besucht. Auch die Mitarbeiter in diesen Einrichtungen sind, egal ob ehrenamtlich oder festangestellt, fast ausschließlich Frauen. Auch das Publikum auf der jährlich in Bremen stattfindenden Fachmesse »Leben und Tod« besteht zu 80 bis 85 Prozent aus Frauen. Die wenigen Männer, die an einer gemischtgeschlechtlichen Trauergruppe teilnehmen, geben sich oft zurückhaltend, bleiben schweigsam, reden wenig – anders als in einer rein männlichen Trauergruppe.

Was ist da los? Gibt es – neben den individuellen Unterschieden im Umgang mit Tod, Sterben und Trauer – typisch weibliche und typisch männliche Bewältigungsstrategien? Ducken sich die Männer lieber weg, wenn es um solche existenziellen Fragen geht? Ist ihnen das unangenehm, wissen sie nicht damit umzugehen?

Was mir ein Krankenpfleger aus einer Herzklinik von seinen Erfahrungen mit Männern berichtet, deutet jedenfalls in diese Richtung: Damit konfrontiert, lebensbedrohlich erkrankt zu sein, reagieren Männer oft mit einer Mischung aus Verdrängung und Humor. Sich darüber lustig zu machen, es erst einmal wegzulächeln, sich aber möglichst nicht damit auseinanderzusetzen, zumindest als Erstreaktion, das ist ein oft beobachtetes Muster.

Kein Wunder, dass eine besondere Ratlosigkeit auftritt, wenn es um den Tod eines Menschen geht. Denn dann lässt sich nichts mehr ignorieren.

Allein aus solchen Beobachtungen im Kontext von Trauerbegleitung und im Umgang mit Krankheit können wir schließen, dass Männer oft andere Empfindungen und Bedürfnisse in der Trauerkrise haben als Frauen. Es gibt Grenzen im persönlichen Ausdruck, die eine Frau jederzeit zu überschreiten bereit ist, ein Mann aber nicht. Sie sind nicht ganz so eindeutig erkennbar wie es zunächst den Anschein macht. Sie sind nicht so leicht zu finden, wie das Klischee es einem vorgaukelt. Aber es gibt sie. Im Folgenden erfahren Sie mehr darüber.

Der »neue« Mann – und warum er
trotzdem nicht weint

»Häufig wird Männern nachgesagt, sie hätten keine Gefühle. In meiner Wahrnehmung stimmt das nicht. Vielmehr sind die Gefühle der Männer oft so stark, dass sie selbst davor zurückschrecken.«6 Was der Paartherapeut und Burnout-Coach Henning Matthaei vom Hamburger »Partnerwerk« in einem Blogartikel schreibt, passt perfekt zum Phänomen der Männertrauer. Die Gefühle, die nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen auf einen einströmen können, sind heftig – und häufig überfordern sie Betroffene. Zumal es insbesondere Männern an Vorbildern im Umgang damit mangelt. Das hat historische Ursachen.

Wo kommt es eigentlich her, dieses Idealbild des harten Mannes, der seine Gefühle lässig abstreifen und als »einsamer Wolf« seinen eigenen Weg gehen kann? Durchstreifen wir die Geschichte, stoßen wir zumindest in Kunst und Literatur immer wieder auch auf einen anderen Typ Mann – den empfindsamen, nachdenklichen, sich auf spirituelle Sinnsuche begebenden, wie beispielsweise einen Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse. In der Zeit um 1900 finden wir in Musik, Kunst und Literatur häufig Ausdrücke großer Empfindsamkeit und damit einer starken Zugewandtheit an das Innenleben, auch bei Männern. Solche Bilder eines auch mal zarten Mannes waren übrigens nichts Neues und traten immer wieder im Kontrast zum Krieger und Helden auf – schon bei den alten Griechen lässt sich als Gegenpol zu Muskelprotz Herkules immer auch ein Apollo oder Narziss finden.

Unser heutiges Männerbild ist trotzdem noch immer geprägt vom 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der beiden Weltkriege, in denen Männer hart gegen sich und andere sein mussten, um selbst zu überleben. Zartheit und Empfindsamkeit bei Männern war in Kriegszeiten nicht gefragt, war verboten und lebensgefährlich. Und in der Folge verstummten die meisten derer, die das Grauen überlebt haben, behielten das Unaussprechliche, das Entsetzen für sich. Viele zerbrachen daran, viele konnten das Leben nicht ertragen. Ein Mann, der leidet, war in diesem Stereotyp nicht vorgesehen – einer, der sich selbst umbringt, war in dieser Sichtweise vielen schon eher verständlich.

Aber das Männerbild ändert sich seit einigen Jahren wieder, zumindest in Gesellschaften, in denen in den vergangenen Jahrzehnten die feministische Emanzipationsbewegung das Frauenbild bereits grundlegend verändert hat. Was heute oft als »Krise der Männlichkeit« bezeichnet wird, können wir auch als Gestaltungsprozess begreifen – als gesellschaftlich nötige und – mehr oder weniger – akzeptierte Wandlung hin zu etwas Anderem. Einer Mischform vielleicht. Einsamer Wolf, gerne, aber reflektiert und mit neuer Lebenskompetenz. Der »moderne Mann« darf gerne hart bleiben, aber nicht etwa, weil das die allgemeine Erwartungshaltung ist, sondern weil er gelernt hat, mit sich selbst auch im Bereich der Psychohygiene gut umzugehen.

Es hat sich bereits viel getan, was männliche Rollenbilder angeht. Manches ist gut. So darf ein Mann heutzutage durchaus Gefühle zeigen und seine sanfte Seite ausleben. Teilweise wird das sogar erwartet, was Männer durchaus auch belasten kann. Die vielen unterschiedlichen Erwartungen, die vor allem von weiblicher Seite, aber auch von Arbeitgebern an die Männer heute gerichtet werden, sorgen für zusätzlichen Stress und für Unsicherheiten. Immer schön flexibel sein hinsichtlich Arbeitszeiten und Arbeitspensum, aber gleichzeitig als Familienvater jederzeit auch für die Lieben da sein. Immer hart und machermäßig an der Front der Gestalter im Berufsleben, aber gleichzeitig auch weich, zart, liebevoll und verständnisvoll im sozialen und privaten Leben. Erfolgreich, gut aussehend, ein versierter Handwerker, auch ein selbstbewusster Mann, der harte Kritik jederzeit einstecken und locker kontern kann. Und natürlich ist dieser Mann gleichzeitig muskulös und durchtrainiert durch viel Sport und Bewegung, für die genug Zeit bleibt, weil ein echter Mann kaum mehr als fünf Stunden Schlaf braucht. Der Titel eines lesenswerten Buches von Marc Brost und Heinrich Wefing bringt dieses Dilemma deutlich auf den Punkt: »Geht alles gar nicht«.7

Aber wie soll er denn nun sein, der neue Mann? Mann und Vater, beruflicher Aufsteiger und guter Heimwerker, verständnisvoller Zuhörer und harter Durchsetzer – und alles in Personalunion? Wirklich? Und was, wenn kommende globale Ereignisse alles wieder über den Haufen werfen, was wir in mühseliger Kleinstarbeit erarbeitet haben? Gerade diese vielen und sich teilweise widersprechenden Anforderungen könnten es sein, die viele Männer wieder zu einem traditionalistischen Männerbild verleiten, vermutet der Professor und Buchautor Josef Christian Aigner (»Der andere Mann«) vom Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung.8

Der Philosoph Richard David Precht sagte im Jahre 2010 der Zeitschrift Cosmopolitan: »Es ist auch interessant, dass Muskeln immer in Zeiten wichtig werden, wenn kein Krieg herrscht, wenn ein starker, aggressiver Mann also weder gebraucht noch gesellschaftlich erwünscht ist.«9

Und der britische Autor Jack Urwin spricht in seinem Buch »Boys don’t cry« von der »toxischen Männlichkeit«.10 Er meint damit jenes allgemein anerkannte Vorbild eines starken, scheinbar unberührbaren und harten Mannes, der nicht über seine Gefühle spricht und niemanden in seine Seele gucken lässt. Welche Folgen das haben kann, macht Urwin ebenfalls klar: Als Ventil suchen sich Männer Sport, Alkohol, Sucht – oder Gewalt. Gegen andere oder gegen sich selbst. Diese Art Männlichkeit beschreibt der Autor also als Gift sowohl für den Mann als auch für sein persönliches Umfeld.

In vielen Zeitschriften oder Blogbeiträgen finden wir seit einigen Jahren jedoch auch immer wieder Geschichten wie die von Arne Gericke, dem »Spitzenvater des Jahres 2012«, der über mehrere Jahre seine ehemals 60 Stunden dauernde Arbeitswoche gegen die Tätigkeit als Hausmann und eine kleine Selbstständigkeit eintauschte – zu seiner eigenen Zufriedenheit.11 Doch die Wirklichkeit sieht meist anders aus: Sobald Kinder auf der Welt sind, geraten die meisten Paare in die klassische Geschlechterfalle. Er verdient dann das Geld, weil er meistens mehr davon bekommen kann als sie beziehungsweise weil Männer immer noch besser bezahlt werden als Frauen. Und sie bleibt daheim, kümmert sich um Kinder und Haushalt, versucht aber noch in Teilzeit ihren alten Beruf auszuüben, sofern ihr das Unternehmen familiengerechte Zeiten anbieten kann. Dadurch wird der Organisationsdruck auf die Einheit Familie nochmal erhöht. Die Männer beißen in dieser stetigen Überforderung »männlich« die Zähne zusammen – und die Frauen ebenso, damit sie beide gemeinsam es irgendwie schaffen. Manche Frau wird sich vielleicht ab und zu bei ihrer Freundin darüber aussprechen und auch mal weinen – Männer werden das eher nicht tun.

Zwar darf ein Mann heute der liebevolle Kümmerer sein, der auch seine sanften Seiten ausleben kann, aber es bleibt noch immer bei einem der gefühlt größten Tabus, die es seit jeher für Männer gegeben hat: Ein Mann darf nicht weinen. Jedenfalls nicht öffentlich, nicht vor anderen. Denn das gilt noch immer als eine unverzeihlich große Schwäche – zumindest in der Wahrnehmung der Männer selbst. Auch heute noch, allen Veränderungen der Geschlechterbilder zum Trotz.

Das belegt die im Jahr 2014 veröffentlichte sozialwissenschaftliche Untersuchung zum Thema »Jungen und Männer im Spagat – zwischen Rollenbildern und Alltagspraxis«, die im Auftrag des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht worden ist.12 Die Forschung ergab eindeutig: Moderne Männer wollen Härte zeigen. Vor allem gegenüber sich selbst. Das ist ihnen wichtiger als den Frauen.

Also: Weinen? Nein.

Dieses allgemeine Männerbild, die Erwartungen, die Männer selbst an sich stellen, und auch die, die sie seitens anderer wahrnehmen, erhöhen die Irritationen enorm, wenn es um den Verlust eines geliebten Menschen geht.

So schildert es auch ein 24-jähriger junger Mann, mit dem ich mich für dieses Buch über seine Trauergeschichte unterhalte. Ich nenne ihn hier Frank. Als er das erste Mal in seinem Leben mit Tod und Trauer konfrontiert wird, sterben kurz hintereinander gleich zwei Personen aus seinem unmittelbaren Umfeld: Erst stirbt seine Uroma, dann einer seiner Großväter. 15 Jahre alt, mitten in einer Hochphase der Pubertät, weiß der Junge nicht, wohin mit seinen irritierenden Gedanken und Gefühlen. Dafür fehlt ihm ein Muster, so etwas trifft ihn unvorbereitet. Zu den Beerdigungen will er erst gar nicht mitkommen, lässt sich aber dennoch beide Male überreden. Auch, weil er durch seine Erfahrung als Messdiener bereits mit dem Ablauf solcher Feierlichkeiten vertraut ist. Nur dass er diesmal nicht mit dem Ablegen des Messdienergewands zurück in sein ursprüngliches Leben gehen kann, weil es dieses Leben so, wie es war, eben nicht mehr gibt. Mit seinen Kumpels darüber reden? Unmöglich. Pubertäre Unsicherheiten und selbstverständliche Vorstellungen von männlicher Coolness stehen dem im Weg. Was also tun?

Frank erinnert sich an das starke Bedürfnis, Antworten zu finden. Es ist vor allem eine Frage, die ihn – übrigens auch heute noch – beschäftigt: Was genau ist eigentlich dieses Sterben? Was geschieht da? Wie läuft es ab? Er sucht Antworten im Internet, später auch in verschiedenen Büchern, aber nichts spricht ihn wirklich an. Erst in den Werken der Psychologin Elisabeth Kübler-Ross und in ihrer Definition der Sterbephasen findet er Erklärungen, die er als befriedigend erlebt.

Frank verfolgte mit diesem Vorgehen eine klassisch maskuline Strategie im Umgang mit diesen Themen: sich Wissen aneignen, sich über den Verstand annähern, nicht über das Gefühl – das beschreiben auch Trauerbegleiter, mit denen ich gesprochen habe, einhellig als »typisch männlich«. Auch im persönlichen Umfeld nicht darüber reden zu können, gehört dazu, da Männer offenbar auch heute noch eher davon ausgehen, dass sie eine solche »Schwäche« nicht zeigen sollten und diese einem Mann nicht zugestanden wird. Auch nicht mit 15.

Für viele Männer gilt noch immer die Regel: Wenn ein Mann leiden muss – was alle Männer irgendwann müssen, da es eben zum Menschsein gehört –, dann muss er das im Stillen tun. Daran hat sich nichts geändert. Wenn Männer ihr Leiden ins Innere verlagern und ihre Schmerzen schweigsam aushalten, erleben wir das als »normal« und angemessen, allen modernen Diagnosen und Bekenntnissen zum Trotz. So bleibt es eine Ausnahme, dass z. B. durch den Suizid Robert Enkes eine öffentliche Diskussion darüber aufgeworfen wurde, welche Qualen der unter Depressionen leidende Fußballer wohl erlitten hatte und warum er keinen Ausweg finden und sich keine Hilfe suchen konnte.

In Männertrauergruppen treffen oft jüngere Männer mit einem neueren Bild von Männlichkeit auf Männer der älteren Generation, die noch mit ganz anderen Werten aufgewachsen sind. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Ein Junge darf nicht weinen«, solche und ähnliche Sprüche gehörten lange zur Erziehung dazu. Und dass in Deutschland die Prügelstrafe in Schulen offiziell erst 1973 per Gesetz verboten wurde, ist ein guter Beleg dafür, wie lange sich Härte und Fügsamkeit als optimale Währung eines gut erzogenen Kindes – vor allem eines Jungen – gehalten haben. In dieser älteren Generation war für Trauer oft gar kein Platz, zu überwältigend waren die Ereignisse, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte und in deren Strudel die Familien oft nur ein einziges Ziel hatten: irgendwie weitermachen. Manchmal auch einfach nur: irgendwie überleben.

Kennzeichnend für diese Generation: Viele Kinder wuchsen ohne Männer auf. Denn während des Krieges waren die Väter oft weit weg von ihren Familien als Soldaten im Einsatz oder später in Kriegsgefangenschaft – und viele kehrten nie mehr zurück.

In unserer Familie gibt es die Geschichte von meinem Großvater, der als Funker im Kriegseinsatz ebenfalls weit weg von der Familie sein musste. Als er einmal seine wenigen Urlaubstage daheim verbrachte, hielt ihn einer seiner Söhne – gefragt, wer denn der Mann wohl sein könnte – für den Nikolaus. Das mag zum Schmunzeln anregen, aber wer selbst Vater ist, ahnt, wie hart es einen treffen kann, wenn das eigene Kind nicht »Papa« zu einem sagen mag, weil es keinerlei Verbindung zu dem Vater hat. Diese scheinbar harmlose Anekdote ist exemplarisch für das, was einer ganzen Generation fehlt: ein erkennbarer Gegenpol zum Mütterlichen und wohl auch ein zweites Vorbild.

Befeuert von dem typischen Erziehungsstil der 1930er-, 1940er-, auch noch der 1950er-Jahre, in dem Nähe und Zärtlichkeiten insbesondere für Jungen als weich und unangebracht aufgefasst wurden, lernten diese Kinder vor allem eines: ihre Gefühle abzuspalten, sie wegzudrücken, psychologisch ausgedrückt »zu externalisieren«. Noch besser: sie gar nicht erst wahrzunehmen.

Und dann, konfrontiert mit einem Trauerfall, fehlt es vor allem Männern an Vorgelebtem. Wie verhält sich ein Mann, wenn seine Frau, seine Mutter oder sein Kind gestorben ist? Viele der Väter und Großväter, an denen sich die Jüngeren natürlicherweise orientiert hätten, waren umgekommen, und die über­lebt hatten, waren hart geworden, weil sie so viel Tod und Sterben hatten sehen müssen.

Wie können Männer gut mit dem Tod umgehen, wie darauf reagieren? Menschen geraten durch das Erleben von Sterben und Tod in eine Grenzsituation, die sie massiv in die Ratlosigkeit hineinwirft. Und Männer wissen dann oft gar nicht, wie sie nun auf den Aufruhr reagieren können, der da plötzlich in ihnen tobt und ihnen keine Ruhe lässt. Auf die Dauer können sie ihn nicht wegdrücken oder ignorieren. Denn selbst wenn das lange Zeit gelingt, irgendwann »läuft das Fass über«. Oder es geschieht Schlimmeres.

  

1. Männer trauern im Geheimen, sie sind innerlich mit dem Erleben befasst, aber äußerlich ist das nicht oder nur kaum erkennbar. Statt über ihren Kummer zu sprechen, machen sie ihn lieber mit sich selbst aus. Sie sehen beziehungsweise nutzen kaum Möglichkeiten, ihr Innenleben benennen und besprechen zu können.

2. Männer reden weniger über ihre Gefühle, jedenfalls solange sie sich nicht rundum wohlfühlen. Erstens, weil sie allgemein weniger reden, und zweitens, weil sie das schlicht ungern tun oder es auch einfach nicht können. Ein Grund dafür kann sein, dass sie nie oder kaum gelernt haben, ihre Gefühle überhaupt wahrzunehmen. In Männergruppen allerdings gehen auch Männer durchaus einmal in die Tiefe – solange die Rahmenbedingungen stimmen. Sie brauchen die Vertrautheit einer ihnen angenehmen Gruppe, um die Gefühle irgendwo lassen zu können. Das könnte durchaus auch die Gruppe der Kartenspieler sein, wenn diese denn nicht nachlassen würde in ihrer Empathie. Weil sich Männer aber gleichzeitig weniger um die Pflege sozialer Netzwerke kümmern als Frauen – dazu gibt es in Kapitel fünf noch mehr Information und Belege –, haben sie allgemein weniger Kontakte.

3. Männer gehen mit dem Verstand an Themen wie Trauer und Verzweiflung heran, sie wollen Wissen sammeln. Frauen gehen über das Gefühl, sie wollen ausleben. Dass sich dieses innere Chaos oft nicht von selbst sortiert oder sortieren lässt, irritiert Männer dann eher als Frauen. Wenn also einem männlichen Trauernden nach rund einem Jahr gespiegelt wird, nun müsse es aber auch mal gut sein (was übrigens, mit Verlaub, totaler Quatsch ist), beginnt er eher an sich selbst zu zweifeln als manche Frau.

Ich bin überzeugt, dass Männer generell eher als Frauen dazu neigen, daran zu zweifeln, ob sie noch »ganz bei Trost« sind. Trauernde Männer fragen mich tatsächlich oft, ob sie noch ganz bei Trost seien – im Zusammenhang mit Trauer eine bemerkenswerte Formulierung, denn unter dem Eindruck eines großen Verlustes ist ja niemand »bei Trost«. Dass sich auch bei dem trauernden Vater in seiner Kartenspielgruppe sowohl das Gefühl breitmachte, nicht verstanden zu werden, als auch die Frage, ob das denn alles noch ganz normal sein könne, ist nachvollziehbar.