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Jörg Heinrich

THOMAS MÜLLER

Das Phänomen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: imago sportfoto

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH

ISBN 978-3-7307-0293-2

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1
Alle lieben Müller: Ein Mann wie „Bambi“

KAPITEL 2
Ortstermin: Das Phantom von Pähl

KAPITEL 3
Der Chef: Karl-Heinz Rummenigge über Thomas Müller

KAPITEL 4
„Müller spielt immer“: Durchbruch unter Louis van Gaal 2009

KAPITEL 5
Der König von Afrika: Die WM 2010

KAPITEL 6
Humor à la Müller: Der Karl Valentin des Fußballs

KAPITEL 7
Es war einmal in Pähl: Der junge Müller

KAPITEL 8
Der doppelte Müller

KAPITEL 9
Kleines dickes Müller vs. großes dürres Müller: Fritz von Thurn und Taxis vergleicht

KAPITEL 10
Weltmeister samma, den Pott hamma: WM 2014

KAPITEL 11
„Ein außergewöhnlicher Vogel“: Marcel Reif über Thomas Müller

KAPITEL 12
„We have a big breast“: Die 50 besten Müller-Sprüche

KAPITEL 13
Lost in France: Die Null-Tore-EM 2016

KAPITEL 14
Mrs. Müller: Die etwas andere Spielerfrau

KAPITEL 15
Kult-Kommentator über Kult-Kicker: Frank Buschmann über Thomas Müller

KAPITEL 16
Vom „Drama dahoam“ nach Wembley: Champions-League-Sieger 2013

KAPITEL 17
„Held, was er verspricht“: 25 frei erfundene Thomas-Müller-Schlagzeilen

KAPITEL 18
Der Raumdeuter: Taktik-Experte René Marić über Thomas Müller

KAPITEL 19
Die Helene Fischer des Fußballs: Werbestar Müller

KAPITEL 20
Der Mann mit der großen Nase: Superstar in China und anderswo

KAPITEL 21
Der Fan: Stefen Niemeyer über „Feiermonster“ Müller

KAPITEL 22
Auf dem Rücken der Pferde: Müller und die Hengstvideos

KAPITEL 23
(K)eine große Liebe: Thomas Müller und Pep Guardiola

KAPITEL 24
Der Start unter Carlo Ancelotti: Ächz, außen!

KAPITEL 25
Dürfte sogar CSU-Mitglied sein: MdB Lars Klingbeil über Thomas Müller

KAPITEL 26
Müller morgen: Ein Mann fürs Fernsehen?

KAPITEL 27
Zahlen bitte: Die Müller-Statistiken

Danksagung

Der Autor

KAPITEL 1

Alle lieben Müller: Ein Mann wie „Bambi“

Alle lieben Thomas Müller. Um es auf den Punkt zu bringen: Wer Thomas Müller nicht leiden kann, der hat kein Herz, sondern sich wahrscheinlich auch damals im Kino gewünscht, dass „Bambi“ vom Traktor zerhäckselt wird. So unfassbar beliebt wie heutzutage Thomas Müller in Deutschland war früher nur Inge Meysel, die langjährige „Mutter der Nation“ – aber auch nur, wenn sie im Fernsehen die Lottozahlen vom kommenden Samstag vorgelesen und dabei einen Schäferhund gestreichelt hätte.

Als ganz Deutschland im Herbst 2016 nach einem neuen Bundespräsidenten fahndete, brachte die „Tagesschau“ auf ihrer Internetseite diese Meldung: „Bundespräsident: Auf der Suche nach dem Konsens-Kandidaten.“ Daneben prangte ein Foto von Thomas Müller. Gut, das war ein Versehen, aber vorstellen hätte man sich das schon können – wenn da nicht die fatale Geschichte mit der Altersgrenze gewesen wäre. Der Bundespräsident muss bekanntlich mindestens 40 Jahre alt sein, während Thomas Müller ja erst 27 ist. Bundespräsident kann er also frühestens im Jahr 2032 werden, dann aber ganz bestimmt.

Thomas Müller ist laut einer aktuellen Umfrage bei Deutschlands Kindern und Jugendlichen der zweitbeliebteste Promi nach Justin Bieber – wobei man sagen muss, dass Müllers traditionelles „Humba Täterä“ vor der Südkurve der Allianz Arena den Ohren deutlich mehr Freude macht als jeder Hit vom jungen Herrn Bieber. Ähnlich populär wie Thomas Müller sind bei den Kids eigentlich nur die YouTube-Beauty-Bloggerinnen Bibi Heinicke und Dagi Bee. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie unfassbar beliebt der Müller sein könnte, wenn er auch noch einen Schminkblog auf YouTube eröffnen würde.

Heute stellen sich selbst Fans von Werder & Co. brav und geduldig an, um ein Selfie mit Thomas Müller, Manuel Neuer oder Philipp Lahm machen zu dürfen. Selbst der immer kritische Matthias Sammer vergaß am Ende seiner Amtszeit als Sportvorstand beim FC Bayern das gewohnte Nörgeln und lobte Müller, das nimmermüde Duracell-Häschen aus Pähl, über den grünen Klee. „Thomas verkörpert alles, was den FC Bayern auszeichnet: Selbstbewusstsein, Lockerheit, Bescheidenheit, Demut. Und er ist absolut leistungsfähig, er ist eine absolute Identifikationsfigur, ein absolutes Juwel und nicht zu ersetzen“, sagte Sammer. Und das war absolut richtig.

Deutschlands reifere Frauen kürten Müller vor der Europameisterschaft 2016 in Frankreich zu ihrem Lieblingsnationalspieler. Achtzehn Prozent der Leserinnen des Fachmagazins Frau im Spiegel wählten Thomas zu ihrer Nummer eins, der damit Vorjahressieger Manuel Neuer ablöste, der nur noch auf sechzehn Prozent kam. Sogar die Entwickler des Fußball-Videospiels „FIFA 17“ ließen sich vom unwiderstehlichen Müller-Charme einlullen und bewerteten Pähls besten Fußballer aller Zeiten deutlich besser, als es seinen reellen Leistungsdaten entsprochen hätte.

„Müller ist in nichts besonders gut. Er ist kein großer Dribbler und schießt auch nicht besonders gut – sein Abschluss geht manchmal sehr, sehr daneben. Auch seine Schussstärke ist nicht gerade berühmt“, verriet der Kölner Spieleproduzent Michael Müller-Möhring, der in Deutschland für die Spielerbewertungen in „FIFA 17“ zuständig ist, dem Sportsender ESPN. Macht aber nichts – dann muss man eben ein bisschen tricksen. Und so wurde aus Einzelwertungen von durchschnittlich 72 Punkten am Ende doch noch eine stolze Gesamtpunktzahl von 87, die alle Gesetze der Mathematik aushebelte – und die Müller unter den besten zehn Spielern der Bundesliga immerhin noch auf Platz neun hievte. Kein anderer Fußballer genoss in der neuesten „FIFA“-Ausgabe so eine Sonderbehandlung. Bei korrekter Beurteilung von Thomas Müllers Leistungswerten, so Experte Müller-Möhring, würde „am Ende eine Bewertung herauskommen, die in unseren Augen keinen Sinn ergibt“. Wir lernen daraus: Der Fußballer Thomas Müller entzieht sich jeder rationalen Bewertung.

Wenn dieser ganz besondere Müller-Faktor dazukommt, dann drückt nicht nur Electronic Arts zwei Augen zu, einer der weltgrößten Spielehersteller, der hinter „FIFA 17“ steht. Wenn heutzutage eine Firma von sich reden machen will  – dann veröffentlicht sie am besten eine Umfrage, in der Thomas Müller vorkommt. Denn dann ist der Erfolg garantiert. Die Website der Bild etwa fragte im Vorfeld der EM 2016, mit welchem Nationalspieler sich die deutschen Fans am liebsten das Zimmer teilen würden. Sieger wurde natürlich Thomas Müller, mit 13,2 Prozent der Stimmen (16,9 Prozent bei den Männern, 8,1 Prozent bei den Frauen).

Der Playboy erkundigte sich vor der Europameisterschaft, mit wem seine Leser am liebsten ein Bierchen heben würden (vom aktuellen „Playmate des Monats“ mal abgesehen). Auch hier der Sieger, mit beinahe einem Viertel der abgegebenen Stimmen: Thomas Müller. Keine Abstimmung ist zu doof, als dass sie nicht mit dem Namen Müller für jede Menge Aufsehen sorgen würde.

Ein Ferienhausportal wollte wissen, welchen Fußballer die Deutschen am liebsten mit in den Urlaub nehmen würden. Den Sieg holte sich wie immer Thomas Müller, mit dem jeder zweite Deutsche gerne verreisen würde. Auch dagegen kann sich der arme Thomas nicht wehren. Der zweitplatzierte Robert Lewandowski war chancenlos gegen Müller und kam nur auf bescheidene acht Prozent. Und 35 Prozent der Deutschen würden laut Umfrage eines Lotterieveranstalters nach einem Lottogewinn am liebsten Thomas Müller finanziell unter die Arme greifen – wobei man bei einem Blick auf den Gehaltszettel vermutlich feststellen würde, dass die Not im Hause Müller durchaus überschaubar ist. Man ist daheim in Straßlach (und demnächst in Otterfing) nicht unbedingt auf fremde Lottogewinne angewiesen.

Warum also mögen wir alle diesen Müller so? Weil er so wunderbar naturbelassen jubelt, weil seine herzige Spielerfrau Lisa eigentlich gar keine Spielerfrau ist, weil er die unmöglichsten Tore möglich macht, weil er die besten Sprüche der Bundesliga (und weit darüber hinaus) klopft, weil er keinen Lamborghini fährt, weil seine Haare garantiert noch nie gestylt wurden, weil er nicht einmal tätowiert ist, weil er sich nie verletzt (vier verpasste Spiele seit 2009!), weil er der Nachfolger vom großen Gerd Müller ist, weil er rackert bis zum Umfallen und weil wir das Gefühl haben: Der Müller Thomas, der ist noch einer von uns – bloß, dass er halt zufällig ein bisserl besser Fußball spielt als wir. Aber auch nicht so erschreckend gut wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo. Der Fußball, den Thomas Müller draufhat, wirkt irgendwie noch greifbar, volksnah. Auch das macht ihn so sympathisch.

Es ist höllisch schwer, gegen diesen Thomas Müller anzukommen, gegen diesen Anarchisten, Hundling, gegen den lässigsten Kicker der Welt. Dortmunds Trainer Thomas Tuchel soll gerade ein neues Rezept gegen Müller, gegen den FC Bayern entdeckt haben. Der asketische Fußballlehrer will die Münchner nun auch mit Meditation und Yoga besiegen, heißt es. Deshalb lasse er jetzt zweimal pro Woche Dr. Ulrich Bauhofer aus München einfliegen. Der Ayurveda-Guru gilt als Kapazität für die Kunst der Versenkung, wie sie bereits im 6. Jahrhundert der chinesische Großmeister Chi-Chi (nicht zu verwechseln mit Gigi Buffon, der erst schätzungsweise im 8. Jahrhundert geboren wurde) lehrte. Doch einen besseren Experten für die Kunst der Versenkung als Thomas Müller wird auch der BVB nicht auftreiben. Zwanzigmal hat Müller allein in der Bundesligasaison 2015/16 die Kugel im gegnerischen Tor versenkt. In Sachen Versenken sollte Thomas Tuchel daher noch einmal tief in sich gehen.

KAPITEL 2

Ortstermin: Das Phantom von Pähl

Am Ortseingang das große Schild: „Die Thomas-Müller-Gemeinde Pähl heißt ihre Besucher willkommen.“ Nur 100 Meter weiter eine riesige Holzschnitzerarbeit mit den ineinander verschlungenen Wappen des TSV Pähl und des FC Bayern München: „Pähl, Heimat von Fußball-Weltmeister Thomas Müller“.

So stolz, so prahlerisch, so protzig … würde Pähl seine Gäste niemals begrüßen. Die Wahrheit schaut so aus: Die riesigen Anschlagtafeln am Ortseingang, auf denen zum Beispiel Wallgau lange Zeit seine Biathlon-Königin Magdalena Neuner hochleben ließ  – in Pähl fehlen sie komplett, was überaus angenehm, bescheiden und zurückhaltend wirkt. Der Müller würde so ein Remmidemmi ohnehin nicht mögen und die Leute in Pähl erst recht nicht. Wenn Thomas Müller ungefähr einmal im Monat heimfährt, zu Mama Klaudia, zu Papa Gerhard, zu Bruder Simon, und dann jedes Mal an seinem eigenen Gesicht vorbeikäme, das ginge gar nicht. Es langt schon, dass überall die Rewe-Reklame mit dem Müller rumsteht.

Im Gegenteil: Wer durch Pähl schlendert, tut sich schwer, auch nur den kleinsten Hinweis darauf zu finden, dass hier ein Superstar des Weltfußballs seine Wurzeln hat. Thomas Müller ist das „Phantom von Pähl“, der große Unsichtbare in seinem Heimatdorf. Selbst am Tag vor dem EM-Finale 2016 in Frankreich ist Pähl praktisch fußballfrei. Hier müllert es nicht. Keine Autos mit Fahnderl brausen durch den Ort. Und die Gärten der alten Bauernhöfe und der neuen Einfamilienhäuser sind nicht schwarz-rot-gold beflaggt. Das mag daran liegen, dass Thomas Müller und Kollegen zwei Tage zuvor gegen den Gastgeber ausgeschieden sind. Und vielleicht auch daran, dass Null-Tore-Müller zwei Jahre nach dem WM-Titel eine für seine Verhältnisse recht bescheidene Europameisterschaft spielte. Aber man möchte beinahe wetten: So wie Pähl und seine Pähler ticken, wäre es hier genauso stad, genauso ruhig, wenn Thomas Müller tags darauf als triumphaler EM-Torschützenkönig im Finale gegen die Portugiesen, gegen Cristiano Ronaldo, um den Titel spielen würde.

Aber wie ticken sie eigentlich, die Pähler? Bürgermeister Werner Grünbauer, überraschend nicht von der CSU, die die Erfindung des prächtigen Freistaats Bayern und all seiner Herrlichkeiten für sich reklamiert, sondern von der Unabhängigen Bürgerliste, findet vor allem ein Wort: „Beschaulich“. Im Bayerischen Fernsehen regte er sich beinahe unbeschaulich auf, weil der Reporter sich erkundigte, warum in Pähl nicht mehr vom Thomas-Müller-Fieber zu spüren sei: „Ganz Pähl muss irgendwo ausflippen, weil der Thomas Müller halt jetzt da eine tragende Rolle spielt? Aber das ist natürlich nicht so. Das ist ein beschaulicher Ort, die Bürger sind beschaulich.“ Grünbauer denkt jetzt allerdings darüber nach, eine Turnhalle nach Thomas Müller zu benennen – für Pähler Verhältnisse beinahe schon eine kleine Revolution. Ein Müller-Denkmal würde er dagegen für übertrieben halten, zumindest vorerst: „So etwas bekommt man nach Lebzeiten für sein Lebenswerk, und nicht mit 24 oder 25 Jahren.“ Anatomisch wäre ein Müller-Denkmal auf jeden Fall interessant, auch wenn die Gefahr bestünde, dass die dürren Haxen und Ärmchen des spargelbeinigen Superstars beim leichtesten Windhauch vom Denkmal abbrechen. Denn nicht nur Bürgermeister Grünbauer weiß: „Der Müller hat ein Gestell, das ist unvergleichbar. Den erkennst du aus 200 Metern Entfernung.“

Der Duden beschreibt die Pähler Beschaulichkeit, in der der kleine Müller groß wurde, ganz wunderbar als „in Wohlgefühl vermittelnder Weise geruhsam“. Zur Vertiefung gibt’s noch die synonymen Adjektive „besinnlich, betulich, friedlich, gemütlich, geruhsam, idyllisch“ mit auf den Weg. Und genauso fühlt es sich an, das Örtchen Pähl mit seinen knapp 2.400 Einwohnern im beschaulichen Pfaffenwinkel, das vom Ausflippen mindestens so weit entfernt ist wie Thomas Müller von einem Wechsel zu den Münchner Löwen (Gott behüte!). Wer verstehen will, warum der Müller Thomas zum Müller Thomas wurde, zum bodenständigsten, zum entspanntesten, zum schlitzohrigsten Kicker mindestens seit „Katsche“ Schwarzenbeck, der muss sich in Pähl umschauen. Ein Mann, ein Ort. Hier werden keine coolen Hip-Hopper wie Jérôme Boateng groß und wahrscheinlich auch keine Mario Götzes. Hier gedeihen Müllers mit spindeldürren Haxen.

Wobei man sagen muss: Es gibt tatsächlich einen Müller in Pähl, der unübersehbar mitten im Ortszentrum auf sich aufmerksam macht – allerdings keinen Thomas, sondern ein Wirtshaus. „Müllers Lust“ heißt das Restaurant mit deutschösterreichischer Küche, das erst seit Januar 2016 unter neuer Leitung in der über 400 Jahre alten Pähler Hofmarkmühle ansässig ist. Das „Müllers Lust“ ist Wirtshaus und Greißlerei gleichzeitig. (Wer sich erkundigt, was eine Greißlerei ist, der erfährt, dass der Österreicher, der sich sprachlich längst auch in Bayern ausgebreitet hat, ein kleines Geschäft, quasi einen Tante-Emma-Laden, als „Greißlerei“ bezeichnet. Und tatsächlich: Zum Wirtshaus gehört ein kleiner, feiner Hofladen, der allerlei Spezialitäten verkauft – Selbstgemachtes, Eingelegtes, Eingekochtes, Vergorenes und Gebranntes.) Dass „Müllers Lust“ ausgerechnet „Müllers Lust“ heißt, lässt sich mit der Geschichte der Hofmarkmühle allemal gut begründen. Und dass ein Müller-Wirtshaus mitten im Müller-Dorf steht, kann dem Umsatz bestimmt nicht schaden. Das Spekulieren auf den Müller-Tourismus sei den tüchtigen Wirtsleuten Annabelle und Josef Hohensinn verziehen, denn die Grammelknödel „von dahoam“, die der Josef zaubert, und die handgwuzelten Schupfnudeln als Nachspeise sind von wahrhaft Müller’scher Qualität, also weltmeisterlich. Ein Besuch wird dringend empfohlen.

Direkt gegenüber von „Müllers Lust“ war ein anderer Prominenter quasi daheim, nämlich der Sänger Peter Maffay, seit vielen Jahren ansässig in Tutzing am Starnberger See, nur elf Kilometer von Pähl entfernt. Weil es den Maffay ärgerte, dass der Traditionsgasthof „Alte Post zu Pähl“ mit seinem herrlich grünen Biergarten geschlossen war, kaufte er die „Post“ 2009 kurzerhand und ließ dort ein paar Jahre lang neben weiteren Köstlichkeiten den angeblich gschmackigsten Kaiserschmarrn des ganzen Pfaffenwinkels auftischen. Zum großen Hit hat es dennoch nicht gereicht, obwohl die Bild den Maffay-Gasthof als „Leberkäs-Paradies“ und „Bayern-Juwel“ feierte. Weil sich die Leut’ in und um Pähl bekanntlich von Prominenz nicht besonders beeindrucken lassen, lief der Laden offenbar nicht gut genug, und so hat die „Alte Post“ mittlerweile wieder geschlossen. Der prächtige Biergarten ist einmal mehr verwaist, Tische und Bänke sind in einer Ecke zusammengerückt und geben ein trauriges Bild ab. Wer Fragen hat, so ein Aushang, möge sich telefonisch im Büro von Peter Maffay melden. Ja, so gehen die Dinge in Pähl ihren Gang, beschaulich, gemächlich, unaufgeregt. Jeden dieser Orte, jede Straße, jede Gasse kennt Thomas Müller wie seine Westentasche. „Zu vielen Plätzen habe ich eine emotionale Beziehung, weil ich in der Kindheit oder Jugend hier bestimmte Dinge erlebt habe“, hat er der Welt verraten. „Im Hochschloss hat zum Beispiel ein Schulfreund von mir gewohnt, den ich öfter besucht habe. Darum ist es schön, irgendwo hinzukommen, wo man quasi jeden Stein kennt.“

Zwischen den Häusern von Pähl kirchturmspitzt die barocke Pfarrkirche St. Laurentius hervor, in der Thomas Müller ministriert hat. Gleich daneben die Volksschule für 85 Buben und Mädchen, an deren Fassade die Aufschrift „Schule“ nicht mehr in Graubraun geschrieben steht, wie zum Thomas seinen Grundschulzeiten, sondern bunt und weltoffen in Regenbogenfarben. Ein bisserl muss man ja doch mit der Zeit gehen. Und noch ein paar Meter weiter steht das Rathaus mit seinem Anschlagtaferl. Hier gibt es tatsächlich einen Hinweis auf Fußball – den einzigen weit und breit. Die Freiwillige Feuerwehr lädt zum EM-Public-Viewing ins Pfarr- und Gemeindezentrum (PGZ), allerdings mit Einschränkungen. Damit die Aufregung im Ort nicht überhandnimmt, werden Halbfinale und Finale nur „bei Qualifizierung der deutschen Nationalmannschaft“ öffentlich gezeigt. Sonst nicht. Somit musste das Endspiel im PGZ Pähl leider entfallen, so weit geht die Fußballliebe dann doch nicht.

Die Pähler haben  – zumindest laut Anschlagtaferl  – ohnehin genug andere Dinge zu tun. In Weilheim steigt die Hüttengaudi auf dem Volksfestplatz, mit Livemusik von „K-Zwoa“. Die nächste Landfrauenlehrfahrt der Ortsbäuerinnen führt ins Tiroler Lechtal und nach Elbigenalp, dem Geburtsort der „Geier-Wally“. Das Forstamt Weilheim veranstaltet einen Informationsabend zum Thema Borkenkäfer. Und die Ausländerbehörde Weilheim lädt zum Asylkonvent, auf dem Herr Helmut Hartl spricht, Sachgebietsleiter Ausländerwesen im Landratsamt Weilheim-Schongau. Ach ja, der Landesbund für Vogelschutz lädt auch ein, zum Storchenspaziergang. Und im Festzelt Hochstadt tritt die gschnapperte Kabarettistin Luise Kinseher auf, die „Mama Bavaria“ vom Münchner Nockherberg. Nachtflohmarkt in Weilheim ist auch, und der Pähler Maibaum reckt sich (ohne Wappen des FC Bayern und ohne Thomas-Müller-Taferl) stolz in die Höhe. Ein bodenständiges junges Paar ohne Kinder sucht ein Haus zu mieten. Und auf einem alten Bauernhof steht geschrieben: „Schätze den Bauern, weil Du von ihm lebst“.

Kann man in dieser wunderbar entschleunigten Pähler Beschaulichkeit überhaupt nach dem Haus fragen, in dem Thomas Müller aufgewachsen ist, in dem seine Eltern bis heute wohnen? In der Bäckerei Scholz in der Tutzinger Straße 4, die der Österreicher wahrscheinlich „Greißlerei“ nennen würde, weil es dort alles nur denkbar Essbare zu kaufen gibt, vom Zwetschgendatschi aus der eigenen Backstube bis zum Knödelbrot und zur Wassermelone, kann man schon mal nicht fragen. Denn der Kramerladen, in dem Thomas Müller als Bub seine „Asterix“-Heftln und seine Guatln (Süßigkeiten) bezogen hat, Toffifee und Haribo-Gummibärli, sperrt samstags schon um 12 Uhr zu.

Und, um ehrlich zu sein, man kann auch sonst niemanden fragen. Denn wo die Müllers wohnen – das ist das am besten und zugleich am schlechtesten gehütete Geheimnis von ganz Pähl. Die Einheimischen würden einen Teufel tun und die Touristen, die ganzen Neugierigen, zum Müller-Schauen schicken. Im Dorf, „in dem jeder jeden kennt“ (so Thomas Müller), weiß niemand, wo die Familie Müller wohnt. Beziehungsweise: Man weiß es natürlich ganz genau, aber man sagt es nicht, was auch völlig in Ordnung geht. Die Privatsphäre der Müllers zu schützen, ist dem ganzen Ort eine Herzensangelegenheit geworden. Aber weil die Neugiermaschine Google bekanntlich alles weiß und es auch sagt, ist das Geheimnis nach wenigen Klicks auf dem Smartphone kein Geheimnis mehr – auch wenn die Müllers schon lange nicht mehr im Telefonbuch stehen.

Man kommt sich fast ein bisserl schäbig und allzu neugierig vor beim Müller-Schauen. Und man macht sich dann auch schnell wieder vom Acker, bevor die Nachbarn bös werden und schimpfen, was sich da schon wieder für ein lästiges Gschwerl aus der Großstadt rumtreibt. Deshalb nur so viel: Schön haben sie’s, die Müllers, mit Wintergarten, großen Fenstern und viel Grün, bloß vom Fußball ist nichts zu sehen. Aber man schaut ja auch nicht allzu genau hin, wegen der Zurückhaltung und der Diskretion. Mit diesem Gedanken verabschiedet man sich dann schnell wieder und lässt den Müllers ihre wohlverdiente Ruhe.

In dem Haus, das in Pähl jeder kennt und keiner kennt, arbeitet Thomas’ Mutter Klaudia Müller jedenfalls jetzt als Unternehmensberaterin, Coach und Mentaltrainerin  – mit einschneidenden Konsequenzen für den Junior. Denn er musste sein Kinderzimmer räumen: „Das wurde umfunktioniert in einen Büro-Lounge-Bereich für meine Mama“, verriet er der Welt. „Ich wurde praktisch rausgeschmissen. Da habe ich natürlich die eine oder andere Träne verdrückt.“ Ganz ernst gemeint hat er das aber nicht, der ewige Lausbub aus Pähl.

Bereits 2009 ist Thomas hier ausgezogen – weg aus Pähl, weg auch vom kleinen Bruder Simon, der drei Jahre jünger ist und der es ebenfalls nachhaltig müllern lässt. Allerdings neun Klassen niedriger als der große Thomas, in der A-Klasse Kreis Zugspitze, immer noch für den heimischen TSV Pähl. 24 Saisontore sind für Müller jr. keine Seltenheit, in seiner Jugend hat er sogar ein Probetraining beim FC Bayern absolviert. Und TSV-Trainer Torsten Wechsler ist überzeugt: „Simon ist nicht nur ein supernetter Typ, er spielt auch überragend für unsere Klasse. Er ist eine Bereicherung, er könnte zwei bis drei Klassen höher spielen.“ Bürgermeister Grünbauer setzt noch einen drauf: „Simon könnte locker drei, vier Klassen höher spielen. Er ist nicht so weit weg von seinem Bruder, hat die gleichen Spielanlagen.“

Bloß – zum Fußballprofi fehlen dem kleinen Müller trotz Grundschnelligkeit und Kämpferqualitäten offenbar die Gene: „Ich habe meinen ganzen Talentanteil großzügig Thomas überlassen. Besser ein Vollprofi in der Familie als zwei Halbprofis.“ Lieber jubelt er seinem Bruder von der Tribüne aus zu, ausgestattet mit einer Dauerkarte für die Allianz Arena. Auch beim WM-Finale 2014 im Maracaña-Stadion war Simon vor Ort dabei, als Glücksbringer. Was denkt der Stürmerstar des TSV Pähl über den Stürmerstar des FC Bayern München? „Es ist nicht so, dass sich Thomas aufgrund seines Erfolges irgendwie verändert hätte. Von dem her ist er der gleiche Typ, der er schon immer war. Ich schätze seine direkte, lustige Art.“ Einziger gravierender Nachteil: „Thomas ist ein Typ, der nur sehr schwer verlieren kann. Und wenn man ihn dann mal beim Kartenspielen so weit hat, dass er verliert, dann ist er für einen kurzen Moment nicht so gut zu sprechen.“

Thomas Müller, der Mann, der nicht verlieren kann und das deshalb auch selten tut, ist mit seiner Lisa dem Landleben treu geblieben. Kein Wunder, wie der Fußballweltmeister 2014 verraten hat: „Ich bin gern ein Landei. Ich komme vom Land und habe mich hier immer sehr wohlgefühlt. Ich wüsste auch nicht genau, wo die Vorzüge liegen, in der Stadt aufzuwachsen. Oder welche Nachteile ich gehabt haben soll, weil ich in einem Dorf aufgewachsen bin. Ich habe jedenfalls nichts vermisst.“ Selbst im Urlaub, wie nach der EM 2016, zieht es Thomas und Lisa nicht wie andere Fußballkollegen an karibische Traumstrände. Sie bleiben daheim und genießen mit den Hunden „Micky“ und „Murmel“ die bayerische Heimat. Thomas Müller: „Wir haben Hunde und Pferde zu Hause, da sagt man nicht einfach: Die lassen wir jetzt mal schön links liegen und fliegen drei Wochen in den Urlaub. Mit ihnen Zeit zu verbringen, macht uns Spaß.“

Die letzten Jahre haben die Müllers in Straßlach-Dingharting im Süden Münchens verbracht, in der „FC-Bayern-Gemeinde“, in die es auch Franck Ribéry verschlagen hat. Der Schweizer „Kraftwürfel“ Xherdan Shaqiri wohnte während seiner Bayern-Zeit ebenfalls hier. Die Straßlach-Dinghartinger gehen nicht ganz so dezent mit ihrer orts ansässigen Prominenz um und feiern ihre Bayern-Stars schon mal per Transparent an den Ortseingängen, so wie 2013: „Die Gemeinde Straßlach-Dingharting gratuliert ihren Spielern vom FC Bayern München zum Gewinn des Triples“.

Daran liegt’s allerdings nicht, dass es die Müllers jetzt gut zwanzig Kilometer weiter Richtung Südosten zieht, nach Otterfing, eine 4.700-Seelen-Gemeinde bei Holzkirchen. Typisch Thomas, typisch Lisa  – kein Glamour, kein Pomp. Kein Grünwald, kein Tegernsee, wie Manuel Neuer oder Philipp Lahm, kein sündteures Penthouse in Schwabing oder Bogenhausen. Stattdessen das Oberland, der Landkreis Miesbach, dort, wo Bayern vielleicht so weiß-blau ist wie nirgendwo sonst, gut 30 Kilometer von München entfernt und mit dem Auto nur 25 Minuten vom Trainingsplatz an der Säbener Straße in München-Harlaching.

Gut, ein paar Extrawürste haben sich die Müllers dann doch braten lassen, wie der Holzkirchner Merkur erfahren hat. Eigentlich dürfen Zäune und Mauern in der oberbayerischen Gemeinde nur 1,20 Meter hoch sein. Damit niemand spechten kann, ob Thomas und Lisa daheim sind und ob die Dame des Hauses womöglich im Bikini im Garten liegt, hat der Otterfinger Gemeinderat laut Merkur ausnahmsweise eine 1,85 Meter hohe Mauer und einen 1,65 Meter hohen Zaun genehmigt. Bauamtsleiter Heinz Hirz hat Verständnis für die prominenten und schutzbedürftigen neuen Mitbürger: „Selbst mit Hilfe eines Teleobjektivs muss ja nicht jeder sehen können, ob die Leute im Grundstück gerade eine rote oder grüne Badehose tragen.“

Bereits 2012 hatte Lisa Müller hier einen Pferdehof auf unbestimmte Zeit gepachtet, seit 2014 laufen die Planungen für den Hausbau der Müllers, in unmittelbarer Nähe zu den Stallungen. Als einzige Extravaganz leisten sich Thomas und Lisa einen Swimmingpool. Ansonsten gilt die neue Heimat des Weltmeisters und seiner pferdenarrischen Gattin als durchaus bodenständig, zumal der Otterfinger Gemeinderat die Baupläne im Laufe des Genehmigungsverfahrens an anderen Stellen auch ein wenig zurechtgestutzt hat.

Ein bisserl was von den Pählern haben die Otterfinger jedenfalls schon gelernt. Denn wo genau die Müllers bauen, bleibt ein Geheimnis. Bürgermeister Jakob Eglseder von der CSU: „Wir wollen nicht, dass da ein Remmidemmi losgeht.“ Der Ortsvorsteher freut sich auf die Neuzugänge: „Sie sind sehr sympathisch und bodenständig und werden der Gemeinde guttun.“ Mit Prominenz kennt sich die Ortschaft ohnehin aus. Bereits seit gut 40 Jahren residiert in Otterfing-Wettlkam die Schlagersängerin Katja Ebstein, die 1970 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson mit dem Hit „Wunder gibt es immer wieder“ berühmt wurde. Sie wird jetzt quasi Nachbarin von Thomas Müller  – dem Mann, der keine Wunder braucht, sondern über den sich seit 2009 die ganze Fußballwelt wundert.

Bürgermeister Eglseder legt übrigens Wert darauf, dass nicht nur ein Sportstar nach Otterfing zieht, sondern gleich zwei. Er traut Lisa Müller im Dressursport viel zu: „Ich bin zuversichtlich, dass sie in die deutsche Elite vorrückt“, verriet er dem Holzkirchner Merkur. Thomas Müller, Fußball-Weltmeister 2014, und Lisa Müller, Dressur-Olympiasiegerin 2024, darauf könnten die Otterfinger mordsmäßig stolz sein. Mit dem Ruhm der prominenten Nachbarn würden die Menschen am Rande des Hofoldinger Forsts hoffentlich genauso entspannt und gelassen umgehen, wie es die Pähler seit vielen Jahren mustergültig vorleben.