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Umschlag:

Hauke reitet über den alten Deich. Unter Verwendung einer Radierung von Alex Eckener (1938)

Karte vorne:

Grafik: Hauke Sechting, Linientreu

Foto hinten:

Große Wehle im Norden der Hattstedtermarsch, entstanden durch die Sturmfluten von 1717/18; heutiger Zustand

Die Abbildungen wurden – soweit keine anderen Quellen angegeben werden – vom Storm-Archiv, Husum, zur Verfügung gestellt.
 

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© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

© Printausgabe: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2010

Alle Rechte vorbehalten.

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN eBook: 978-3-8042-3016-3

ISBN Printausgabe: 978-3-8042-1317-3

www.buecher-von-boyens.de

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Julius Grelstorff: Reiter mit zwei Pferden. Aquarell (Ausschnitt). Nissenhaus, Husum.

Vorwort

Der Deichgraf Hauke Haien, sein neues Deichprofil und sein Scheitern werden seit dem Erscheinen von Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888) bis heute glorifiziert. Der Charakter, den man seit mehr als einhundert Jahren auf ihn projiziert, schillert zwischen dem Bild einer charismatischen Führergestalt und eines faustischen Übermenschen, zwischen genialem Schöpfertum und tragischem Scheitern. Er verkörpert für viele den Widerstand der Menschen an der Westküste Schleswig-Holsteins gegen die ständigen Angriffe der Nordsee. Das Bild von Hauke Haien hat sich von seinem literarischen Vorbild längst gelöst und ist zur kollektiven Vorstellung einer Kulturgemeinschaft geworden, die in ihm eine regionale Sagengestalt erkennen will.

Theodor Storm war schon früh mit Fragen des Deichbaus und der Verwaltung von Kögen vertraut, da sein Vater „Deichbandcommittirter“ war und die Südermarsch verwaltete, einen Koog südlich von Husum. Als Rechtsanwalt nahm er in Vertretung seines Vaters selber juristische Deichangelegenheiten wahr. Nachdem er sich zu Beginn des Jahres 1885 entschlossen hatte, aus der Gespenstergeschichte vom Schimmelreiter eine Novelle zu formen, in der er die Geschichte des Deichbaus an der Westküste Schleswig-Holsteins darstellen wollte, vertiefte er sich in ein gründliches Quellenstudium und suchte bei Fachleuten Rat. Storm benutzte für sein Projekt mehr als 50 Quellentexte, darunter regionale Chroniken, Texte zum Deichrecht und zur Technik des Deichbaus, Landesbeschreibungen sowie volkskundliche und literarische Werke.

Die Sturmfluten und der dramatische Kampf der Marschbauern für den Erhalt ihrer Köge vom späten 15. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts bilden den Zeithintergrund der Novelle. Die Handlungsorte: den Hattstedter Neuen Koog, den Deichgrafenhof, das Geestdorf mit seinem Krug, der Kirche und dem Friedhof sowie das Gasthaus am Deich hat Storm bis ins Detail der Wirklichkeit nachgebildet, aber zugleich nach erzähllogischen Notwendigkeiten zu einem neuen Gesamtbild zusammengefügt. Storm inszenierte die Novellenhandlung in erfundenen Räumen, in denen er Personen handeln lässt, deren Vorbilder aus der Geschichte Nordfrieslands stammen.

Der Autor hat seine Hauptfigur, den Bauernsohn und späteren Deichgrafen Hauke Haien, nach dem Vorbild einer Reihe von tatkräftigen Männern gestaltet, von deren Vorzügen er gelesen hat oder denen er persönlich begegnet ist. Unter den historischen Persönlichkeiten ragt Hans Momsen aus Fahretoft (1735–1811) hervor, ein Autodidakt, der als Mathematiker, Astronom und Landvermesser hervorgetreten ist und der nördlich von Husum Deichbauarbeiten geleitet hat. Von Momsen hat er ebenso Charakterzüge auf Hauke Haien übertragen wie von dem Deichgrafen Johann Iwersen Schmidt von Lundenberg (1798–1875) und von dem Amtshöftmann Jens Thoms Jensen von Ellerbüll (1798–1846), deren Bauerngehöfte in der Hattstedtermarsch lagen. Nach diesen Vorbildern entwarf Storm den Deichgrafenhof in der Erzählung.

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Julius Grelstorff: Kühe in der Marsch. Aquarell (Ausschnitt). Nissenhaus, Husum.

Die Niederschrift der Novelle erfolgte seit Juli 1887. Storms schwere Magenkrankheit bestimmte ihn, gegen den drohenden Tod anzuschreiben; im Herbst begann er mit der Reinschrift und konnte die Novelle Ende Januar fertigstellen. Am 9. Februar 1888 schickte er das Manuskript an den Verlag. „Der Schimmelreiter“ erschien im April und Mai 1888 in zwei Teilen in der „Deutschen Rundschau“. Bereits Mitte Mai las der Dichter die Korrekturen der Buchausgabe und fügte zum besseren Verständnis Worterklärungen „für binnenländische Leser“ hinzu. Anfang Juni unterschrieb er den Verlagsvertrag für die Buchausgabe, die im Herbst 1888 ausgeliefert wurde. Theodor Storm starb am 4. Juli 1888 in Hademarschen.

Der Entstehungsprozess der längsten und bedeutendsten Novelle Storms wird in diesem Buch beschrieben. Der Stoff hat Storm seit seiner Studienzeit begleitet, die detaillierten Kenntnisse von Menschen, Landschaft und Geschichte hat er seit seiner Kindheit in Husum und Nordfriesland erworben. Lange haben diese Erfahrungen in ihm nachgewirkt. Als er sich endlich im Alter von 68 Jahren dazu entschloss, eine Deichnovelle zu schreiben, begann ein intensives Quellenstudium, dessen Ergebnisse die Erinnerungsarbeit Storms konkretisierten und ergänzten. Die vielfältigen Forschungsarbeiten, die während der letzten 60 Jahre in Husum und Umgebung stattgefunden haben, ermöglichen es jetzt, nicht nur den Schreibprozess Storms und seine umfangreichen Vorarbeiten zu dokumentieren, sondern es lässt sich auch zeigen, wie Storm eine Landschaft literarisiert hat. Die Landschaftsbilder in Storms Erzählung haben die Vorstellungen vom Land zwischen Geest und Nordseeküste vieler Generationen von Lesern nachhaltig geprägt.

Bei der Rekonstruktion des „Schimmelreiter“-Projekts konnte ich auf eine Reihe von Vorarbeiten zurückgreifen, so auf die Recherchen der Heimatforscher Felix Schmeißer und Andreas Busch in der Hattstedtermarsch, auf die literaturhistorischen Forschungen von Karl Ernst Laage und die regionalgeschichtlichen Untersuchungen von Reimer Kay Holander, auf deren Ergebnisse ich meine eigenen Forschungen aufgebaut habe und von deren Erkenntnissen ich viele Details in dieses Buch übernehmen konnte. Mein Dank gilt auch den Archiven, die Materialien bereitgestellt haben, dem Landesarchiv Schleswig, dem Norfriesischen Institut, Bredstedt, dem Kreisarchiv Nordfriesland, dem Nissenhaus und der Bibliothek der Hermann-Tast-Schule, Husum. Persönlich bedanke ich mich für die Unterstützung bei Frau Dr. Küchmeister von der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Kiel und besonders Frau Elke Jacobsen, die als Bibliothekarin des Storm-Archivs, Husum nicht nur bei meinen umfangreichen Recherchen mitgewirkt, sondern auch eine Fülle von Detailinformationen beigetragen hat. Darüber hinaus verdanke ich Gerd Kühnast eine Reihe von Auskünften über die Hattstedtermarsch und meinem Kollegen Lothar Knoll die Übersetzung plattdeutscher Texte ins Hochdeutsche.

Dieses Buchprojekt ist wiederum in enger Zusammenarbeit mit dem Verlagsleiter des Boyens-Buchverlages, Herrn Bernd Rachuth, entstanden, der die Herstellungsarbeiten und die Bildauswahl mit fachlichem Rat begleitet hat. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

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Der Schimmelreiter (Deutschland 1933/34). Buch: Curt Oertel und Hans Deppe, Regie: Curt Oertel. Hauke Haien: Matthias Wieman.

Der Schimmelreiter-Mythos

Von allen Prosawerken Storms gilt die Altersnovelle „Der Schimmelreiter“ als die bedeutendste Leistung des Husumer Dichters. Entsprechend vielfältig sind die innerhalb des 20. Jahrhunderts vorgelegten Interpretationen, und kaum ein anderer Erzähltext Storms wurde hinsichtlich seiner Entstehung und seiner Quellen genauer untersucht. Den Anstoß zur Erforschung des „Schimmelreiters“ gab Karl Hoppe, der 1949 in „Westermanns Monatsheften“ als erster auf eine Quelle der Storm-Novelle hinwies, die Erzählung „Der gespenstige Reiter“, die erstmals 1838 im „Danziger Dampfboot“ abgedruckt wurde und die Storm vielleicht im selben Jahr oder erst 1839 im 2. Band der in Hamburg verlegten „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“ gelesen hat.

Es dauerte allerdings noch einmal dreißig Jahre, bis Karl Ernst Laage 1979 eine neue Etappe der Erforschung von Storms Meisterwerk eröffnete. Bei seinen Recherchen für eine Separatausgabe der Novelle entdeckte er in der Reinschrift, die im Storm-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrt wird, eine längere Textpassage, die in der Buchausgabe nicht mehr enthalten ist. Dies gab den Anstoß zu einem systematischen Quellenstudium und zu einer gründlichen Erforschung der erhaltenen Textzeugen.

Die von der Storm-Gesellschaft angeregte und begleitete Edition wichtiger Briefwechsel Storms förderte eine Fülle von Zeugnissen hervor, aus denen der Arbeitsprozess am „Schimmelreiter“ zwischen 1885 und 1888, dem Todesjahr des Dichters, genau rekonstruiert werden konnte.

Vieler Besucher, die nach Husum reisen und in der Stadt und im Kreis Nordfriesland auf den Spuren Theodor Storms wandern, wollen sehen, wo der Schimmelreiter entlangritt und nacherleben, wo und wie Storms bekannteste Gestalt gelebt und gewirkt hat. Schließlich gibt es im Kreisgebiet einen Schimmelreiter-Krug und einen Hauke-Haien-Koog. Kaum eine andere literarische Gestalt hat sich in den Köpfen der Leser so realistisch eingeprägt wie Storms „Schimmelreiter“. Dazu haben auch die drei Filme beigetragen, die 1933, 1977/78 und 1984 nach der Novelle gedreht wurden. Die Landschaft an der Küste Nordfrieslands ist ohne den Deichbaumeister Hauke Haien und ohne den Spuk des gespenstischen Reiters für viele nicht mehr vorstellbar. Und da liegt die Vermutung nahe, dass Storm, als er 1885 mit den Vorarbeiten zum „Schimmelreiter“ begann, auf eine Sage zurückgegriffen habe, die seit langer Zeit in seiner nordfriesischen Heimat mündlich tradiert worden sei.

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Karte vom Schleswigschen Wattenmeer und Nordfriesland. Aus Reymann’s topographischer Specialkarte von Mitteleuropa. In: C. P. Hansen: Das Schleswig’sche Wattenmeer und die friesischen Inseln. Glogau 1865, Ausschnitt. (Exemplar in Storms Bibliothek, Storm-Archiv, Husum)

Kurz nach der Uraufführung der ersten „Schimmelreiter“-Verfilmung im Januar 1934 schrieb der Heimatforscher und Redakteur der Husumer Nachrichten, Felix Schmeißer: „Seine eigentliche Heimat […] hat er hier oben an der Nordseeküste, und zwar wie in Nord- so auch in Eiderfriesland und jenseits der Eider auch noch im verwandten Dithmarschen. Denn in allen drei Landschaften ist mir noch vor einigen Jahrzehnten die Sage vom gespenstischen, sich unheilverkündend in eine Wehle stürzenden Schimmelreiter von alten Leuten erzählt worden.“

Neben dieser Behauptung Schmeißers belegen weitere Äußerungen aus den späten zwanziger Jahren, dass der Generation, die nach Theodor Storm lebte, die Erzählung als ursprüngliche Nordfriesische Sage erschien. Allerdings irrt Felix Schmeißer in seinen Lobeshymnen, die er auf den ersten „Schimmelreiter“-Film sang, denn eine Schimmelreiter-Sage lässt sich vor dem Erscheinen der Novelle (1888) weder in Nordfriesland noch in Dithmarschen belegen.

Als Theodor Storm Sagen und anderes Erzählgut aus Schleswig-Holstein sammelte, stieß er auf eine Reihe von Gespenstergeschichten und stellte sie zu einem Manuskript zusammen, das er unter dem Titel „Neues Gespensterbuch“ veröffentlichen wollte. Zu dieser Veröffentlichung ist es nicht gekommen. Eine Schimmelreiter-Sage allerdings finden wir weder in den von Storm gesammelten Sagen noch in seiner Manuskriptsammlung „Neues Gespensterbuch“. Das erklärt sich leicht, denn am 13. Februar 1843 schrieb er an seinen Freund Theodor Mommsen: „Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hier her paßt, gehört leider nicht unserm Vaterlande; auch habe ich das Wochenblatt, worin er abgedruckt war, noch nicht gefunden.“

Eine Erzählung von einem gespenstischen Reiter ist in der Sammlung „Friesische Legenden von Texel bis Sylt“ enthalten, die 1928 von Hermann Lübbing herausgegeben wurde. Eine inhaltlich übereinstimmende Sage teilt Rudolf Muuß 1933 in seiner Sammlung „Nordfriesische Sagen“ mit. Beide Herausgeber haben ihrerseits einen Text nacherzählt, der erstmals 1890 von Heinrich Momsen aus Garding unter der Überschrift „Der Schimmelreiter“ herausgegeben worden war und der Anfang des 20. Jahrhunderts in eine pädagogische Sammlung zur Heimatkunde der Halbinsel Eiderstedt gelangte. Der Vergleich mit Storms Novelle zeigt eindeutig, dass es sich in allen Fällen um eine Nacherzählung der äußeren Novellenhandlung handelt, die der Verfasser der ersten Sage auf die Verhältnisse an der Eider übertragen hat. Diese Schimmelreiter-Sage aus zweiter Hand findet sich auch in neuen Anthologien friesischer Sagen, die 1993 und 1994 auf den Markt kamen.

Wir haben es mit einer Übertragung der literarischen Fiktion in die kollektive Vorstellung von Menschen zu tun, die in der Region leben oder sich durch ihre Storm-Lektüre dem Handlungsraum der Erzählung nahe fühlen. So ist die literarische Gestalt zu einer vermeintlichen Sagengestalt geworden, eine Umkehrung des sonst üblichen Prozesses, in dem regionale Sagengestalten von Schriftstellern zu literarischen Figuren umgeformt werden.

Storm konnte sich im Alter nicht mehr genau daran erinnern, wo er zum ersten Mal von der Schimmelreiter-Sage gehört hatte. Er meinte später, dass er sie von Lena Wies habe, jener Husumer Bäckerstochter, die ihn durch ihre Erzählungen als Knabe so nachhaltig beeinflusst hat. Storm glaubte sich auch zu erinnern, eine Schimmelreiter-Sage im „Husumer Wochenblatt“ gelesen zu haben. Aber das ist nicht richtig, denn in dieser Zeitschrift ist eine solche Erzählung nicht zu finden. Später haben Recherchen gezeigt, dass Storm die Quelle für die äußere Schimmelreiter-Handlung um das Jahr 1838 in den in Hamburg erschienenen „Lesefrüchte(n) vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“ gelesen hat. Es handelt sich dabei um den Nachdruck einer Gespenstergeschichte aus der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“ aus dem selben Jahr.

Die angebliche nordfriesische „Schimmelreiter-Sage“ geht also auf eine Gespenstergeschichte zurück. Erstaunlich ist, dass sich Storm, obwohl er diese Erzählung nur einmal im Alter von zwanzig Jahren gelesen hat, fast fünfzig Jahre später noch genau an alle Einzelheiten erinnern konnte. Denn er hat nicht nur das Erscheinen des gespenstischen Reiters nach dem Vorbild wiedergegeben, sondern auch die in der Quelle vorliegende Rahmenstruktur in seine Novelle übernommen. Ein Vergleich zwischen Quelle und Novelle zeigt so viele Übereinstimmungen, dass man Storms nochmalige Lektüre während der Vorarbeiten vermuten möchte; aber er hat seine erste Quelle mit großer Wahrscheinlichkeit nie wieder zu Gesicht bekommen.

Die eigentliche literarische Leistung des Husumer Dichters besteht darin, dass er die Idee der Rahmenhandlung, die er einer Gespenstergeschichte entnommen hat, im inneren Hauptteil der Novelle mit Leben erfüllt. Das gelingt ihm erst im Alter, denn da kann er auf ein langes Leben zurückblicken, in dem er vielfältige Erfahrungen mit Menschen in Nordfriesland gesammelt hat. Seine genaue Kenntnis der spezifischen Landschaft verband er mit umfangreichen Quellenstudien zu einem außergewöhnlichen Kunstwerk, das heute zur Weltliteratur gerechnet wird, der Novelle „Der Schimmelreiter“.

Erste Begegnung

Am Sonnabend, dem 14. April 1838, erschien im „Danziger Dampfboot“ ein „Reiseabenteuer“ unter dem Titel: „Der gespenstige Reiter“. In dieser Geschichte wird von einem Kaufmann berichtet, dem auf dem Wege von Danzig nach Marienburg an der Güttlander Weichselfähre ein Reiter auf weißem Pferd erscheint. Die Männer, die hier bei Eisgang Wache halten, erzählen ihm von einem Deichgeschworenen, der sich mit seinem Pferd in den Deichbruch gestürzt habe, nachdem er die Schuld für den schlecht gewarteten Deich auf sich genommen hat. Ross und Reiter erscheinen bis heute als gespenstiges Warnzeichen vor einem drohenden Deichbruch.

Im Frühsommer desselben Jahres immatrikulierte sich der Student der Rechte Theodor Woldsen-Storm aus Kiel an der Berliner Universität, wo er für ein Jahr im Zentrum der preußischen Kultur lebte und seinen Gesichtskreis in der neuen Umgebung mit alten und neuen Freunden erweiterte. Im Herbst reisten die jungen Burschen nach Dresden, um sich mit den dortigen Kunstschätzen vertraut zu machen. Zu dieser Zeit druckte der Hamburger Zeitschriftenverleger J. J. C. Pappe die Gespenstergeschichte aus Preußen im Band 2 des Jahrgangs 1838 seiner „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes“ wieder ab.

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Titel der Zeitschrift „Danziger Dampfboot“, Danzig 1838.

Es gibt keinen Beleg dafür, wo Storm das „Reiseabenteuer“ von der Weichsel gelesen hat. Da diese Zeitschrift nur eine regionale Bedeutung hatte, scheint eine Lektüre in Berlin oder gar in Dresden eher unwahrscheinlich. Manches spricht dafür, dass ihm das Heft in seiner norddeutschen Heimat in die Hände fiel, denn der Student aus Husum hatte noch intensive Beziehungen in den Norden des deutschen Kulturraums. Zum Wintersemester 1839/40 kehrte er wieder an die Kieler Universität zurück, um dort sein Studium der Rechte fortzusetzen.

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Titel der Zeitschrift „Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur“, Hamburg 1838.

Mit seinen Kommilitonen Theodor und Tycho Mommsen trat er in einen Dichterwettbewerb und begann das Projekt der Sammlung von Sagen, Märchen und Liedern aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Storm las in diesen Jahren wie ein Besessener; er nahm Stoffe aus Kulturgeschichte und Literatur in sich auf, die ihm später immer wieder als Motive für seine Dichtungen dienten.

Es dauerte fast fünfzig Jahre, bis der mittlerweile erfolgreiche Autor die Danziger Gespenster-Erscheinung als zentrales Motiv im inneren Erzählrahmen seiner „Schimmelreiter“-Novelle wieder aufgriff. Aber anders als in der Geschichte aus Preußen berichten die Erzähler in Storms Novelle nun vom Aufstieg und Scheitern des nordfriesischen Deichgrafen Hauke Haien, der bei einer Sturmflut an der Nordseeküste ums Leben gekommen ist.

Für den Anfang seiner „Schimmelreiter“-Novelle hat Storm im Jahre 1886 eine Geschichte erfunden, die sich ganz realistisch gibt. Der namenlose Erzähler des äußeren Rahmens berichtet von einem Jugenderlebnis mit deutlichen autobiographischen Bezügen: „Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, […].“ (Theodor Storm: Der Schimmelreiter, S. 634; hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Laage/Lohmeier, abgekürzt als „LL“, Bd. 3.)

Generationen von Storm-Forschern haben aus dieser Einleitung geschlossen, dass der junge Storm den Stoff für seine bedeutende Altersnovelle tatsächlich im Hause seiner Urgroßmutter Feddersen kennengelernt und ein Leben lang in seinem Bewusstsein aufbewahrt habe. Denn in den nächsten Jahren erwähnt er immer wieder eine „Deichsage“, an die er sich nach vier Jahrzehnten genau erinnern kann, allerdings weiß er nicht mehr, wo er diesen Stoff gelesen hat. Storm muss in den 1880er Jahren eine sehr intensive Erinnerungsarbeit geleistet haben, denn er hat, wie er selbst berichtet, das Heft mit der Gespenstergeschichte nie wieder zu Gesicht bekommen.

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Haus der Urgroßeltern Storms in Husum, Schiffbrücke/Ecke Twiete. Foto aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Atmosphäre, in der ein phantasiebegabter und sensibler junger Mensch diese Erzählung aufgenommen hat, wird in der Novelle sehr genau beschrieben: „Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.“ Und nachdem der bereits gealterte Erzähler die Zeit dieses Jugenderlebnisses so intensiv ausgebreitet hat, betont er ausdrücklich: „Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; […].“

An diesem gut erfundenen Novelleneingang entspricht so viel der Wirklichkeit, dass Storm, als er seit 1885 für die neue Novelle vom Schimmelreiter recherchierte, tatsächlich kein Exemplar der Hamburger „Lesefrüchte“ mehr auftreiben konnte. Daher muss diese Jugendlektüre einen sehr nachhaltigen Einfluss auf den späteren Dichter gehabt haben. Dennoch stimmt an dieser Geschichte einiges nicht. Denn im Jahre 1838, in dem die Szene frühestens stattgefunden haben kann, lebt die Urgroßmutter schon lange nicht mehr. „Frau Senator“ Elsabe Feddersen (geb. 1741) war bereits im Jahre 1829 gestorben; da war Storm gerade mal 12 Jahre alt, was auf die erinnerte Jugendlichkeit des lesenden Knaben zutrifft, was sich aber mit dem Erscheinungsjahr der preußischen Gespenstergeschichte im Jahre 1838 nicht vereinbaren lässt, denn da war Storm bereits 21 Jahre alt. Es handelt sich also um eine literarische Fiktion, die Storm hier als „Aufmacher“ für seine Novelle vom „Schimmelreiter“ erfunden und sehr geschickt in das Erzählganze eingefügt hat.

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Elsabe Feddersen, geb. Thomsen (1741–1829), Urgroßmutter von Theodor Storm. Silhouette um 1788.

Und das ist das Ergebnis der Quellenforschung: Storm hat die Gespenstergeschichte 1838 oder 1839 nicht in dem Haus Ecke Schiffbrücke/Twiete gelesen, denn das hatte sein Vater bereits unmittelbar nach dem Tode der Urgroßmutter verkauft, mit einigem Inventar übrigens, denn sehr viel später konnte der Dichter einige Bilder des Schleswigschen Malers Niclas Peters erwerben, die während seiner Jugendzeit im Urgroßmutterhaus gehangen hatten. Die Lektüre könnte in seinem Elternhause in der Hohlen Gasse in Husum stattgefunden haben oder in Altona während eines seiner häufigen Besuche bei seiner Tante Friederike Scherff.

Die Tatsache, dass er den einleitenden Erzählrahmen überhaupt in einem ihm wohlvertrauten Hause seiner Heimatstadt Husum ansiedelte, hat ihre Gründe. Storm wollte bei seinen Lesern den Eindruck erwecken, dass die Sage vom gespenstigen Reiter sein Werk ein Leben lang begleitet habe. Denn nur daher bezieht der Erzähler die Legitimation zu behaupten, das nun Folgende habe sich wirklich dort ereignet, wohin er es verortet, in die Landschaft der Hattstedtermarsch und die Stadt Husum. Die Köge, das Marschendorf und die Stadt an der Küste sind die Handlungsräume der Novelle, in der Menschen agieren, wie Storm sie während seiner Jugend und später während seiner Berufstätigkeit in Nordfriesland kennengelernt hat. Aber der Realismus wiederholt nicht einfach die Wirklichkeit im Kunstwerk, daher sind Genauigkeit und Detailtreue bei der Abbildung von Wirklichkeit allein kein Kriterium für realistisches Schreiben.

Das künstlerische Verfahren des Realismus besteht darin, die Details der Wirklichkeit so darzustellen, dass deren allgemeine Bedeutung zutage tritt. Die Fähigkeit, das Allgemeine im Konkreten sichtbar werden zu lassen, ist das zentrale künstlerische Merkmal dieser literarischen Epoche. Genau das hat Storm in seiner Meisternovelle geleistet, indem er seinen Lesern die Ereignisse um Deichbau und Sturmfluten der vergangenen Jahrhunderte am Beispiel eines erfundenen tüchtigen und die anderen überragenden Deichgrafen vor Augen führt. Viele Leser glauben, dessen Wirken habe nicht nur in der Erinnerung seiner Zeitgenossen Spuren hinterlassen, man könne ihnen noch heute auf Schritt und Tritt begegnen, wenn man nur danach sucht. Sie übersehen dabei nur zu leicht, dass der Dichter von dieser Vergangenheit so realistisch erzählen muss, damit die Ereignisse aus dem Land der Erinnerung im Leser wieder lebendig werden. Und dazu musste Storm eine Erinnerungsarbeit leisten und Erzählinstanzen erfinden, die von dem, was damals geschehen sein soll, glaubwürdig berichten können.

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Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an; stieg im erstgelegenen Gasthof ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen lmbiß zu begegnen, und durch einen erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter Anderm den Wirth, wie es mit der Weichsel stände, und bekam zur Antwort: „Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch gefährlich seyn;“ doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte mußte, und wo möglich wollte ich dort noch an demselben Abend eintreffen; ich bezahlte dem Wirthe meine Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sey, wenn ich nicht mit Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sahe ich zum Theil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein; doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen seyn würde. Ich ließ mir dieses nicht zwei Mal sagen, griff in die Zügel, lenkte um, und fort ging’s zur Güttlander Fähre. –

Dunkler und dunkler wurde es rings um mich, nur hin und wieder drang das Leuchten eines Sternes durch die Nebelwolken, fremd war mir die in schwarze Schatten gehüllte Gegend, kein menschliches Wesen erblickte ich, und nur das Brausen des Sturmes und das Geprassel des, durch das Wasser immer höher gehobenen und geborstenen Eises waren meine schaurigen Begleiter. – Da plötzlich höre ich dicht hinter mir das rasche Trappeln eines Pferdes, und freudig, in dem Wahne, einen Gesellschafter nahe zu haben, blicke ich mich erwartungsvoll um und sehe – Nichts – wohl aber trabt es immer schärfer und näher, mein Brauner schnaubt und stampft, kaum vermochte mein spitziger Sporn, ihn vorwärts zu treiben, und ein kalter Schauer überlief meinen ganzen Körper; doch beruhigte ich mich, da mein sonderbarer Begleiter verschwunden zu seyn schien; als ich ihn aber plötzlich wieder, ohne ihn zu sehen, vor mir hersprengen hörte, war es, als wollten mir meine Glieder die Dienste versagen, ein Fieberfrost durchrieselte mich, und mein Pferd wurde höchst unruhig; was aber die Unheimlichkeit noch mehr vermehrte, war: daß dieses unbegreifliche Wesen mir plötzlich und pfeilschnell vorüber zu sausen schien, so hörte sich das ungewöhnliche Geräusch wenigstens an, welches sich wieder allmählig verlor, um aber, wie es schien, mit erneuter Schnelligkeit zurückzukehren; es wieder hören, dicht hinter mir haben, die anscheinende Gestalt eines weißen Pferdes, mit einem schwarzen, menschenähnlichen Gebilde darauf sitzend, mir im fliegenden Galopp vorbeireiten zu sehen, war Eins; mein Brauner machte einen Seitensprung, und es fehlte nicht viel, so wären wir Beide den Damm, ohne es zu wollen, hinabgestürzt.

Ich habe die letzten Feldzüge mitgemacht, feindliche Kugeln tödteten neben mir meine besten Kameraden, vom Kanonendonner bebte die Erde, doch mich machte nichts erbeben; aber hier auf dem Weichseldamme, ich gestehe es zu meiner Schande, zitterte ich an allen Gliedern. –

Da hörte ich in der Ferne das Bellen eines Hundes, und wurde das Blinken eines Lichtes gewahr. Ha! dachte ich, da werden sich auch Menschen befinden, wie du einer bist; schnell ritt ich dem Lichtscheine entgegen, und kam an eine sogenannte Wachtbude; ich stieg ab, und fragte die darin versammelte Menge, ob ich bei ihnen die Nacht über verweilen könnte – denn für heute war ich des Reisens satt – und meine Frage wurde mit „Ja“ beantwortet.

Froh, ein schützendes Obdach gefunden zu haben, brachte ich zuerst mein Pferd in Sicherheit, setzte mich dann ruhig in eine Ecke, pflegte mich, so gut es sich thun ließ, und hörte die Gespräche der Landleute, die hier auf Eiswache waren, mit an; ließ aber wohlbedächtig, um mich nicht Neckereien Preis zu geben, nichts von meinem überstandenen Abenteuer merken.

Da war’s, als rauschte irgend etwas dem Fenster vorbei. Mit einem Schreckensausruf sprangen mehre Männer auf, und Einer von ihnen sagte: „Es muß irgendwo große Gefahr seyn, denn der Reiter auf dem Schimmel läßt sich sehen“; und der größte Theil eilte hinaus.

Der Reiter nun befremdete mich nicht, wohl aber die gemachte Bemerkung, weshalb ich den neben mir sitzenden alten Mann ersuchte, mir hierüber eine genügende Erklärung zu geben, worauf ich folgende Auskunft erhielt:

„Vor vielen Jahren, da sich auch unsere Vorfahren hier einst versammelt hatten, um auf den Gefahr drohenden Eisgang genau Acht zu haben, bekleidete ein entschlossener, einsichtsvoller und allgemein beliebter Mann aus ihrer Mitte das Amt eines Deichgeschworenen. An einem jener verhängnißvollen Tage entstand eine Stopfung des Eises, mit jeder Minute stieg das Wasser und die Gefahr; der erwähnte Deichgeschworene, der einen prächtigen Schimmel ritt, sprengte auf und nieder, überzeugte sich überall selbst von der Gefahr und gab zu deren Abwehr die richtigsten und angemessensten Befehle; dennoch unterlagen die Kräfte der schwachen Menschen der schrecklichen Gewalt der Natur, das Wasser fand durch den Damm einen Durchweg, und schrecklich war die Verheerung, die es anrichtete. Mit niedergeschlagenem Muthe kam der Deichgeschworene in gestrecktem Gallopp beim Deichbruche an, durch den sich das Wasser mit furchtbarer Gewalt und brausendem Getöse auf die so ergiebigen Fluren ergoß; laut klagte er sich an, auf diese Seite nicht genug Acht gegeben zu haben, sah darauf still und unbewegt dieses Schrecken der Natur einige Augenblicke an; dann schien ihn die Verzweiflung in vollem Maaße zu ergreifen, er drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten, ein Sprung – und Roß und Reiter verschwinden in den Abgrund. – Noch scheinen Beide nicht Ruhe gefunden zu haben, denn sobald Gefahr vorhanden ist, lassen sie sich noch immer sehen.“ –

Ich setzte am andern Morgen meine Reise weiter fort, sah den Reiter nicht wieder, wohl aber die schreckliche Verheerung, die das Wasser im obengenannten Jahre angerichtet hatte.

Hiemit schloß mein Freund, betheuerte die Wahrheit der Sache, und schien durch mein Kopfschütteln verdrießlich werden zu wollen.

(Das Danziger Dampfboot.)

Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteur. In: Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. Hamburg, 1838, S. 125–128.

Vertraute Strukturen

Die Küstenlandschaft zwischen niederer Geest und Marsch war Theodor Storm von Kindheit an vertraut. Die Stadt Husum liegt auf einem bis etwa zehn Meter über den mittleren Meeresspiegel ansteigenden Land, einer niederen Geest, die sich nach Osten allmählich bis zum schleswigschen Mittelrücken erhöht. Nach Westen und Süden schließen sich Marschen an, das sind tiefer liegende, dem Meer durch Deiche abgewonnene Landstücke, die ständig entwässert werden müssen, damit sie für die Landwirtschaft genutzt werden können. Ein durch Eindeichung dem Gezeiteneinfluss des Meeres abgewonnener Landbezirk wird Koog genannt; er kann bearbeitet und besiedelt werden. Zum Schutz gegen Überflutungen wurden in den Marschgebieten Warften angelegt, aufgeworfene Erdhügel, auf denen die Gebäude errichtet werden konnten. Hierhin zogen sich die Bauern mit ihrem Vieh zurück, wenn bei Sturmfluten eine Überschwemmungsgefahr drohte. Deichanlagen und Entwässerungssysteme müssen ständig gewartet werden, diese Aufgaben und ihre finanziellen Grundlagen werden in Rechtsvorschriften geregelt (Deichrecht) und von verschiedenen Amtsträgern organisiert und überwacht.

Ein solcher Koog liegt unmittelbar westlich von Husum, der Porrenkoog. Hier war das Schwemmland bereits seit dem späten Mittelalter (um 1500) vom Meer abgegrenzt und wurde als Viehweide benutzt. Der Deich gehört zu den ältesten technischen Bauwerken an der schleswig-holsteinischen Westküste und verläuft von der Nordwestseite des Husumer Hafens bis nach Schobüll, wo die Geest bis unmittelbar an die Nordsee heranreicht. Er schützt bis heute den westlichen Teil der Stadt vor Überflutungen. Wenn der junge Storm den Garten seiner Großeltern besuchte, dann gelangte er in wenigen Minuten von der Hohlen Gasse durch die Langenharmstraße über die Kante der niederen Geest zum Porrenkoogsweg, der in die Marsch hinabführt.

Als Sohn eines Advokaten und Notars konnte Theodor Storm eine Fülle der damit verbundenen Probleme kennenlernen, da sein Vater mit einer Reihe von Verwaltungsfunktionen beauftragt war. Außerdem war Theodor mit den Söhnen verschiedener Deichinspektoren befreundet und gewann auch auf diesem Wege Einblicke in Aufgaben, Probleme und Organisationsformen des Küstenschutzes in den 1820er und 1830er Jahren.

Johann Casimir Storm war gewähltes Mitglied der Ständeversammlung für das Herzogtum Schleswig und übte dort das Amt des Sekretärs aus. Er wurde darüber hinaus königlich bestallter Administrator der Fürstlich Reußischen Güter und Marsch-Köge südwestlich von Bredstedt. Der größte dieser Köge war der 1741 eingedeichte Sophien-Magdalenen-Koog, ihm folgte 1765/67 der nur knapp halb so große Desmerciereskoog. Der knapp 500 ha große Reußenkoog wurde 1789, der etwa 400 ha große Louisen-Reußen-Koog 1799 durch Graf Reuß-Schleiz-Köstritz vollendet. Beide Köge werden bis heute landwirtschaftlich genutzt.

Als Koogsschreiber und Syndikus für die Südermarsch, einem südöstlich der Stadt Husum gelegenen Koog, übte Storms Vater die Funktionen eines Kommunalverwaltungsbeamten aus. Der Koogsschreiber war einem Koogsinspektor zugeordnet, der eine einem Kirchspielvogt vergleichbare Beamtenstellung in einem oktroyierten (also mit Steuerprivilegien versehenen) Koog mit eigener Gerichtsbarkeit inne hatte.

In seiner Funktion als Koogsschreiber schaltete der alte Storm Anzeigen im Husumer Wochenblatt; darunter befinden sich Angebote zur Verpachtung von Ländereien, Ausschreibungen für Arbeiten zur „Herbstbestickung am Südermarschdeich“, Warnungen vor Jagdfrevel sowie Anweisungen für die landwirtschaftlichen Nutzer.

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Anzeigen von Johann Casimir Storm im „Husumer Wochenblatt“.

Solchen Verwaltungsdetails begegnet der Leser bis in wörtliche Übereinstimmungen in der „Schimmelreiter“-Novelle wieder.

Storms Vater war aber nicht nur im unmittelbaren Umkreis der Stadt Husum tätig, er war auch als Kommittierter des 3. Schleswiger Deichbandes für die Aufsicht über die Unterhaltung der landschaftlichen Deiche in den Kirchspielen Simonsberg, Westerhever, Ording und St. Peter zuständig. Im Jahre 1800 wurde die Aufsicht über die Deiche der sämtlichen Marsch-Kommunen, adligen Marschgüter und octroyirten Köge in den Herzogtümern Schleswig und Holstein neu geordnet und drei königlichen Deichinspektoren übertragen. Die schleswigsche Marsch wurde 1805 in 3 Deichbände organisiert; der dritte Deichband umfasste die Landschaft Eiderstedt. Im Kreisarchiv Husum wird eine Akte aufbewahrt, in der der Advokat Storm sich kritisch mit einer Denkschrift des Vorstehers der Landschaft Eiderstedt, Oberdeichinspektor von Christiansen aus dem Jahre 1831 auseinandersetzt.

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Johann Casimir Storm (1790–1874), Vater des Dichters. Siegelabdruck.

Einer der engsten Schulfreunde Theodor Storms war sein Klassenkamerad Karl Friedrich Emil Krebs (1815–1897), dessen Vater in Bredstedt als Deichinspektor im 2. Schleswigschen Deichband wirkte. Zum Bekanntenkreis der Familie Storm zählte der Deichinspektor Christian Salchow, der für die Deicherhaltung und das Entwässerungssystem der Hattstedtermarsch zuständig war. Von 1837 bis 1843 wohnten die Salchows im Hause von Großmutter Magdalena Woldsen in der Neustadt 56, in das Theodor Storm 1845 einzog.

Mein Vater war Advokat und Notar, und wegen seiner Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit sowie wegen der Bescheidenheit, womit er seine Anfodrungen für die Bemühungen seines Berufes stellte, im ganzen Lande geachtet. „De Ole verdarvt uns de Priis“, sagte ein jovialer Anwalt der Nachbarstadt. So häufte sich dann allmählich mehr auf seine Schultern: er war von Beginn derselben an Mitglied der beratenden Stände für das Herzogtum Schleswig; und in den ersten Jahren, wo solches aus der Mitte der Ständemitglieder besorgt wurde, Sekretär derselben Versammlung, bei welcher Arbeit − es waren ihrer zwei − junge Juristen ihnen zur Hülfe gingen; er wurde königlich bestallter Administrator der Fürstlich Reußischen Güter in den Herzogtümern, Güter und Marsch-Köge, auf deren Einnahmen von dem verschuldeten Fürsten zu Gunsten der Gläubiger verzichtet war; er wurde Koogsschreiber und Syndicus, d. h. Kommunalverwaltungsbeamter für die Südermarsch, einen lediglich aus getrennten Weiden bestehenden, unmittelbar bei Husum belegenen Marschkoog; nach der verderblichen Flut von 1825, bei der viel Gut und Menschenleben zu Grunde ging, wurde er der vom König ernannten obergerichtlichen (Administration und Justiz waren derzeit noch ungetrennt) Kommission als Mitglied beigegeben, welche die Schäden auf den Nordsee-Inseln und Halligen untersuchen und feststellen sollte.

Hiedurch und durch manche andren Gelegenheiten kam viel Leben in mein elterliches Haus; so als die holländischen Ingenieure, Gebrüder Beyring, nach Husum kamen, um den von dem Deichinspektor Petersen projektierten Dockkoog zu begutachten, oder wenn der Prinz Friedrich von Augustenburg als Chef des Dragoner-Regiments die bei uns liegende Eskadron revidierte, wo er bei uns Quartier zu nehmen pflegte oder sonstwie.

Theodor Storm: Aus der Jugendzeit. In: LL 4, S. 429.

In der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1825 ereignete sich eine verheerende Sturmflut an der nordfriesischen Küste, die dem damals 7-jährigen Theodor für immer in Erinnerung geblieben ist. Storms Vater und sein Kollege Salchow gehörten zu den Amtsträgern, die sich im Auftrag des dänischen Königs um die Behebung der Schäden vor allem auf den Nordseeinseln und Halligen kümmerten.

Storm lässt den Justizrat Salchow in seiner 1881 erschienenen Novelle „Der Herr Etatsrat“ in einer grotesken Überzeichnung als dem Trunk verfallenen Rabenvater auftreten; sein Vorbild war aber im Gegensatz zur literarischen Gestalt ein fleißiger und kompetenter Beamter.

Salchow merkte in seinem Bericht an die deutsche Kanzlei (Landesarchiv Schleswig) unter anderem an: „So haben aber sämtliche Deiche hinlänglichen Widerstand geleistet und jede Überschwemmung abgewehrt. Menschen, Vieh, Haabe und Gut jeder Art nebst den Wohnungen haben nicht den geringsten Schaden genommen. Von den Deichen sind ebenfalls alle älteren Profile beschädigt, dagegen die neuen Profile sich sehr bewährt haben.“

Dieses positive Resümee galt aber nur für die Hattstedtermarsch, die Storm 60 Jahre später als Schauplatz für seine „Schimmelreiter“-Novelle auswählte; die Schäden in der südlich gelegenen Landschaft Eiderstedt, auf den Inseln und Halligen durch die Flut von 1825 waren beträchtlich und führten zu den ersten Küstenschutzmaßnahmen im Königreich Dänemark.

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Husum, Hohle Gasse 3, Theodor Storms Elternhaus; Porzellanmalerei, 19. Jahrhundert, Privatbesitz.

Von Deichinspektor Salchow liegt ein ausführlicher Bericht über die Wirkung der großen Sturmflut vom 3. auf den 4. Februar 1825 vor (Landesarchiv Schleswig), in dem er eine Erhöhung und eine dauerhafte Verstärkung der Deiche nach neuer Bauart fordert. Im Jahre 1831 führte Salchow eine Vorerhebung am Hattstedter Außendeich durch und schlug neue Deichprofile vor, die 1835 vom zweiten Schleswigschen Deichband nach seinen Plänen verwirklicht wurden. Auch wurden die beiden Arlauschleusen aufgrund von Salchows Planungen nach Süden verlegt.

Der König ernannte den Husumer Advokaten Johann Casimir Storm zum Mitglied einer obergerichtlichen Kommission, welche die Schäden auf den Inseln und Halligen feststellen sollte. Außerdem gehörte Storm zu den Initiatoren einer Sammlung, durch die Spenden für die in Not geratenen Flutopfer eingeworben wurden.

Von Christian Friedrich Salchow stammen auch die Pläne für neue Arlau-Schleusen in der Hattstedtermarsch. Der Neubau wurde Ende der1820er Jahre immer dringender, da das Entwässerungssystem durch Sedimentablagerungen im Bereich der alten Arlaumündung seine Funktion nicht mehr erfüllen konnte. Deshalb wurden die Schleusen des seit 1516 nicht mehr überfluteten Hattstedter Neuen Kooges in den Jahren 1835/36 im Zuge einer Verstärkung des Hattstedter Seedeichs weiter nach Süden verlegt. Diese Baumaßnahme hat Storm als Primaner miterlebt und seine Erinnerungen später nicht nur im Zusammenhang mit seiner Novelle „Der Herr Etatsrat“ verarbeitet, sondern auch als Vorbild für den Schleusenbau im „Schimmelreiter“ verwendet.