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INHALT

 

EXPERIMENTE

URKNALL IM DETEKTOR

Die Jagd nach dem Quark-Gluon-Plasma

Johanna Stachel und Peter Braun-Munzinger

Wie sah das Universum kurz nach dem Urknall aus? Kollidierende Bleikerne im Beschleuniger LHC sollen die Antwort liefern.

ENTDECKUNG IM LHC

Der lange Weg zum Higgs

Guido Tonelli, Sau Lan Wu und Michael Riordan

Drei an der Suche nach dem Higgs-Teilchen beteiligte Forscher berichten über die spannenden Wochen rund um seine Entdeckung.

ZUKUNFT DER TEILCHENPHYSIK

Der LHC nach Higgs – Die Suche bleibt spannend

Was bedeutet der Fund des neuen Partikels für die Teilchenphysiker? »Spektrum« sprach mit CERN-Forscher Siegfried Bethke.

QUANTENPHYSIK

MAKROSKOPISCHE QUANTENPHYSIK I

Leben in der Quantenwelt

Vlatko Vedral

Die Gesetze der Quantenmechanik beherrschen nicht nur den Mikrokosmos. Einige Forscher halten es für denkbar, dass sich sogar Pflanzen oder Zugvögel Quanteneffekte zu Nutze machen.

MAKROSKOPISCHE QUANTENPHYSIK II

Schrödingers Katze auf dem Prüfstand

Markus Aspelmeyer und Markus Arndt

Forscher suchen bei immer größeren Objekten nach Quanteneffekten – und werden fündig! Wo genau liegt die Grenze zwischen der geheimnisvollen Welt der Quanten und der Realität, wie wir sie erleben?

JENSEITS DES STANDARDMODELLS

WELTFORMEL

Auf dem Weg zur Quantengravitation

Claus Kiefer

An einer Theorie, die Quantenphysik und Gravitation verknüpft, beißen sich Physiker seit Langem die Zähne aus. Nun vermelden sie Fortschritte.

MATHEMATIK

Mit einem Rechentrick zur umfassenden Theorie der Naturkräfte

Zvi Bern, Lance J. Dixon und David A. Kosower

Neue Rechenregeln für Teilchenkollisionen haben ungeahnte Konsequenzen.

INTERVIEW

Antirealistischer Querdenker

Peter Byrne

Leonard Susskind, Stringtheoretiker von der Stanford University, ist davon überzeugt, dass wir die Wirklichkeit niemals ganz erfassen werden.

HÖHERE DIMENSIONEN

Exotische Zahlen und die Stringtheorie

John C. Baez und John Huerta

Ein in Vergessenheit geratenes Zahlensystem beschreibt elegant ein Universum, das zehn oder elf Dimensionen besitzt – genau, wie es die Stringtheorie fordert.

WISSENSCHAFTSTHEORIE

Die Physik – ein baufälliger Turm von Babel

Tony Rothman

Die Physiker entwickeln immer hochtrabendere Modelle. Doch arbeiten sie überhaupt auf einem sicheren Fundament?

 

 

 

Titelmotiv: CERN/Maximilien Brice Blick ins Innere des LHC-Detektors CMS

EDITORIAL

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Thilo Körkel
Redakteur dieser Ausgabe

Erkenntnissuche im Mikrokosmos

Diesen historischen Moment wollten die Physiker des CERN unter keinen Umständen verpassen. Zu Hunderten verbrachten sie die Nacht in den Gängen vor dem Raum, in dem am darauf folgenden Tag die bislang größte Leistung des Beschleunigers LHC verkündet werden sollte: die Entdeckung des Higgs-Teilchens. In diesem »Spektrum Spezial« können nun auch Sie die Ereignisse noch einmal miterleben. Was genau am 4. Juli 2012 und in den spannenden Wochen vorher und danach geschah, berichten drei der beteiligten Forscher. Außerdem wollten wir wissen, wie es jetzt nach dem Higgs-Fund am LHC weitergeht. Rede und Antwort stand uns CERN-Forscher Siegfried Bethke.

Mit dem Riesenbeschleuniger könnten die Experimentatoren demnächst auch Hinweise darauf finden, wie eine künftige Theorie der Quantengravitation aussehen muss. Eine solche »Weltformel« soll die vier Grundkräfte der Natur in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen zusammenfassen. Die Hindernisse sind groß, aber in jüngerer Zeit erzielten die Forscher bemerkenswerte Fortschritte.

Auch viele der anderen Pfade, auf denen Physiker zu einem immer tieferen Verständnis des Universums gelangen, leuchten wir in diesem Heft aus. Wieder einmal könnten es Mathematiker und Theoretiker sein, die den Weg weisen. Schließlich war auch das Higgs zunächst nur ein theoretisches Konstrukt, doch ein so überzeugendes, dass sich die Forscher auf eine fast 50-jährige Suche nach ihm einließen. Nun wurde mit den so genannten Oktonionen ein schon in Vergessenheit geratenes exotisches Zahlensystem wiederentdeckt, das möglicherweise ebenfalls eine fundamentale Eigenschaft der Natur zu erhellen vermag. Viele der Ansätze zu einer Theorie der Quantengravitation gehen nämlich davon aus, dass die Welt über zehn oder elf Raumdimensionen verfügt – und die Oktonionen bieten sich in idealer Weise an, genau eine solche Welt zu beschreiben.

 

Noch mysteriöser sind neue Erkenntnisse aus der Welt der Quanten. Immer deutlicher zeigen Experimente, dass deren rätselhafte Gesetze nicht nur das Geschehen im Mikrokosmos regeln. Manche Wissenschaftler spekulieren sogar, ob sie auch für lebende Organismen gelten könnten.

Natürlich ziehen die Physiker auch Kritik auf sich: Manch einer wirft ihnen vor, sie würden immer hochtrabendere Theorien entwickeln, die sich mit keinem Experiment der Welt mehr überprüfen lassen. Princeton-Physiker Tony Rothman legt seinen Finger indessen in eine ganz andere Wunde. Ihm zufolge übersehen wir, während wir die Grenzen unserer Erkenntnis immer weiter nach außen verschieben, dass auch diesseits dieser Grenzen noch gewaltige Risse im Gebäude der Physik klaffen. Und er stellt die Frage, ob Physiker wirklich verstehen, wie die Welt funktioniert – oder ob sie einfach nur gelernt haben, sie zu beschreiben. Doch entscheiden Sie selbst!

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht

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Die Jagd nach dem Quark-Gluon-Plasma

Schießt man die Kerne von Bleiatomen mit großer Energie aufeinander, entstehen im resultierenden Feuerball tausende neue Teilchen. Sie verraten den Forschern des ALICE-Experiments am Teilchenbeschleuniger LHC, was im Innersten der Materie vor sich geht – und enthüllen, wie das Universum kurz nach dem Urknall aussah.

Von Johanna Stachel und Peter Braun-Munzinger

AUF EINEN BLICK

ZURÜCK BIS ZUM URKNALL

1 Am größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem LHC bei Genf, wurden Ende 2010 erstmals Kerne von Bleiatomen aufeinandergeschossen. Teilchenphysiker vermuten, dass dabei ein Quark-Gluon-Plasma entsteht. Dieser Materiezustand entspricht dem Zustand des Universums unmittelbar nach dem Urknall.

2 Einer der vier LHC-Detektoren, ALICE, wurde eigens dazu entwickelt, die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas zu ermitteln. Die ersten Resultate überraschen. Sie stimmen nur teilweise mit dem überein, was frühere Experimente erwarten ließen.

3 Mit den Bleiexperimenten wollen Physiker den tiefsten Geheimnissen der Materie auf den Grund gehen. Denn die Bestandteile des Quark-Gluon-Plasmas sind vermutlich fundamentale, also nicht mehr weiter teilbare Teilchen.

Am 8. November 2010 kurz nach 11 Uhr ist es so weit. Zum ersten Mal herrschen im Beschleuniger LHC stabile Bedingungen für Kollisionen von Bleikernen: Die Teilchenstrahlen sind so fokussiert, dass sie mit konstanter Rate aufeinanderprallen. Das ist das Signal für die Experten im Kontrollraum des ALICE-Experiments, ihre empfindlichen Messinstrumente einzuschalten. Wenige Minuten später startet die erste Messkampagne, bei der wir Kollisionen von schweren Atomkernen studieren können. Als sie vier Wochen später endet, wurden Daten für etwa 20 Millionen solcher Kollisionen registriert, gespeichert, an Rechenzentren in aller Welt verschickt und von den Wissenschaftlern des ALICE-Teams einer ersten Analyse unterzogen. Schon zu diesem Zeitpunkt haben internationale Fachzeitschriften erste Ergebnisse zur Veröffentlichung akzeptiert.

Der LHC (Large Hadron Collider) am europäischen Teilchenforschungszentrum CERN bei Genf ist der weltweit größte Beschleuniger. In seinem 27 Kilometer langen Ringtunnel prallen gegenläufige Teilchenstrahlen bei bisher unerreichten Energien und Intensitäten aufeinander. Während der kontinuierliche Betrieb mit Protonen, also Wasserstoffkernen, schon im November 2009 aufgenommen wurde, ließ die Beschleunigermannschaft rund ein Jahr später erstmals auch Bleikerne kollidieren. Das Messprogramm mit schweren Atomkernen wird etwa 1200 Wissenschaftler aus derzeit 36 Ländern mindestens während der nächsten Dekade in Atem halten. Jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 2013, finden zum ersten Mal Kollisionen zwischen Protonen und Bleiionen statt. Anschließend wird der LHC während einer etwa zweijährigen Umbauphase auf seine volle Leistungsfähigkeit gebracht.

Unsere erste Messkampagne im Jahr 2010 war der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor gut 20 Jahren begonnen hatte. Bei einem Workshop am CERN diskutierten Forscher im Dezember 1990 erstmals über ein Experiment mit schweren Atomkernen. Damals war der LHC bereits in Planung, und die Physiker hofften, ab 1998 mit Protonen experimentieren zu können.

Dies erwies sich allerdings als allzu optimistisch. Als wir beide unsere Professuren an der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York aufgaben und Weihnachten 1995 wieder nach Deutschland zogen, war der deutsche Teil des ALICE-Projekts noch sehr provisorisch organisiert. Immerhin war klar, wer teilnehmen sollte: die Darmstädter GSI (das heutige GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung), sowie Institute an den Universitäten in Frankfurt, Heidelberg und Münster. Doch zu diesem Zeitpunkt verfolgte jeder dieser ebenso kompetenten wie selbstbewussten Partner noch seine eigenen technischen und experimentellen Ideen (von denen sich einige später als unrealisierbar herausstellten). Überdies mussten wir noch jahrelang darum kämpfen, dass zunächst ein Startbudget von 25 Millionen Mark, später dann insgesamt 20 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium bewilligt wurden. Als 1997 die wissenschaftlichen Gremien dem Bau von ALICE zugestimmt hatten, stand die Finanzierung noch keineswegs auf sicheren Beinen. Doch am Ende hatten wir uns zu einer starken Truppe zusammengerauft, in der alle am selben Strang zogen.

ALICE steht für »A Large Ion Collider Experiment«. Hier sollen also Strahlen aus Ionen oder auch »nackten« Atomkernen miteinander kollidieren. Dies sind Atome, die ihre Elektronen abgestreift haben, zum Beispiel beim schnellen Durchgang durch dünne Kohlenstofffolien. Je schwerer die Kerne sind, desto mehr Energie können sie in die Kollision einbringen. Daher bietet sich insbesondere eines der schwersten stabilen Elemente an: Blei, genauer sein häufigstes stabiles Isotop Pb-208. Sein Kern besitzt 82 Protonen und 126 Neutronen, also insgesamt 208 Kernteilchen oder Nukleonen.

Protonen kann der LHC auf eine Energie von sieben Teraelektronvolt beschleunigen (1 TeV = 1012 Elektronvolt, siehe auch »Experimentieren am Limit«, SdW 9/2010, S. 34). Bei einem Zusammenprall zweier Protonen beträgt die Schwerpunktenergie (siehe Glossar) also 2 · 7 TeV = 14 TeV. Kollidieren hingegen zwei Bleikerne mit je 208 Nukleonen, wirkt die beschleunigende Kraft nur auf deren elektrisch geladene Bestandteile, also auf jeweils 82 Protonen. Dadurch erreicht die Energie den Wert 82 · 2 · 7 TeV. Das sind 0,18 Millijoule und damit schon eine makroskopische Energie – genug, um ein Gummibärchen einen Zentimeter hochzuheben, wie einer unserer Mitarbeiter ausgerechnet hat.

Fände die Kollision nicht im Vakuum statt, könnte man den Zusammenstoß prinzipiell sogar hören. Die freigesetzte Energie führt zu einer ungeheuren Erhitzung der Kollisionszone, zu einem winzigen »Feuerball«. Dieser kühlt schnell wieder ab, und seine Energie materialisiert sich in Zehntausenden neu entstandener Teilchen, die man im Experiment aufspüren kann. Das Bild auf der vorigen Seite zeigt die »Aufnahme« einer solchen Kollision zweier Bleikerne.

Die Protonen und Neutronen in Atomkernen bestehen ihrerseits aus Quarks und Gluonen. Über die so genannte starke Wechselwirkung sind diese fundamentalen Teilchen extrem fest aneinandergebunden. Doch bei sehr hohen Temperaturen oder auch bei sehr großer Dichte werden sie aus der starken Bindung befreit und bilden einen neuen Materiezustand, in dem sie sich sogar zu Gebilden mit makroskopischen Ausdehnungen formieren könnten. Über diese Möglichkeit hatten Physiker bereits 1975 spekuliert. Damals war die theoretische Beschreibung der starken Wechselwirkung, die so genannte Quantenchromodynamik (QCD), gerade einmal drei Jahre alt.

Schon Ende der 1970er Jahre erhielt der neue Materiezustand den Namen Quark-Gluon-Plasma (QGP). Denn er ähnelt in gewisser Weise einem elektromagnetischen Plasma. In einem solchen Plasma, das bei hoher Temperatur aus Atomen entsteht, können sich deren Bestandteile – elektrisch geladene Elektronen und Ionen – frei bewegen. Entsprechend besteht das QGP aus Quarks und Gluonen, die so genannte Farbladungen tragen. Zur Erzeugung eines elektromagnetischen Plasmas genügt es, die atomaren Bindungsenergien zu überwinden, die in der Größenordnung von mehreren Elektronvolt bis Kiloelektronvolt liegen. (Teilchenphysiker messen Temperaturen nicht in Grad Celsius, sondern in thermischer Energie; so entspricht Raumtemperatur etwa 1/40 Elektronvolt.) Um ein QGP zu erzeugen, sind hingegen viel höhere Temperaturen nötig.

200 000-mal heißer als im Inneren der Sonne

Erstaunlicherweise hatten schon erste Abschätzungen vor rund drei Jahrzehnten recht zutreffende Werte für die kritische Temperatur ergeben, bei der Quarks und Gluonen aus den Nukleonen befreit werden. Sie beruhten auf der bei anderen Experimenten bestimmten Federspannung (string tension), die sich bemerkbar macht, wenn man Quarks auseinanderziehen will. In der Tat zeigen modernste so genannte Gitter-QCD-Rechnungen, in denen man die Gleichungen der QCD numerisch auf Supercomputern löst, dass die kritische Temperatur etwa 170 MeV entspricht. Das ist rund zehn Millionen Mal höher als die Temperatur, die man benötigt, um Wasserstoff zu ionisieren. Und immer noch 200 000-mal höher als die Temperatur im Inneren der Sonne.

Die Idee, dass man diese Temperaturen bei Kollisionen extrem energiereicher Atomkerne erzeugen könnte, führte in den USA bereits 1983 zu dem Vorschlag, einen speziellen Collider für schwere Atomkerne zu bauen. Dieser »Relativistic Heavy Ion Collider« RHIC ging im Jahr 2000 im Brookhaven National Laboratory (BNL) tatsächlich in Betrieb. Um die lange Wartezeit bis dahin zu überbrücken, führten Forscher aber schon ab 1986 sowohl am CERN als auch in Brookhaven Experimente durch, bei denen sie mit stark beschleunigten Kernen ruhende Zielmaterialien, so genannte stationäre Targets, bombardierten.

Bei diesen »Fixed-Target-Experimenten« erzielte man allerdings viel niedrigere Energien, am CERN aber immerhin viermal so hoch wie in Brookhaven. RHIC übertrifft die Energie der Fixed-Target-Experimente am BNL schon um das 40-Fache, der LHC sogar um das 1150-Fache. Im Fall stationärer Targets wächst die Schwerpunktenergie nämlich nur mit der Wurzel aus der Strahlenergie. Im Fall kollidierender Strahlen wächst sie linear, also viel schneller.

Für relativistische, also sehr stark beschleunigte Quarks und Gluonen gilt allerdings, dass die Temperatur nur mit der vierten Wurzel aus der Energiedichte (Energie pro Volumeneinheit) wächst. Um die Temperatur zu verdoppeln, braucht man also die 16-fache Energiedichte. Entsprechend hoch sind apparativer Aufwand und Kosten, um die zur Entstehung des QGP nötigen extremen Temperaturen zu erreichen.

Anders als beispielsweise die Entdeckung neuer Elementarteilchen ist die Untersuchung des QGP ein schrittweiser Prozess, da es sich um einen äußerst komplexen und flüchtigen Materiezustand handelt. Als im Jahr 2000, wenige Monate vor dem Start von RHIC, das Programm mit stationären Targets am CERN und in Brookhaven abgeschlossen war, veröffentlichte Ersteres eine Presseerklärung: Bei den Kollisionen schwerer Kerne am CERN werde ein neuer Materiezustand erzeugt, in dem die Quarks aus ihrer starken Bindung befreit sind. Den Begriff Quark-Gluon-Plasma vermieden die Physiker, weil sie noch keine seiner Eigenschaften gemessen hatten. Kaum überraschend, provozierte die Presseerklärung scharfe und skeptische Kommentare der US-Kollegen. Schließlich wollte man mit RHIC genau diesen Sachverhalt belegen. In den folgenden Jahren konnten sie die Ergebnisse vom CERN aber bestätigen und darüber hinaus erste Schritte zur Charakterisierung des neuen Materiezustands machen. So scheint sich das Quark-Gluon-Plasma wie eine nahezu ideale Flüssigkeit zu verhalten – wenn man die Expansion des Feuerballs berechnet, kann man also Reibungsverluste fast vernachlässigen.

ALICE soll nun dafür sorgen, dass wir das Quark-Gluon-Plasma und seine Eigenschaften wirklich verstehen. Das Experiment ist darauf ausgelegt, möglichst viele der bei der Kollision auftretenden Phänomene und Teilchen zu erfassen. Das beginnt mit der Messung der Multiplizitäten (siehe Glossar) aller produzierten Teilchensorten. Neben Teilchen wie Protonen und Pionen, die aus leichten Valenzquarks bestehen, sind das solche mit Strange-Quarks oder auch schweren Charm- oder Beauty-Quarks. Auch exotische Objekte wie so genannte Antihyperkerne haben wir bereits gefunden. Selbst die Antikerne von Helium-4 konnten wir am LHC bereits nachweisen – wenige Wochen nachdem sie nach zehnjähriger Suche am US-Beschleuniger RHIC entdeckt worden waren.

Von all diesen Teilchen wollen wir ihre Impulsverteilungen, die Spektren, über einen möglichst großen Bereich messen und weiterhin wissen, ob ihre Anzahlen, Impulse oder Richtungen miteinander korreliert sind. Aus solchen Messungen lassen sich schließlich die Eigenschaften des QGP ableiten.

Fantastisch wäre es, wenn wir eine Beobachtung machen könnten, die einem endgültigen Beleg für die Existenz des QGP nahekommt. Diese »smoking gun« könnten Charm-Quarks und Anticharm-Quarks liefern, die wasserstoffähnliche Zustände bilden, so genannte Charmonia. Ein bestimmter energetischer Zustand dieser Charmonia wird als J/ψ-Teilchen bezeichnet, und sein Zerfall macht sich als scharfe Linie im Massenspektrum von Elektron-Positron-Paaren (oder Myon-Antimyon-Paaren) bemerkbar.

Bereits vor 26 Jahren wurde vorausgesagt, dass bei Teilchenkollisionen weniger J/ψ-Teilchen entstehen, wenn sich dabei ein Quark-Gluon-Plasma bildet. Denn das Plasma mit seinen vielen freien Farbladungen schirmt die Charm-Quarks und -Antiquarks voneinander ab. Diese ursprüngliche Argumentation haben wir inzwischen noch weitergeführt. Bei den sehr hohen LHC-Energien entstehen in einer Blei-Blei-Kollision bis zu 100 Paare von Charm- und Anticharm-Quarks, die im Plasma keine J/ψ-Teilchen produzieren. Wenn jetzt das Quark-Gluon-Plasma in normale hadronische Materie ausfriert, sind genug dieser Teilchen vorhanden, so dass je zwei davon zu einem Charmonium zusammenfinden können. Es könnten sich also entgegen der ursprünglichen Voraussage sogar mehr J/ψ-Teilchen bilden als erwartet. Anzeichen dieses Effekts beobachteten wir in der Tat bereits bei den ersten Messungen am LHC.

Das QGP ist nicht nur ein Zustand, den wir im Labor erzeugen. Vielmehr befand sich einst auch unser Universum für kurze Zeit in einer solchen Phase. Unmittelbar nach dem Urknall kühlte es von extrem hohen Temperaturen ab. Als es milliardstel Sekunden alt war, hatte es schon eine rasante Entwicklung hinter sich und war in die QGP-Phase eingetreten. Nach etwa zehn millionstel Sekunden war es genügend abgekühlt, um zu normaler, stark wechselwirkender Materie auszufrieren. Dem folgte die Bildung der ersten Elemente, die bereits nach etwa drei Minuten abgeschlossen war.

Weil wir die primordialen Elementhäufigkeiten immer noch messen können – diese Elemente, nämlich Wasserstoff, Helium und Lithium, existieren noch heute! –, ist dies der früheste Zeitpunkt in der Entwicklung unseres Universums, der uns durch Beobachtung bislang zugänglich war. Mit der Erzeugung und Charakterisierung des Quark-Gluon-Plasmas in Laborexperimenten drehen wir die Uhr nun noch weiter zurück. Statt einen Zeitpunkt rund 100 Sekunden nach dem Urknall zu betrachten, beobachten wir jetzt, was nur zehn Mikrosekunden danach geschah.

Allerdings starten wir im Labor bei einer vergleichsweise niedrigen Temperatur. Bei Fixed-Target-Experimenten überschritten die Forscher die kritische Temperatur für den QCD-Phasenübergang um gerade einmal 20 Prozent. Bei RHIC wurde sie um den Faktor zwei übertroffen. Am LHC konnten wir mit ALICE nun erstmals auch die thermische Strahlung des QGP messen. Die genauen Analysen sind noch nicht abgeschlossen, aber die Daten deuten auf eine Temperatur, die drei oder viermal höher liegt als die kritische. Wegen dieses immer noch geringen Werts – gemessen an der tatsächlichen Temperatur im frühen Universum – ist die Lebensdauer des QGP im Labor allerdings sehr viel kürzer als der Zeitraum, während dessen es nach dem Urknall existierte.

Wie muss ein Experiment aussehen, das sich auf die Suche nach dem Quark-Gluon-Plasma begibt? Die anderen LHC-Detektoren wie ATLAS und CMS sind konzipiert, um neue Partikel wie zum Beispiel das Higgs zu finden. Dafür benötigen sie hohe Energien, erreichen aber keine hohen Temperaturen. Auch produzieren sie weder besonders viele Teilchen noch erzeugen sie makroskopische Materiezustände.

Bei einer einzigen Kollision in ALICE entstehen hingegen einige zehntausend Teilchen. Dies erfordert eine sehr hohe Granularität des Aufbaus, weshalb das Experiment über 600 Millionen Auslesepunkte, Pixel, verfügt. Andererseits ist es ausreichend, wenn bei ALICE eine vergleichsweise geringe Kollisionsrate erreicht wird. Denn während das Higgs-Teilchen extrem selten auftritt, wird das QGP praktisch immer gebildet, wenn die Energiedichte hoch genug ist – wenn sich die zwei Bleikerne also zentral treffen. Das wird bei voller Luminosität (siehe Glossar) des LHC mehrere hundertmal pro Sekunde der Fall sein.

Während die ATLAS- und CMS-Forscher sich vor allem für Teilchen mit hohen Impulsen interessieren, sind bei ALICE auch niedrige Impulse von großer Bedeutung. Einerseits ist das ein Vorteil: Um sie präzise zu messen, darf das Magnetfeld nicht zu hoch sein; der Magnet blieb also bezahlbar. Andererseits ist darum die Auflösung bei hohen Impulsen geringer. Dies konnten wir aber in Kauf nehmen.

Will man niedrige Impulse messen, darf nur sehr wenig Material zwischen Erzeugungspunkt der Teilchen und Impulsmessung liegen. Dann werden die Ergebnisse nur geringfügig verfälscht. Doch die Teilchen müssen unter anderem die Wand des Strahlrohrs, die ersten Schichten eines Siliziumdetektors und die darauf sitzenden mikroelektronischen Bauteile durchqueren; selbst Kabel und Kühlsysteme sind im Weg. Bei ALICE haben wir es aber geschafft, dass die vom Kollisionspunkt wegspritzenden Teilchen über die ersten 2,5 Meter des Experimentaufbaus nur zehn Prozent einer Strahlungslänge (siehe Glossar) durchqueren; das entspricht einer Siliziumschicht von gerade einmal neun Millimetern. Im Fall von ATLAS und CMS durchqueren sie 50 bis über 100 Prozent einer Strahlungslänge.

Für ALICE ist auch entscheidend, dass wir möglichst viele Teilchensorten identifizieren können. Dazu setzen wir praktisch alle zur Verfügung stehenden Techniken ein, darunter die Zeitprojektionskammer, den Übergangsstrahlungsdetektor und den Flugzeitzähler (siehe Kasten »Aufbau des ALICE-Experiments«). Zudem wollen wir auch relativ seltene Signaturen des QGP aufspüren. So erwarten wir, dass nur bei einer von 250 000 Kollisionen folgende Kombination von Ereignissen auftritt: Aus dem Zusammenprall gehen ein Bottom- sowie ein Anti-Bottom-Quark hervor, die sich zu dem wasserstoffähnlichen Ypsilon-Zustand verbinden. Dieser zerfällt dann in ein Elektron-/Positron-Paar, das im Detektor auch tatsächlich nachgewiesen wird und uns nicht »entwischt«.

Diese Ereigniskombination, deren Eintreten wir möglichst ausnahmslos messen wollen, kann der Übergangsstrahlungsdetektor identifizieren. Angesichts der Rate von Blei-Blei-Kollisionen, die maximal zehn Kilohertz betragen wird – obwohl der LHC noch nicht die endgültige Strahlenergie erreicht hat, erzielen wir schon jetzt fünf Kilohertz –, kann er sich für die Entscheidung, ob die entsprechenden Daten gespeichert werden, immerhin zehn Mikrosekunden Zeit lassen.

Für alle Experimente in der Teilchenphysik gilt: Man kann die Messinstrumente nicht einfach kaufen oder bestellen. Die Wissenschaftlerteams müssen sie einschließlich der Elektronik zu ihrer Steuerung und zum Auslesen der Daten selbst entwickeln. Als wir 1996 in das Projekt ALICE einstiegen, waren wichtige Vorarbeiten geleistet, doch in mancher Hinsicht lag noch völlig unerforschtes Neuland vor uns. Mit im Boot waren damals bereits die Gruppen vom GSI sowie aus Frankfurt, Heidelberg und Münster. Ihre Mitglieder hatten schon das Fixed-Target-Programm mit Schwerionen am CERN angestoßen und entscheidend zu seiner Realisierung beigetragen. Ebenso hatten sie Initiativen ergriffen, die schließlich zur Entwicklung von RHIC führten.

In der folgenden Zeit stießen die TU Darmstadt und später auch die Fachhochschulen Köln und Worms zu unserem Projekt hinzu. All diese Partner erbrachten gemeinsam die deutschen Beiträge zu ALICE, darunter die Zeitprojektionskammer (die in internationaler Zusammenarbeit, vor allem gemeinsam mit dem CERN entstand), den Übergangsstrahlungsdetektor und den High-Level-Trigger. Die Zeitprojektionskammer (Time Projection Chamber, TPC) war von Anfang an der zentrale Detektor des ALICE-Experiments. Sie sollte mit hoher räumlicher Auflösung und in drei Dimensionen gleichzeitig die Spuren von bis zu 15 000 geladenen Teilchen rekonstruieren. Eine TPC ist typischerweise ein großer, gasgefüllter Zylinder. Durchqueren geladene Teilchen das Gas, ionisieren sie es und setzen dabei Elektronen frei. In einem extrem homogenen elektrischen Driftfeld, für dessen Erzeugung ein so genannter Feldkäfig verantwortlich ist, driften die Elektronen dann entlang der Achse des Zylinders zu dessen Endflächen.

Dort werden sie über so genannte Vieldrahtproportionalkammern registriert. In diesen sind unter Hochspannung stehende Drähte gespannt, an denen jedes Elektron ein Signal hervorruft. Aus dem Ort der Signalerzeugung und der Ankunftszeit des Signals lässt sich dann der Ursprungsort des Elektrons errechnen. Die Stärke des Signals hängt davon ab, wie viele Elektronen beim Durchgang des zu identifizierenden Teilchens freigesetzt wurden, wie viel Energie das Teilchen dadurch also verloren hat. Weil dieser Energieverlust bei gegebenem Impuls spezifisch für die Ladung und Masse des Teilchens ist, lässt sich dieses schließlich identifizieren (Diagramm rechts unten).

Die größte je gebaute Zeitprojektionskammer

Mit einem Volumen von 90 Kubikmetern sollte die ALICE-TPC die größte je gebaute Zeitprojektionskammer, aber auch die beste ihrer Art werden. Ironischerweise waren wir Ende 1997, gerade als wir endlich die Genehmigung für den Bau erhalten hatten, in einer technischen Sackgasse gelandet. Einige Experten meinten sogar, eine TPC mit den geforderten Spezifikationen könne man überhaupt nicht konstruieren. Es war Zeit für einen Neuanfang. Ein Jahr lang haben wir das ganze Konzept überdacht, und am Ende war klar: Die TPC ließ sich doch realisieren, und zwar ohne Abstriche – wenn auch mit ganz anderen Designparametern.

Nun konnten wir an den Entwurf von zwei spezifischen Mikrochips gehen. Sie sollten die von den Proportionalkammern generierten Signale weiterverarbeiten und kamen im fertigen Instrument jeweils 35 000-mal zum Einsatz. Einen davon entwickelten wir im ASIC-Labor (ASIC = Application Specific Integrated Circuit) der Universität Heidelberg. Für den anderen beschritten wir einen völlig neuen Weg.

Wir überzeugten einen der großen industriellen Chipentwickler, dass wir mit seiner Hilfe unsere eigene digitale Prozessierung auf einen seiner hoch entwickelten Analog-Digital-Wandler-Chips setzen und aufs Engste mit dessen Funktionen integrieren durften. Dazu setzten sich die Elektronikentwickler beider Seiten zwei Wochen zusammen in ein Labor. Das funktionierte so gut, dass der Industriepartner gleich unser ganzes Mikroelektronikteam abwerben wollte. Zum Glück schlugen die Teammitglieder das attraktive Angebot aus – die Entwicklungsabteilung des CERN hat eben eine besonders abwechslungsreiche Arbeit zu bieten.

Der Vorzug des Chips ist unter anderem seine geringe Leistungsaufnahme. Trotzdem müssen wir die TPC mit 30 Kilowatt Leistung versorgen, und in den massiven Kupferleitungen fließen insgesamt rund zehn Kiloampere Strom. Für den Übergangsstrahlungsdetektor (TRD), ebenfalls ein wichtiges Bauteil von ALICE, liegen diese Werte sogar noch höher.

In derselben Zeit nahmen wir mit CERN-Forschern und einem weiteren industriellen Partner die Entwicklung des Feldkäfigs der TPC auf. Er ist im Wesentlichen eine riesige Tonne aus zwei konzentrischen Zylindern, die extreme Anforderungen an mechanische Präzision und Stabilität erfüllen und vollständig gasdicht sein muss. Zudem darf sie praktisch nichts wiegen, damit den zu messenden Teilchen möglichst wenig Material im Weg steht.

Wir hofften also auf Experten aus der Luft- und Raumfahrt oder auch auf Hersteller, die mit modernen Kompositmaterialien etwa für Schi oder Tennisschläger arbeiten. Eine erste weltweite Ausschreibung endete damit, dass wir ein einziges Angebot erhielten, das uns um den Faktor zehn zu teuer war. Im Nachhinein erschien uns der Preis allerdings verständlich, denn ein kommerzielles Unternehmen muss sich gegen das große Risiko eines Fehlschlags absichern. Wir konnten den Preis nur dadurch senken, dass wir die Verantwortlichkeiten klar regelten und das Projekt schließlich partnerschaftlich mit Industrie, CERN- und GSI-Mitarbeitern durchführten. In der Tat war das Risiko groß: Der erste Versuch schlug fehl, der innere Zylinder war nicht dicht. Aber der zweite war perfekt!

Nach der letzten Inspektion (Foto links, mit den Autoren) ersetzten wir die im Bild sichtbaren gelben Holzplatten in den beiden Endflächen durch insgesamt 72 Auslesekammern, die in der Zwischenzeit in Heidelberg, bei der GSI und an der Comenius-Universität in Bratislava (Slowakei) gebaut worden waren. Dann drehten wir den TPC-Feldkäfig um 90 Grad. Nach einem Jahr sorgfältigster Tests war es im Januar 2007 so weit: Die TPC wurde aus dem Reinraum, in dem sie zusammengebaut worden war, in der rund 50 Meter unter dem Erdboden liegenden ALICE-Kaverne installiert und in Betrieb genommen. Statt Teilchen aus Blei-Blei-Kollisionen vermaß sie zu Kalibrierungszwecken zunächst kosmische Strahlung und die Zerfälle von radioaktivem Krypton, das wir dem TPC-Gas zugesetzt hatten. Rechtzeitig zum erwarteten LHC-Start im September 2008 war das zehnjährige Projekt abgeschlossen.

Ein anderes großes Projekt der deutschen Arbeitsgruppen, dessen Dimensionen mit dem Bau der TPC vergleichbar sind, war der Übergangsstrahlungsdetektor TRD. Er erlaubt es, unter Tausenden produzierter Teilchen die Elektronen zu identifizieren. Das muss ihm binnen etwa zehn Mikrosekunden gelingen, damit er dazu beitragen kann, dass ALICE nur die wirklich interessanten Daten speichert. Das Grundprinzip des Detektors besteht darin, Röntgenphotonen zu messen, die von extrem energiereichen Teilchen beim Durchgang durch die Grenzfläche zwischen zwei Materialien mit unterschiedlichen Brechungsindizes ausgesandt werden. (Ein solches Instrument ist auch in »Mit der ISS der Dunklen Materie auf der Spur«, SdW 9/2010, S. 22, beschrieben).