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Christoph Moeskes (Hg.)
Nordkorea

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Christoph Moeskes (Hg.)

Nordkorea

Einblicke in ein rätselhaftes Land

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage als E-Book, Dezember 2013
entspricht der 3. überarbeiteten und aktualisierten Druckauflage vom November 2013
© Christoph Links Verlag GmbH, 2004
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung zweier Fotos von Martin Sasse
Satz und Lithos: Ch. Links Verlag, Berlin
Karte: Peter Palm, Berlin

eISBN 978-3-86284-038-0

Inhalt

Einleitung

Pjöngjang

Dirk Brauns

Sonnenaufgang, keine Bomben.
Reiseskizzen

Volker Hagemeister

Röntgen bitte.
Tourismus als Staatsbesuch

Wolfgang Bauer

Auf den Spuren des Marschalls.
Unterwegs mit Herrn Kim und Herrn O

Günter Unterbeck

Frau Miez wird krank.
Haustiere in der Hauptstadt

Provinz

Simon Bone

Der Alligator trägt das Tablett.
Im Myohyang-Gebirge

Britta-Susann Lübke

Das Märchenland meiner Kindheit.
Die Rückkehr meines Vaters nach Hamhung

Inszenierung

Elke Werry

Die Blumen von Pjöngjang
Tanzende Polizistinnen

Johannes Schönherr

Permanenter Kriegszustand.
Das nordkoreanische Kino

Bernd Girrbach

Diplomatie der Bilder.
Notizen einer Drehreise

Bildreportage

Martin Sasse

Die liebe Leitung.
Nordkorea heute und morgen

Hilfe

Katja Richter

Mai, Juni, Juli.
Die Arbeit der Welthungerhilfe

Notker Wolf

Näher zusammenrücken.
Benediktiner bauen ein Krankenhaus in Rason

Wirtschaft

Rüdiger Frank

Zwei Geschwindigkeiten.
Nordkorea im Wandel

Christoph Giesen

Die Lippe zu den Zähnen.
Der wirtschaftliche Einfluss Chinas

Georg Fahrion

Pjöngjangs Pyramide.
Ägypter errichten ein Mobilfunknetz

Austausch

Bärbel Gutzat

Wechselnde Temperaturen.
Deutschunterricht an der Kim-Il-Sung-Universität

Uwe Schmelter

Goethe west-östlich.
Der deutsche Lesesaal in Pjöngjang

Hartmut Koschyk

Berlin bleibt in Pjöngjang gehört.
Gestaltungsmöglichkeiten für Deutschland und die EU

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Hilfreiche Internetadressen

Über den Herausgeber und die Autoren

Einleitung

Juche 99–101

Am 17. Dezember 2011 erlag Nordkoreas »Geliebter Führer« Kim Jong Il einem Herzinfarkt. Sein Tod erschütterte das Land. Die Menschen weinten, rauften sich die Haare, fielen zu Boden. Es waren ähnliche Szenen, wie sie sich nach dem Tode seines Vaters Kim Il Sung, des »Großen Führers«1, am 8. Juli 1994 abgespielt hatten. Damals blieb die Zeit stehen, und zwar im wahrsten Sinne: Nach dreijähriger Staatstrauer wurde der Staatsgründer zum »Ewigen Präsidenten« erhoben und der Juche-Kalender eingeführt. Er beginnt mit dem Jahr 1, dem Geburtsjahr Kim Il Sungs 1912. Kim Jong Il starb demnach im Juche-Jahr 99.

Auch in Berlin war die Anteilnahme über den Tod des »Geliebten Führers« groß, wenn man der staatlichen Nachrichtenagentur KCNA glauben darf. Eine »endlose Menschenmenge« habe sich am 19. Dezember 2011 vor der Botschaft des Landes eingefunden, heißt es in einer Meldung, begleitet von einem »Naturwunder«: Eine Meise habe eine Stunde vor dem Gebäude ausgeharrt, und ein Aprikosenbaum habe trotz der Winterzeit zu blühen begonnen. »Es schien, als ob der Vogel bei der traurigen Nachricht des Dahinscheidens des herausragenden Mannes zu der Trauerstelle flog, um sein Beileid auszudrücken.«2

Hat dieses Land wirklich solch eine Meise?

Nordkorea verblüfft, lässt staunen und den Kopf schütteln. Die Nachrichten und Bilder, die es aussendet, scheinen allzu oft wie von einem anderen Planeten. Es ist das Land der Militärparaden und Massenaufmärsche, der kolossalen Statuen und Monumente, das Land ewigen Jubelns und Winkens. Es ist das Land der Kims, welche die Demokratische Volksrepublik Korea seit über 60 Jahren in dynastischer Erbfolge regieren und vom Volk gottgleich verehrt werden. 20 Meter hoch sind die beiden neuen Kim-Statuen, die am 100. Geburtstag des »Ewigen Präsidenten«, in der Hauptstadt Pjöngjang enthüllt wurden. Schaut man sich auf Youtube den KCNA-Enthüllungsfilm an, bekommt man fast einen Hörsturz, so laut ist der Jubel, als die Tücher fallen.

Unmittelbar nach dem Tod Kim Jong Ils wurde dessen dritter Sohn Kim Jong Un zum Nachfolger bestellt. Bislang kommt der junge Mann ohne die Huldigungsformen aus, die seinem Vater und Großvater zuteil wurden. Stattdessen präsentieren ihn die Medien als fröhlichen, zupackenden Führer, der Optimismus und Aufbruchstimmung verbreiten soll. Der Marschall und »Oberste Führer von Armee, Partei und Volk« weiht Vergnügungsparks ein, rügt einen Kommandanten, weil die Soldaten schlecht ernährt sind, und beklatscht mit seiner Gattin eine Show, an deren Ende Micky Maus auftritt.

Neue Zeiten in Pjöngjang? Eher nicht. Auch unter Kim Jong Un gelingt es dem kleinen ostasiatischen Land, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen und sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Am 12. Februar 2013 hielt Nordkorea seinen dritten unterirdischen Atomwaffentest ab und stürzte die Region damit zum wiederholten Mal in eine ernste Krise. Wie 2006 und 2009 verschärfte der UN-Sicherheitsrat auch nach diesem Test die Sanktionen gegen Pjöngjang. Von März an hielten Südkoreaner und Amerikaner ihr reguläres Militärmanöver ab. Die nordkoreanische Führung drehte daraufhin den Kriegslautsprecher auf Anschlag und drohte den Vereinigten Staaten mit einem Nuklearangriff: »Da die USA im Begriff stehen, einen Atomkrieg anzufangen, werden wir das uns zustehende Recht eines Präventivschlags gegen die Kommandozentralen der Aggressoren üben, um unsere höchsten Interessen zu schützen.«3

Die Lage drohte zu eskalieren. Pjöngjang hob den Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea von 1953 auf. Eine letzte Telefonleitung nach Seoul wurde gekappt. Der Norden wurde in Kriegszustand versetzt. Doch die Krise verschärfte sich nicht. Seit dem Frühsommer sind wieder konziliantere Töne aus Pjöngjang zu hören. Mittlerweile soll auch der gemeinsam von Nord- und Südkorea genutzte Industriepark Kaesong seinen Betrieb wieder aufnehmen. Im April 2013 hatten alle Südkoreaner das Gelände noch unverzüglich räumen müssen.

Die militärische Konfrontation ist nicht mehr akut – Nordkoreas Versorgungskrise ist es noch immer. Auch wenn Pjöngjang seit rund drei Jahren ein moderneres Gesicht erhält, Lichterketten in der Hauptstadt glänzen, neue Bauwerke entstehen und viel mehr Autos unterwegs sind, auch wenn es mittlerweile Devisenrestaurants und Supermärkte gibt und landesweit mehr als zwei Millionen Handynutzer registriert sind, bleibt Nordkorea doch ein Land eklatanten Nahrungsmangels. Zwei Drittel der Einwohner können sich nicht täglich satt essen, stellten die Vereinten Nationen unlängst fest, 28 Prozent der Kinder sind unterernährt, vier Prozent akut gefährdet.4 Selbst im neuen Pjöngjanger Vorzeigeviertel Mansudae, berichten Besucher, würden verschüttete Maiskörner vom Boden aufgelesen.

Geschlossene Gesellschaft

Besteht Nordkorea wirklich nur aus Mangel, Schrecken und Groteske? Die Vorstellung fällt schwer. 24 Millionen Menschen können nicht ihr ganzes Leben lang damit befasst sein, der Familie Kim zu huldigen, Hunger zu leiden und Atombomben zu bauen. Sie sind nicht wahnsinnig. Sie leben, schlafen, träumen, lachen wie wir. Sie tun dies allerdings seit über einem halben Jahrhundert unter ungewöhnlichen Bedingungen. Und für uns ist merkwürdig, dass wir nicht wissen, wie ungewöhnlich diese Bedingungen tatsächlich sind. Wer das Land besucht, verbringt zwar die Tage mit den Nordkoreanern, aber nicht den Alltag. Die Gäste stehen unter ständiger Aufsicht. Gezeigt wird ausschließlich das, was gezeigt werden soll.

Dieser doppelte Verschluss macht den Aufenthalt in Nordkorea zu einer einzigartigen Erfahrung: Was ist echt, was inszeniert, was zufällig? Die Besucher ihrerseits, sofern sie das Land wenigstens ansatzweise begreifen wollen, sollten sich fragen: Was in Nordkorea ist asiatisch, was koreanisch, was nordkoreanisch? Erscheint uns das Land vielleicht auch deswegen seltsam, weil uns seine kulturellen und geschichtlichen Kontexte verborgen sind?

Nordkorea-Reisende des Jahres 2013 betreten noch immer ein Land, das wie aus der Zeit gefallen ist. Reklame gibt es ebenso wenig wie mittelalterliche Siedlungen, die glucksenden Gesänge der traditionellen koreanischen Pansori-Sänger sind ebenso wenig zu hören wie die Beatles oder Lady Gaga. Stattdessen sehen die Besucher Autobahnen, auf denen kaum ein Wagen fährt, Gaststuben, in denen sie oft die einzigen Gäste sind, und eine Hauptstadt, die trotz des gestiegenen Verkehrs noch immer rätselhaft entvölkert ist. Nordkorea ist ein stilles, leeres Land. Es scheint zu modern, um rückständig zu sein – und zu anders, um als modern zu gelten. Seine Farben und Geräusche wirken eigentümlich gedämpft, als wenn das Leben, wie wir es kennen, eine Verausgabung wäre und jenes ein Vorhalt zukünftiger Bedürfnisse.

Um so schriller muten die Bilder an, mit denen der Staat sich darstellt. Bei den »Arirang«-Massenspielen, die jeden Sommer im 1.-Mai-Stadion in Pjöngjang stattfinden, halten Zehntausende Nordkoreaner bunte Farbtafeln hoch. In atemberaubender Synchronisation bilden sie ständig wechselnde menschliche Mosaike: gelbe Kornfelder, Parolen, lachende Schweine, eine Pistole, Computer, die Kims. Marschmusik und Volkslieder schallen aus den Lautsprechern. Auf dem Rasen überschlagen sich Kinder, Artisten fallen wie Sternschnuppen ins Netz. Seit 2002 geht das so. »Arirang« ist die langlebigste und erfolgreichste Massengymnastik, die ein sozialistischer Staat je hervorgebracht hat. Mittlerweile ist sie auch ein willkommener Devisenbringer, denn immer mehr chinesische und westliche Touristen wollen dieses zweistündige Überwältigungsspektakel sehen.

Die Botschaft von »Arirang« lautet: Wir leben im besten Korea aller Zeiten. Wir lieben unsere Führer. Wir werden siegen. Dafür proben Tausende Tänzerinnen monatelang auf allen großen Plätzen Pjöngjangs. Diese Proben sind fast noch wichtiger als das Spektakel selbst, künden sie doch von der permanenten Mobilisierungskraft des Staates. Dass es bei den Aufführungen dann mehr Mitwirkende als Zuschauer gibt, ist unerheblich: In Nordkorea zählt die Botschaft und nicht der Empfänger, hier zählt das Medium der Masse und nicht der einzelne Empfang.

Der Effekt, den diese Unvertrautheit auch für Gäste aus anderen asiatischen Ländern mit sich bringt, ist enorm. Das totalitäre Regime führt seine Besucher durch eine totale Staatsinszenierung. Sobald sie am Bahnhof oder Flughafen in Pjöngjang eingetroffen sind, werden sie von der örtlichen Reiseleitung in Empfang genommen, die sie von nun an auf Schritt und Tritt begleitet. Zufällige Kontakte sind ausgeschlossen; Nordkoreaner brauchen eine Genehmigung, bevor sie mit Ausländern sprechen. Die Entourage hetzt über die sechsspurigen Boulevards der Hauptstadt von einem Denkmal zum anderen, von einem Schauobjekt zum nächsten. Im Koreakrieg von 1950 bis 1953 nahezu vollständig zerstört, erscheint das wiederaufgebaute Pjöngjang weniger wie eine Stadt denn wie eine Sammlung von Kulissen – eine kapitale Behauptung. Für die rund drei Millionen Einwohner gilt es als Privileg, dort zu leben. Den übrigen Nordkoreanern ist die Hauptstadt zentraler Wallfahrtsort, der Fortschritt und Größe des Landes nicht nur versinnbildlicht. Er offenbart sie.

Delegationsbusse parken am Mansudae-Hügel im Herzen der Stadt. Nordkoreaner aus allen Landesteilen steigen aus, schreiten zu den 20 Meter hohen Bronzestatuen Kim Il Sungs und Kim Jong Ils, legen Blumen nieder, verbeugen sich. Nur wenigen gelingt es, dabei nicht zu weinen. Die Großplastiken wurden im Frühjahr 2012 vom Mansudae-Kunststudio gegossen, dem weltweiten Marktführer in Sachen Monumentalskulptur. Sie ersetzen die strenge Kim-Il-Sung-Statue, die sich der Große Führer 1972 zu seinem 60. Geburtstag hatte errichten lassen.

In Korea wird der 60. Geburtstag traditionell als besonderer Ehrentag gefeiert, Kim Il Sungs 70. ließ jedoch noch mehr Konfetti und Bauwerke regnen. 1982 wurde der Triumphbogen eingeweiht, der mit seinen 60 Metern höher als der in Paris ist und an den heldenhaften Widerstand gegen die Japaner erinnern soll, die Korea von 1910 bis 1945 annektiert hatten. Ferner wurden eingeweiht: der Große Studienpalast des Volkes, eine Eisbahn, die wie ein umgestürzter Sektkelch ohne Stiel aussieht, und der Juche-Turm, dessen Kunstfackel die Staatsideologie in einer Höhe von 170 Metern symbolisiert und der damit sein Pendant, das Washington Monument, um einen Meter überragt.

Kein Land der Gegenwart ist schon so lange so sehr von der übrigen Welt abgeschottet wie Nordkorea. Doch die Anleihen, derer sich der Staat bedient, stammen nicht allein aus koreanischen und sozialistischen Traditionen, sondern eben auch aus jener Welt, von der er sich abzugrenzen versucht. Nirgendwo wird dieser Widerspruch so deutlich wie in der Staatsideologie Juche. Sie verbindet Elemente des Marxismus-Leninismus, des Nationalismus, christlicher Heilserwartung und konfuzianischer Hierarchievorstellungen zu einer schwer greifbaren Universaltheorie und ist in unzähligen Werken und Sprüchen ihres Erfinders Kim Il Sung niedergelegt.

Wörtlich übersetzt bedeutet Juche »Subjekt«. Kim Il Sung führte den Begriff in den fünfziger Jahren ein, um sich von sowjetischen Einflüssen zu lösen und den eigenen Aufbau des Sozialismus voranzutreiben. Zur Ideologie wurde Juche allerdings erst Anfang der siebziger Jahre erhoben. Kim Il Sung habe sich damit als großer Denker darstellen wollen, der selbst Mao Zedong übertreffe, schreibt der amerikanische Koreakenner und Literaturwissenschaftler B. R. Myers in seinem Buch »The Cleanest Race – How The North Koreans See Themselves And Why It Matters«.5 Der Große Führer tat dies, indem er sich gegen jegliche Einflüsse von außen wehrte und auf die mutmaßliche Tugendhaftigkeit, Reinheit und Unschuld sowie die Überlegenheit des koreanischen Volkes baute – unter richtiger Führung, versteht sich. 1977 ersetzte Juche den Marxismus-Leninismus in der Verfassung.

Juche umfasst nicht nur das Bekenntnis zur Nation. Der Begriff beschreibt auch eine innere Verfasstheit, eine allzeit bereite Meditation, die Gedanken des Führers mit den eigenen in Einklang zu bringen und sie in die Tat umzusetzen.6 Um an dem überlegenen Geheimwissen teilzuhaben – das nichts anderes als ein Mittel der Herrschaftssicherung ist –, bedarf es der besonderen Schulung. Der Österreicher Walter Pfabigan erlebte sie Anfang der achtziger Jahre als stundenlangen, sich täglich wiederholenden Frontalunterricht. »Das Ziel einer >Erziehung in Dschutsche< ist nicht der kompetent-kritische Diskutant der Ideen des Führers, sondern der gehorsame Untertan«, schreibt Pfabigan in seinem Buch »Schlaflos in Pjöngjang« und fährt ermattet fort: »Allmählich habe ich das Gefühl, dass mein Verstand abstirbt; mechanisch schreibe ich mit. (…) Aber plötzlich geschieht etwas in mir: All das wird mir irgendwie plausibel, eine unklare Bereitschaft zur Zustimmung entsteht. Wäre das Leben nicht vielleicht wirklich leichter mit einem Führer?«7

Der erfolglos verführte Student aus Westeuropa hatte die Wahl, ob er sich dieser Obhut anvertraut oder nicht. Die Nordkoreaner haben sie nicht. Sie werden schon von Kindesbeinen an auf den Großen und auf den Geliebten Führer eingeschworen, die sich in rastlosem Einsatz für das Volk verzehren. »Die revolutionäre Geschichte des Großen Führers Generals Kim Il Sung« lautet ein Unterrichtsfach an den Oberschulen, ein anderes »Die revolutionäre Geschichte des Großen Führers Generals Kim Jong Il«. Ihre liebevolle Fürsorge kennt nur eine Antwort: Gegenliebe und die grenzenlose Anstrengung, ihnen die erwiesene Güte durch unendliche Treue zu vergelten. Diese Bindung kann dauerhaft nur funktionieren, wenn die Gesellschaft als »große Familie« organisiert ist, innerhalb derer stark abgegrenzte Hierarchien herrschen. Jeder Nordkoreaner wird bei Geburt in eine politische Klasse eingeteilt, welche die Loyalität der jeweiligen Familie zur Führung bemisst. »Songbun« nennt sich dieser Status, der über Generationen vererbt wird und nicht geändert werden kann.8

Juche und Songbun sind für uns die erste merkwürdige Bedingung, unter der die Nordkoreaner leben. Die unbedingte Hingabe an Kim Il Sung und seinen Sohn Kim Jong Il ist die zweite. Der Personenkult sprengt jede Vorstellung. Wie in Pjöngjang stehen im Zentrum jeder Stadt große metallene Kim-Il-Sung-Statuen. In öffentlichen Gebäuden und Wohnungen hängen eingerahmte Bildnisse des Großen Führers und des Geliebten Führers. Die Porträts werden mit Bürsten gereinigt, die in besonderen Behältnissen aufbewahrt werden. Sollte ein Bild auch nur leicht beschädigt sein, wird dies als politisches Verbrechen geahndet. In Schulen, Betrieben und Kasernen gibt es besondere Räume, in denen die Werke Kim Il Sungs und Kim Jong Ils studiert werden, ähnlich den sowjetischen »Lenin-Zimmern« der dreißiger Jahre.

Der Personenkult gründet aber nicht nur auf sozialistischen Vorbildern, sondern erstaunlicherweise auch auf denen der japanischen Besatzer. Kim Il Sungs Geburtstag etwa wird als »Tag der Sonne« gefeiert – unvorstellbar im alten Korea, im alten Japan mit seinem Sonnenkult von Shintu und Kaiser jedoch gang und gäbe. Der japanische Kaiser Hirohito ließ sich gerne auf weißen Pferden abbilden – Kim Jong Il ebenfalls. Und der »heilige Berg« Paektu im Norden des Landes wäre wohl nie in diesen Rang geraten, hätten die Japaner nicht auch ihren Nationalberg gehabt, den Fuji. Der Einfluss Japans auf die nordkoreanische Macht- und Bilderwelt liegt vor allem daran, dass viele Koreaner, die von 1910 bis 1945 im Kulturapparat der Besatzer in Seoul tätig waren, bald darauf nach Pjöngjang gingen.9

Natürlich rekurriert der Personenkult auch auf Huldigungsformen, wie sie im alten Korea üblich waren. Der im 18. Jahrhundert herrschende König Yongjo etwa galt als »höchster Geist der Nation«, so dass die Lobpreisung Kim Jong Ils als »heiliges Gehirn« vielleicht etwas weniger bizarr anmuten mag. Doch der Führerkult nordkoreanischer Prägung ist vor allem eines: nordkoreanisch. Soweit bekannt ist, musste sich Kim Il Sung in den sechziger Jahren gegen innenpolitische Widersacher behaupten. Das Erreichen der endgültigen Machtfülle mag dazu beigetragen haben, dass die Verehrung danach grenzenlos wurde. Entscheidend ist aber, dass ein Personenkult, je länger er währt, immer intensiver betrieben werden muss, um glaubwürdig zu bleiben. Seit Anfang der siebziger Jahre tragen Nordkoreaner eine Anstecknadel mit dem Porträt des Großen Führers am Herzen; in den achtziger Jahren, als Kim Jong Il öffentlich zum Nachfolger aufgebaut wurde, kamen auch solche hinzu, die ihn, den Geliebten Führer, zeigen. Fremde können diese sichtbaren Zeichen der Zugehörigkeit zur »großen Familie« in der Regel nicht erwerben.

Die Identität zwischen den beiden Führern und dem Land geht so weit, dass Nordkorea allein aus ihnen zu bestehen scheint. In die Berge sind in riesigen koreanischen Lettern Slogans der beiden Führer eingehauen. Diese Art der Verewigung ist in Ostasien zunächst nicht ungewöhnlich. Wanderer und Mönche haben seit jeher Gedichte oder ihren Namen in der Landschaft hinterlassen, was einer romantischen Übereinstimmung mit der herrlichen Natur entspringt. In Nordkorea geht sie jedoch auf eine proklamierte Übereinstimmung der Natur mit einer verherrlichten Person zurück. Überall, wo die so in die Ewigkeit Gehauenen Rast machten, ist heilige Erde, sind Bänke oder Baumstümpfe liebevoll eingezäunt. Ebenso geweiht ist jede Einrichtung, welche die Kims in ihrer exorbitanten Reisetätigkeit besucht haben. Die Vor-Ort-Anleitungen, die Kim Il Sung und Kim Jong Il in Chemiekombinaten, Schulen, Kliniken, Kasernen, Fischaufzuchtanlagen oder Schuhfabriken abgehalten haben, sind haargenau protokolliert und unverzüglich in den Erziehungskanon eingegangen.

Der ebenso propagierte wie beherzigte Personenkult spielte sich lange Zeit in einem nahezu sterilen Propagandaumfeld ab. Das ist für uns die dritte Merkwürdigkeit, unter der die Nordkoreaner leben. Ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Bücher sind nur wenigen Privilegierten zugänglich. Fernseh- und Radiogeräte sind auf die staatlichen Sendefrequenzen fixiert. Das Fernsehen hat drei Kanäle, wobei zwei nur am Wochenende senden, das Radio 13. Wer ein Gerät kauft, wird registriert. So kann überprüft werden, ob an den Empfängern nachträglich manipuliert wurde. Immerhin lassen sich diese Geräte abschalten. Die Lautsprecher, die in jedem nordkoreanischen Haushalt installiert sind (auch dies eine Übernahme der Japaner10), können nur leiser oder lauter gedreht werden.

Das Informationsmonopol des Staates bekommt allerdings zunehmend Risse. Seit rund zehn Jahren gelangen immer mehr DVDs, CDs, Handys und USB-Sticks von China aus ins Land. Aus dem kleinen Handel entlang der 1400 Kilometer langen, einigermaßen durchlässigen Grenze ist mittlerweile ein veritables Geschäft geworden. Heutzutage können Nordkoreaner im Verborgenen jede nur erdenkliche DVD erwerben, tauschen oder leihen – auch südkoreanische. Wer die neueste Soap-Staffel verpasst hat und über hinreichend Geldmittel verfügt, bestellt sie einfach beim Schwarzhändler seines Vertrauens.11 Immer mehr Nordkoreaner wissen, wie es in der Welt aussieht, haben in ihrem trostlosen Plattenbau die Glitzermeere New Yorks, Shanghais und Seouls gesehen, während sie doch angeblich selbst im besten Korea aller Zeiten wohnen. Was bedeutet das für sie, was für die Führung?

Die Führung reagierte auf diesen für sie gefährlichen Widerspruch, indem sie etwas mehr Weltläufigkeit ins Fernsehprogramm zauberte, etwa durch Übertragung einiger Fußballbundesligaspiele, vor allem aber dadurch, dass sie die Hauptstadt eben jenen Glitzermeeren der Welt anzuverwandeln versucht. Seit drei Jahren soll der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht und Nordkorea zu einer »starken und prosperierenden Nation« gemacht werden. Als sichtbares Zeichen dessen dringt abends aus den Wohnblöcken Pjöngjangs jetzt Licht, und an den Brücken über den Taedong schicken LED-Bänder nächtliche Regenbogen von einem Ufer zum anderen.

Wer wollte da noch von New York oder Shanghai träumen, wenn er sich permanent von Feinden umzingelt sieht, noch nie im Ausland war, in den Unterrichtsfächern über die »revolutionäre Geschichte« der Großen Führer stets brillierte – und eigentlich nur hier Karriere machen kann? Die Bindungskräfte des Systems sind noch immer weit stärker als die Verlockungen der globalisierten Welt.

Widerstand und wieder Krieg

Nordkoreanische Denkmale, Filme, Plakate und Museen haben im Grunde nur ein Thema: Krieg. Er ist das eigentliche Prinzip, auf dem der Staat seine Proklamationen gründet und zur unbedingten Abwehrbereitschaft gegen mutmaßliche Feinde, insbesondere die USA, anhält. »Die nordkoreanische Geschichte kannte nie anderes als totalitäre Herrscher, am schlimmsten waren die ausländischen. Mongolen verwüsteten das Land, chinesische Kaiser unterjochten das Volk, der Tenno ließ es ausbluten. Kim Il Sung verlieh dem Norden endlich eine eigene Identität.«12 Er tat dies, indem er sich zum Sieger über die japanischen Kolonialherren, zum Gewinner des Koreakrieges und zum Gewährsmann künftiger Triumphe stilisierte. Die 35-jährige japanische Besatzung und der Krieg von 1950 bis 1953 sind in ganz Korea unvergessen. Im Norden aber sind sie staatstragend.

Für die längste Zeit war Korea ein verschlossenes, von Bauern, Feudalherren und einer hohen Kultur geprägtes Land. Wer auch immer gerade herrschte, er konnte nicht in jeden Lebensbereich dringen. Der Begriff »Einsiedlerreich«, der heute dem Norden der Halbinsel nicht ohne Grund zugeschrieben wird, wurde bereits im 19. Jahrhundert vom Ausland geprägt.13 Es schaute begehrlich auf Korea, nachdem die Briten 1842 China und die Amerikaner 1854 Japan zur Öffnung gezwungen hatten. Das Ringen um wirtschaftlichen und strategischen Einfluss gewannen Anfang des 20. Jahrhunderts die Japaner. Nach Kriegen gegen Russland und China kam die koreanische Halbinsel in den Besitz des expandierenden Kaiserreiches, 1905 durch einen Protektionsvertrag, 1910 durch Annexion.

Die Kolonialherren unterwarfen das Land einer umfassenden Japanisierung. Ein riesiger Polizei- und Verwaltungsapparat wachte darüber, dass es ausschließlich zum eigenen Vorteil modernisiert wurde. »Die Diskriminierung war beträchtlich: Nach dem 1911 erlassenen Unternehmensgesetz konnten Koreaner eine Geschäftstätigkeit nur mit Zustimmung der Regierung aufnehmen; Eisenbahn, Kommunikationswesen und Bergbau gingen in japanischen Besitz über. 1939 wurden alle Koreaner verpflichtet, ihre Namen in mehrsilbige japanische Vor- und Zunamen umzuwandeln. In der Schule und am Arbeitsplatz war die koreanische Sprache offiziell verboten.«14

Besonders die koreanischen Kommunisten fühlten sich zum Widerstand herausgefordert. Sie bildeten kleine Guerillagruppen, die im unzugänglichen Norden der Halbinsel operierten wie in der ebenfalls von Japan besetzten Mandschurei. Einer dieser mobilen Überraschungstrupps wurde von Kim Il Sung angeführt. Anfang der vierziger Jahre ging er nach Sibirien, um seine Kriegskünste in sowjetischen Trainingslagern zu verfeinern. Im russischen Chabarowsk wurde ihm am 16. Februar 1941 ein Sohn geboren: Kim Jong Il. Der Makel ausländischer Herkunft machte der nordkoreanischen Legendenindustrie später nicht sonderlich zu schaffen. Sie änderte sein Geburtsjahr in 1942, so dass er genau 30 Jahre nach seinem Vater geboren wurde, und versetzte seinen Geburtsort in ein »Revolutionscamp« am nunmehr »heiligen« Berg Paektu.

Solcherlei Legenden waren noch nicht nötig, als Japan im Sommer 1945 den Zweiten Weltkrieg verloren hatte und aus Korea abzog. Der ehemalige Guerillero Kim Il Sung und seine Waffenbrüder kehrten nach Pjöngjang zurück und begannen, den Norden nach sozialistischem Vorbild neu zu ordnen. Dabei reduzierte Kim Il Sung, soweit bekannt ist, ebenso geschickt sowjetische Machtansprüche wie die seiner kampferprobten Kameraden. Moskau baute die Verwaltung auf und rüstete bis 1948 die Armee. Kim Il Sung jedoch führte eine Landreform durch und stilisierte sich immer mehr zum alleinigen Herrscher.

Der Süden war von diesen Entwicklungen nicht berührt. Hier bildeten die Vereinigten Staaten übergangsweise eine Militärregierung. Beim Neuaufbau des Landes stützte sich der Sieger des Zweiten Weltkrieges vornehmlich auf die alten Eliten, die sich mit der japanischen Besatzungsmacht arrangiert hatten. Dies führte zu erheblichen Spannungen zwischen Konservativen auf der einen Seite und linken Intellektuellen, Bauern und Arbeitern auf der anderen Seite. Wieder kam es zu Guerillakämpfen, die vom Norden unterstützt wurden. Daraufhin wurde der 38. Breitengrad als Trennlinie festgelegt. Um die Situation zu entschärfen, sollten unter Aufsicht der Vereinten Nationen Wahlen im noch ungeteilten Korea abgehalten werden. Doch der Norden verweigerte sich dem. So wählte der Süden eine Nationalversammlung, die am 15. August 1948 die Republik Korea mit dem Präsidenten Rhee Syng Man an der Spitze gründete. Die Hälfte der Parlamentssitze blieb unbesetzt.

Der Norden antwortete schnell. Am 9. September 1948 gründete sich die Demokratische Volksrepublik Korea. Aus zwei konkurrierenden Verwaltungen waren zwei rivalisierende Regierungen geworden, die einen jeweils eigenen Machtanspruch auf die ganze koreanische Halbinsel hegten. Auf beiden Seiten kam es zu Schusswechseln, und noch bevor das Wort vom Kalten Krieg geprägt war, war er bereits in seine heiße Phase getreten.

Am 25. Juni 1950 marschierten nordkoreanische Truppen im Süden ein. Binnen weniger Tage fiel Seoul, und nach einigen Wochen kontrollierte der Norden 90 Prozent des Landes. Die Vereinten Nationen riefen ohne die Stimme der Sowjetunion dazu auf, Südkorea zu unterstützen. Im September 1950 landeten amerikanische Truppen unter General MacArthur. Die Amerikaner führten den Kriegseinsatz der UN an, an dem auch Truppen aus Südkorea, England, Frankreich und zwölf weiteren Nationen beteiligt waren. In kurzer Zeit konnten die Alliierten die nordkoreanische Armee wieder hinter den 38. Breitengrad zurückdrängen.

General MacArthur wollte sich damit nicht zufriedengeben. Seine Bomber überzogen den Norden mit Luftangriffen, bei denen mehr Napalm eingesetzt wurde als im späteren Vietnamkrieg. Die Nordkoreaner konnten dem wenig entgegenhalten. Viele verbarrikadierten sich unter der Erde. Ende Oktober 1950 erreichten die UN-Truppen den Amnokgang, den Grenzfluss zu China. Durch die Präsenz der Amerikaner sah sich nun die 1949 gegründete Volksrepublik bedroht. China sandte Hunderttausende Soldaten, die im Winter gemeinsam mit nordkoreanischen Einheiten die UN-Truppen bis hinter Seoul zurückdrängten. Im Frühsommer 1951 hatte sich die Front etwas nach Norden verschoben und war wieder dort angekommen, wo der Krieg seinen Ursprung genommen hatte: am 38. Breitengrad.

Während die Kämpfe in den nächsten beiden Jahren unvermindert weitertobten und der amerikanische Präsident Eisenhower sogar mit dem Einsatz der Atombombe drohte, verhandelten die Kriegsparteien in 765 Konferenzen über einen Waffenstillstand. Am 27. Juli 1953 schließlich einigten sich die Vereinten Nationen und Nordkorea im Grenzdorf Panmunjom darauf, die Waffen ruhen zu lassen. Die Vereinbarung gilt bis heute; einen Friedensvertrag gibt es nicht. Es wird geschätzt, dass der Krieg, der streng genommen als Bürgerkrieg begann und sich rasch zum offenen Regionalkonflikt im beginnenden Kalten Krieg auswuchs, über eine Millionen Soldaten und bis zu drei Millionen Zivilisten das Leben kostete.15

Nirgendwo ist die Erinnerung an die verheerenden Kämpfe so lebendig wie in Nordkorea. In China wird die verlustreiche sozialistische Bruderhilfe als Episode wahrgenommen. In Amerika wird der »Einsatz für Frieden und Freiheit« vom öffentlichen Scheitern im Vietnamkrieg fast völlig überdeckt. Und in Südkorea war man in den folgenden Jahrzehnten vor allem mit dem Ausbau zur Wirtschaftsmacht und dem Abbau diktatorischer oder autoritärer Regierungsstrukturen befasst. In Nordkorea aber haben die Luftangriffe der Amerikaner, die teilweise Züge eines Vernichtungskrieges trugen, eine Taubheit hinterlassen, die durch nichts anderes ersetzt wurde als durch Wehrbereitschaft, Widerstand und wieder Krieg. Dem Erinnerungsmonopol des Staates gelang es, die erschütternden individuellen Kriegserfahrungen kollektiv zu binden und sie in der siegreichen Vaterfigur Kim Il Sungs auszuhärten. Sein Sohn, der »Liebe Genosse General Kim Jong II«, führte dieses Erbe mit der Songun-Politik, der »Militär-zuerst-Politik«, unvermindert fort. 2011 ersetzte Songun Juche in der Verfassung. Nordkorea ist im Krieg geboren, und es hat den Anschein, als fürchte es, seine Existenz zu verlieren, sollte es sich einmal nicht mehr von Feinden umringt sehen.

Mängel

Nordkoreas dritter Nukleartest am 12. Februar 2013 war vorläufiger Höhepunkt dieser permanenten Wehrbereitschaft. Flankiert wurde er vom Start einer Langstreckenrakete im Dezember 2012 und mehreren Raketentests kurzer Reichweite im Mai 2013, so dass der Eindruck entstehen sollte, Nordkorea verfüge auch über eine Atombombe. Dem ist aber offenbar nicht so. Von einem einsatzfähigen nuklearen Sprengkopf scheint das Land noch viele Jahre entfernt. »Denn die Verkleinerung auf Maße und Gewichte, die von einer ballistischen Rakete als Nutzlast transportiert werden können, ist eine der größten Herausforderungen bei der Herstellung einer Atomwaffe.«16

Nordkoreas Nuklearprogramm begann mit Unterstützung der Sowjets in den fünfziger Jahren. Es folgt der inneren Entwicklungslogik eines Staates, der seine Ingenieure zu Höchstleistungen trimmt, sich für das beste Korea aller Zeiten hält und von einem furchtbaren Krieg traumatisiert ist. Dass die USA entgegen den Vereinbarungen des Waffenstillstands von 1953 Atomwaffen in Südkorea stationierten, zementierte das Streben nach atomarer Selbstverteidigung. Dabei ist es aus Sicht Pjöngjangs unerheblich, dass diese Waffen 1992 abgezogen wurden, schließlich sind in Südkorea noch immer 28 500 amerikanische Soldaten stationiert (was den Vereinbarungen von 1953 entspricht).

Das Atomprogramm bringt Nordkorea aber nicht nur Stolz nach innen und Abschreckungspotential nach außen, sondern stärkt auch das Überleben des Systems. Seit den neunziger Jahren nutzt das verarmte Land gerade die Ungewissheit darüber, wie weit sein Atomprogramm gediehen ist, um ausländische Hilfen zu erwirken. Diese Ungewissheit will genährt sein, und so ließ die Führung lange Zeit nur so viel internationale Überprüfung zu, dass einerseits keine verbindlichen Aussagen über den Umfang des Atomprogramms getroffen werden können, andererseits aber dessen Ernsthaftigkeit nicht zu bezweifeln ist.

Diese Taktik führte immer wieder zu scharfen Konfrontationen zwischen Nordkorea und dem Rest der Welt. Die erste begann 1993, als Nordkorea den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) kündigte, in welchem es sich 1985 auf den Verzicht auf Kernwaffen verpflichtet hatte, und gleichzeitig bekannt wurde, dass es über waffenfähiges Plutonium verfügt. Das Rahmenabkommen mit den Vereinigten Staaten beendete 1994 diese erste Nuklearkrise: Nordkorea erklärte sich einverstanden, seine Plutoniumwirtschaft binnen zehn Jahren einzustellen und Kontrollen durch die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEO) zuzulassen. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA, die Energieversorgung mit Heizöllieferungen und dem Bau zweier Leichtwasserreaktoren zu verbessern.