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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann zahlreiche Reisen nach Afrika und Asien. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendliteratur und den Sonderpreis 2016 des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem die berühmte »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die Roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling, sowie die »Jacobi Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Das Karussell ist die Vorgeschichte zum autobiographisch gefärbten Roman Krokodil im Nacken, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Impressum
Die „Trilogie der Wendepunkte“ von Klaus Kordon umfasst die Romane
Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter
Mit dem Rücken zur Wand
Der erste Frühling

Ebenfalls lieferbar:
Die roten Matrosen – Arbeitsheft für Lehrer/-innen ISBN 978-3-407-99110-2
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78921-1 Print
ISBN 978-3-407-74840-9 E-Book (EPUB)
© 1998 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 1984 Beltz & Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandfoto und Foto S. 2/3: akg Berlin
E-Book: publish4you, Bad Tennstedt
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

1. TEIL
ES LIEGT WAS IN DER LUFT
Ein Fremder kommt
Schlachtschiffe
Die große Lüge
Lieber Erich!
Oswin aus der Ackerstraße
Weiße Katzen – schwarze Katzen
Herzlich willkommen
Was kostet ein Arm?
Mit offenen Karten
Der ruhmreiche 9. November
Trittbrettfahrer
Zirkus im Zirkus
Hut ab!
2. TEIL
FREUNDE UND FEINDE
Die Niederlage
Für immer
Ein Versprechen
Wer die Waffen hat …
Nicht woher, sondern wohin
Stinktier erster Güte
Morgen, Kinder, wird’s was geben
Ein übler Trick
Eigentlich geht’s uns schon wieder gut
Das ist Krieg
Wir haben gesiegt!
Doch noch Weihnachten
3. TEIL
DIE WUT
Die neue Anni
Kinokarten
Viele kleine Feuerchen
Spuren
Nur ein Verhör
Das eiserne Tor
Vertrauen gegen Vertrauen
Stunde der Abrechnung
Dabei sein
Schlimmer als Krieg
Im Scheunenviertel
Bluthunde
Lutz, die Perle
Fieber
4. TEIL
IN EINER FERNEN ZUKUNFT
Der verlorene Respekt
Was sind schon hundert Jahre?
Mehr als Worte
Nichts geht zu Ende
NACHWORT
ANHANG
 
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Dieses Buch erzählt vom Ende eines Krieges und von einer gescheiterten Revolution. Es beginnt an einem unfreundlichen Novembertag 1918 und endet mitten im kalten Winter 1919.
Ort der Handlung ist Berlin. Über zwei Millionen Menschen leben Anfang des letzten Jahrhunderts in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs, und in den Vororten, die später einmal der Stadt zugeschlagen werden, noch einmal so viele. Doch die Stadt ist kein einheitliches Ganzes, zerfällt in Stadtteile, in gutbürgerliche und ärmliche. Der ärmste Stadtteil Berlins war von jeher der Wedding, die ärmste Straße die Weddinger Ackerstraße – ein Jahrhundert lang berühmt-berüchtigt für Hinterhof-Elend und Lebensmut.
In der Ackerstraße Nr. 37 leben die Helden dieser Geschichte. Sie sind frei erfunden – und haben doch gelebt.

1. TEIL
ES LIEGT WAS IN DER LUFT

Ein Fremder kommt

Der Wind fegt das letzte Laub von den Bäumen, treibt es durch die Straßen, spielt damit. Helle schlägt den Kragen seiner Joppe hoch und zieht sich die Schirmmütze tiefer in die Stirn, bevor er in die Ackerstraße einbiegt. In der Ackerstraße stehen keine Bäume, hier weht der Wind immer besonders heftig, und hat er erst mal ein Dreckkörnchen im Auge, bekommt er es so schnell nicht wieder raus.
Entlang von Kalinkes Lebensmittelladen hat sich eine Menschenschlange gebildet; Frauen, alte Männer, junge Burschen, Kinder stehen dort an.
Annis Mutter ist auch dabei. Sie unterhält sich mit einer kleinen Frau in viel zu großem Soldatenmantel. Die beiden Frauen scheinen auf irgendwas zu schimpfen. Sicher auf den Krieg oder darauf, dass es nichts zu essen gibt. Wenn man in der Schlange steht, gibt es kein anderes Thema.
Vor der Nr. 37 spielen Kinder Fangen. Sie johlen und kreischen, und wird einer abgeschlagen, geht es besonders laut zu.
Auch die Höfe sind voller Kinder. Im ersten hangeln sie an der Teppichklopfstange herum, im zweiten wird Himmel und Hölle gespielt, im dritten hocken ein paar Jungen im Kreis und ziehen abwechselnd an einer alten Pfeife, die sie mit trockenem Laub anstatt mit Tabak gefüllt haben. Das Zeug stinkt fürchterlich, aber es scheint ihnen nichts auszumachen. Muss einer husten, freuen sich die anderen.
Natürlich ist auch der kleine Lutz unter den Paffern. Als er Helle sieht, springt er auf und geht ein Stück mit ihm mit. Das tut er jedes Mal, wenn Helle kommt, und immer sagt er dasselbe:
»Hab Hunger!«
Er sagt das nie vor anderen, sagt es nur, wenn sie allein sind, aber er sagt es fast jedem, den er allein antrifft. Und dabei blickt er denjenigen mit seinen leicht schielenden Augen sehnsüchtig an. Helle hat auch Hunger, der ganze Wedding, die ganze Stadt, das ganze Land hungert. Und nicht erst seit gestern. Er hat es mal ausgerechnet: Der Krieg dauert nun schon über vier Jahre und seit mindestens drei Jahren wird gehungert – das sind tausend Tage! Und deshalb weiß er gar nicht mehr, wie es ist, wenn man nicht hungert. Trotzdem tut ihm der kleine Lutz Leid. »Hab doch nichts«, ist seine ständige Antwort, und jedes Mal wundert er sich, dass der kleine Lutz stets aufs Neue enttäuscht zurückbleibt.
Auf dem vierten Hof ist es stiller; der vierte ist nicht nur der letzte der Höfe, sondern auch der engste und düsterste. Der Schuppen an der Hofmauer, in dem Oswin lebt und seinen Leierkastenwagen unterstellt, nimmt zu viel Platz weg.
»He! Helle!«
Anni steht im offenen Fenster der Fielitz’schen Kellerwohnung. Sie ist vierzehn, ein Jahr älter als Helle, sieht aber aus wie zwölf, so blass und mager ist sie.
Helle kniet sich vor die Kellerwohnung und schaut zu Anni hinunter.
»Warste heute nicht in der Schule?«
»Nee. Mein Husten ist wieder schlimmer geworden.«
Anni trägt auch in der Wohnung ihren Mantel. Es ist zu feucht da unten und sie hat immer Schmerzen in der Brust. Und neuerdings ist sie nicht mehr nur blass, wie die meisten Kinder in der Ackerstraße, sondern richtig bleich.
»Soll ich dir sagen, was ich heute Nacht geträumt hab?«
Anni träumt immer herrliche Sachen. Helle hat längst herausgefunden, dass, was sie ihm erzählt, keine wirklichen Träume, sondern nur Wunschträume sind; dass sie immer von dem träumt, was sie nicht hat. Aber das zeigt er ihr nicht.
»Was haste denn geträumt?«
»Ich hab geträumt, es wär schon wieder Sommer. Mein Vater war da und wir sind nach Grünau schwimmen gefahren.«
Annis Vater ist garantiert nie mit seinen Kindern schwimmen gefahren. Er wurde im Haus nur der olle Fielitz genannt, weil er fast immer mürrisch war, in seiner Kellerwohnung hockte und stänkerte. Wenn er die Kellerwohnung mal verließ, ging er in eine Kneipe. Dann hatte er Geld und spielte den großen Maxe, war nett zu seiner Familie und brachte kleine Geschenke mit. Doch das war selten. Im Sommer vor zwei Jahren ist er dann gefallen, drei Wochen nachdem er zum letzten Mal auf Urlaub war.
»War’s Wasser warm?«
»Ganz warm.« Anni muss lachen und bekommt einen Hustenanfall. Die kleinen blauen Äderchen links und rechts auf ihrer Stirn schwellen an, ihre Augen tränen, aus dem Lachen wird ein verzweifeltes Ringen um Luft.
Anni hat Tbc, wie so viele Kinder und Erwachsene rund um den Wedding. Wenn sie hustet und hinterher spuckt, ist ihre Spucke hellrot. Dr. Fröhlich versucht schon seit Wochen, ein Bett im Krankenhaus für sie zu bekommen, aber es gibt keine freien Betten, und wird doch eines frei, gibt es schwerere Fälle, die vorgezogen werden.
»Hab deine Mutter gesehen«, sagt Helle, als könne er Anni damit über den Hustenanfall hinwegtrösten. »Sie steht bei der Kalinke an.«
Anni kriegt wieder Luft. »Hoffentlich kommt sie bald, dann kann ich zu Oswin rein.«
Oswin hat Anni erlaubt, sich tagsüber auf sein Bett zu legen. Als Leierkastenmann ist er ja den ganzen Tag unterwegs, da ist es nur gut, wenn Anni in der Zwischenzeit auf sein Bett aufpasst, wie er das nennt. Zwar ist es in Oswins Schuppen nicht wärmer als in der Kellerwohnung, aber wenigstens ist es nicht so feucht.
»Ick muss jetzt hoch, Oma Schulte wartet schon.«
»Tschüs!« Anni schaut Helle nach, bis er die Tür zum Seitenaufgang hinter sich geschlossen hat. Dann verschwindet sie aus dem Fenster.
Helle nimmt immer zwei, drei Stufen auf einmal. Das bringt ihn ins Schwitzen und lässt ihn für kurze Zeit den Hunger vergessen. Im dritten Stock angekommen, schließt er die Tür auf, wirft seinen Ranzen in den Flur, schlägt die Tür wieder zu und steigt die steile Stiege zu Oma Schultes Dachkammerwohnung hoch.
»Ich bin’s – Helmut!«
Die Tür führt gleich in Oma Schultes Küche. Sie kann ihn hören, und solange sie nicht weiß, wer vor der Tür steht, öffnet sie sowieso nicht, da kann er klopfen, bis er schwarz wird.
»Bist aber spät dran heute.« Oma Schulte mustert ihn aufmerksam. »Mussteste nachsitzen?«
»Nee.« Helle setzt sich gleich auf einen der vielen Kartons voller Pantoffelteile, die Oma Schultes Küche ausfüllen. Oma Schulte näht Pantoffeln zusammen, die Oberteile an die Sohlen. Schon seit über zehn Jahren macht sie das.
»Kannst mir ruhig sagen, wenn du nachsitzen musstest.« Jedes Mal, wenn er fünf oder zehn Minuten später kommt,
fragt Oma Schulte ihn, ob er nachsitzen musste.
»Musste nicht nachsitzen.«
»Und warum biste dann so spät gekommen?« Martha dreht sich zum Bruder um und fährt sich mit dem Arm über das immer ein wenig schmutzig aussehende Gesicht, als könnte sie so ihre Müdigkeit fortwischen.
»Gab Streit.«
»Haste dich geprügelt?« Oma Schulte hat die aufgeplatzte Lippe bemerkt, deshalb fragt sie, hält aber dabei in ihrer Arbeit nicht inne. Sie kann das, reden und wegschauen und doch weiterarbeiten. Von Montag bis Samstag sitzt sie jeden Tag zwölf Stunden an der Nähmaschine, ihre Hände arbeiten wie automatisch. Für ihre Arbeit bekommt sie fünf Mark pro Woche. Sie sagt, das wäre zwar ein Hungerlohn, aber ein Krümel im Bauch sei besser als gar nichts im Magen. Würde sie sich bei der Firma beschweren, kämen die sofort und brächten die Nähmaschine einer anderen. Allein in der Ackerstraße gäbe es ein paar hundert Frauen, die nur darauf warteten, sich mit Heimarbeit was zu verdienen. Solange sie noch nicht unter der Erde liege, wolle sie nicht klagen. Und hinterher könne sie es ja Gott sei Dank nicht mehr.
»Na, was ist?« Oma Schulte schiebt sich die Brille auf die Stirn.
Er hat sich geprügelt. Wegen einer Dummheit. Bommel hatte gesagt, dass Ede ’ne Trantüte sei, weil er nur in seiner Bank hocke und vor sich hin stiere. Aus irgendeinem Grund, er weiß selbst nicht aus welchem, verlangte er, dass Bommel das zurücknahm. Bommel hatte zwar Schiss, das war deutlich zu sehen, aber vor allen anderen wollte er’s nicht zurücknehmen. Er jedoch musste nun darauf bestehen, deshalb sagte er: »Wir treffen uns vor der Schule.« Dann kam, was kommen musste: Nach dem Unterricht bildete die Klasse vor der Schule einen Ring und Bommel und er prügelten sich. Bommel hatte keine Chance, wusste das und gab, als er auf dem Rücken lag, schnell auf. Trotzdem hatte das Ganze, mit dem Geplänkel vorher und nachher, mindestens eine halbe Stunde gedauert.
»Kann ich dir die beiden heute noch mal hochbringen? Muss mal für ’ne Stunde weg.«
Sofort blitzt Martha Helle an. Wenn der Bruder sie heute Nachmittag wieder zu Oma Schulte hochbringt, muss sie auch nachmittags Pantoffeln einpacken. Und wenn Helle eine Stunde sagt, werden es bestimmt zwei, das weiß sie aus Erfahrung. Oma Schulte aber stochert nur mit der dafür immer bereitliegenden Stricknadel in ihrer Portierszwiebel herum, wie die Kinder im Haus ihren lose gebundenen Dutt nennen. »Willste dich etwa wieder prügeln, Herzchen?«
»Will zu ’nem Freund.«
Da putzt Oma Schulte Hänschen, der auf seiner Decke lag und schlief und den sie damit aufweckt, mit ihrem großen, verwaschenen Taschentuch rasch noch mal die Nase und drückt den verschlafenen Säugling zärtlich an sich, bevor sie ihn Helle überreicht. »Bring sie nur hoch, ich hab sie lieb, die beiden.«
Das hat Oma Schulte nicht nur so gesagt, sie hat Martha und Hänschen wirklich lieb. Dass Martha für sie arbeiten muss, um Oma Schulte dafür zu bezahlen, dass sie vormittags auf Hänschen und sie aufpasst, widerspricht dem nicht. In der Ackerstraße hat niemand was zu verschenken, auch Oma Schulte nicht.
»Will aber nicht noch mal zu Oma Schulte hoch!« Martha leckt die letzten Spuren der Grützsuppe aus ihrer Schüssel. Fast der ganze Kopf verschwindet darin, nur die Augen schielen über den Schüsselrand hinweg.
»Will nicht, will nicht!«, äfft Helle die Schwester nach. »Du musst! Oder denkste, ich will immer zu Hause glucken?«
Jeden Nachmittag hockt er mit den Geschwistern in der Küche. Nie kann er auf die Straße, sich mit anderen treffen. Er ist nicht der Einzige, vielen Jungen und Mädchen geht es so, aber das macht es nicht leichter.
»Zu welchem Freund willste denn?«
»Zu Fritz. Er will mir was erzählen. Was Wichtiges.«
»Und was?«
»Das is ’n Geheimnis.«
Fritz hat wirklich gesagt, er wolle ihm ein Geheimnis anvertrauen, und deshalb extra vor der Schule auf ihn gewartet. In seinem dicken Mantel und mit der Gymnasiastenmütze auf dem Kopf hat er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig gestanden und war nicht herangekommen, obwohl er die meisten Jungen noch aus seiner Gemeindeschulzeit her kannte. Als die Prügelei dann vorüber war und er zu Fritz hinüberging, gingen die anderen Jungen nicht mit, blickten ihm nur nach wie einem Abtrünnigen. Zwischen Gemeindeschülern und Gymnasiasten ist ein Graben. Wer den überspringt, fällt auf, sagt Oswin immer.
»Du lügst ja.«
Er lügt nicht. Fritz hat sehr aufgeregt getan, ihm aber nichts verraten.
»Du lügst doch!«
Martha will streiten, es macht ihr Spaß, ihn zu ärgern. Helle nimmt ihr die längst sauber geleckte Schüssel ab. »Was willste denn überhaupt? Ostern kommste in die Schule und dann brauchste sowieso nicht mehr zu Oma Schulte hoch.«
»Ostern! Ostern bin ich vielleicht schon tot.« Den Spruch hat sie von Oma Schulte.
»Quatsch! So kleine Ratten wie du leben ewig.« Helle nimmt Hänschen auf den Schoß und beginnt ihn zu füttern. Der kleine Bruder hat schon ganz große Augen vor Hunger.
»Und so dicke, fette Ratten wie du erst recht!« Martha hat lange nach einer passenden Erwiderung gesucht, jetzt hat sie sie gefunden.
»Sei doch froh! Dann werden wir beide noch Oma und Opa.« Die Schwester popelt versonnen. Sie hat nie richtige Großeltern kennen gelernt. Nur aus Erzählungen weiß sie, dass Mutters Eltern noch leben und gar nicht so weit von ihnen entfernt wohnen. Sie besuchen sie nicht, weil sie mit ihrer Tochter nichts mehr zu tun haben wollen. Sie hatten für die Mutter einen Beamten von der Post ausgesucht, die Mutter aber hatte trotz des Verbots ihrer Eltern den Vater geheiratet, einen Maurer aus der Ackerstraße. Das haben ihr die Eltern nie verziehen.
»Muss Hänschen Oma Schulte helfen, wenn ich zur Schule gehe?«
»Wenn er groß genug ist, klar!«
Hänschen vergisst den Mund aufzumachen, er hat seinen Namen gehört und guckt Martha an. Martha verdreht die Augen und zieht mit beiden Händen die Unterlippe nach unten, um Hänschen Angst einzujagen. Der kleine Bruder fürchtet sich vor Fratzengesichtern. Doch jetzt klappt das nicht, Hänschen öffnet nur den Mund und isst brav weiter.
»Und nachmittags pass ich dann auf Hänschen auf.« Martha beginnt von der Zukunft zu träumen, kippelt mit dem Stuhl und macht ein seliges Gesicht.
»Aufpassen ja, aber nicht einpennen.«
Die kleine Schwester schläft nachmittags immer ein. Kaum hat sie gegessen, liegt sie schon auf dem Küchensofa und ist weg.
»Wenn ich Oma Schulte nicht mehr helfen muss, bin ich auch nicht mehr so müde.«
»Hast du ’ne Ahnung! Schule ist auch kein Vergnügen.«
Helle weiß, dass das viele Stehen neben Oma Schultes Nähmaschine sehr anstrengend ist, und Martha tut ihm ja auch Leid. Er darf es ihr nur nicht zeigen, sonst macht sie morgen früh erst wieder lange Theater, wenn er sie und Hänschen bei Oma Schulte abgibt.
»Schule!« Martha fängt an zu spinnen. »Schule – hule – bule!«, singt sie und kippelt immer heftiger mit dem Stuhl.
»Sei mal still!«
Auf der Treppe sind Schritte zu hören, schwere Schritte, unter denen die Holzstufen knarren. Helle kennt die Schritte aller Hausbewohner, er hockt ja fast jeden Nachmittag in der Küche und hört sie kommen und gehen, diese Schritte jedoch kennt er nicht.
Sofort hört Martha auf zu kippeln und schaut Helle erstaunt an: Die Schritte sind vor ihrer Wohnungstür stehen geblieben – und nun klopft es bei ihnen.
Vorsichtig setzt Helle Hänschen auf den Fußboden, geht zur Tür und öffnet sie einen Spalt weit.
Ein Mann steht vor der Tür, ein Mann in einem Soldatenmantel und mit einem dunklen Vollbart im Gesicht.
»Zu wem wollen Sie denn?«
»Zu wem? Zu dir! Zu Mutter! Zu Martha!« Der Mann lacht vorsichtig.
Der Vater? Dieser Mann ist der Vater?!
»Willste mich nicht reinlassen?«
Nein, Helle möchte diesen Mann nicht hereinlassen. Der Vater, den er in Erinnerung hat, sieht anders aus. Aber der Mann vor der Tür wird ungeduldig, schiebt einfach die Tür weiter auf und tritt in den Flur. Martha, die von der Küchentür aus den fremden Mann gesehen hat, flitzt gleich in die Schlafstube. Der Soldat bleibt einen Augenblick verdutzt stehen, dann öffnet er die Stubentür, die Martha hinter sich zugeschlagen hat, und ruft laut: »Aber Martha! Du brauchst doch keine Angst zu haben, ich bin’s – dein Vater.«
Anstatt zu antworten, kriecht Martha unters Bett.
»Ist ja ’n schöner Empfang.« Missmutig dreht der Vater sich zu Helle herum. Der schließt die Wohnungstür. So braucht er den Mann im Flur nicht anzusehen.
»Hab mir ja gedacht, dass ihr mich nicht gleich wiedererkennt, aber dass ihr Angst vor mir habt …«
Still geht Helle in die Küche und nimmt Hänschen wieder auf. Der kleine Bruder starrt mit weit aufgerissenen Augen den großen Mann an, den er noch nie zuvor gesehen hat und der nun in seinem dicken Soldatenmantel die ganze Küchentür ausfüllt. Soll er jetzt weinen oder nicht?
Auch der Vater weiß nicht, was er sagen oder tun soll. Er hat Hänschen auch noch nie zuvor gesehen. »Hänschen?«, fragt er schließlich. »Ist das unser Hänschen?« Und als Helle nickt, streichelt der Vater Hänschen ganz vorsichtig mit zwei Fingern über die Backen.
Hänschen zuckt zurück und plärrt nun doch los, aber Helle tröstet ihn nicht, wiegt ihn nicht, versucht nicht, dem kleinen Bruder zu erklären, dass der große fremde Mann der Vater ist: Der Vater hat die linke Hand genommen, um Hänschen zu streicheln – der rechte Ärmel ist leer!
»Wie alt ist Hänschen denn jetzt?«
»Ein Dreivierteljahr.«
»Ein Dreivierteljahr!«, wiederholt der Vater nachdenklich.
»Als ich das letzte Mal auf Urlaub war, war er gerade unterwegs. Weißte noch, wann das war?«
»Weihnachten.« Helle erinnert sich genau an Vaters letzten Urlaub. Damals trug er noch keinen Bart – und er hatte noch beide Arme –, lag jeden Tag lange im Bett und alberte mit Martha herum, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. Martha kreischte jedes Mal und war ganz verliebt in den Vater.
»Und du?«, sagt der Vater. »Du wirst ja jetzt bald dreizehn.« Helle beißt sich auf die Lippen, ihm ist nach Losheulen zumute, aber er will nicht losheulen.
»Ist … ist er … ganz ab?«
»Ja, ganz!« Der Vater setzt sich auf die Fensterbank und schaut zu den Dächern der anderen Häuser hinüber. »Eine französische Granate … Zwei meiner Kameraden hat sie ganz erwischt, ich hatte Glück, ein Meter nur, ein einziger Meter … Deshalb konnte ich euch auch nicht schreiben, es ist ja der rechte.«
Martha drückt sich im Flur herum. Sie will in die Küche kommen, traut sich aber nicht. »Komm doch mal her!«, bittet der Vater. »Erinnerste dich denn nicht mehr daran, wie wir immer zusammen gespielt haben?«
Martha sieht Helle an. Erst als der Bruder ihr zunickt, nähert sie sich vorsichtig dem Vater, der sie genauso vorsichtig auf seinen Schoß zieht. »Weiß ja, ein Jahr ist eine lange Zeit. Damals biste gerade fünf geworden, jetzt wirste bald sechs, bist schon ein richtig großes Mädchen.«
»Weißte, wann ich Geburtstag habe?«
»Na klar! Am Heiligen Abend. Bist doch unser Christkind.« Da presst Martha den Kopf an Vaters Mantel. Jetzt ist sie endgültig davon überzeugt, dass der Mann mit dem Bart ihr Vater ist.
Helle setzt sich mit Hänschen auf das Küchensofa und füttert ihn weiter. »Die Grütze wird sonst kalt«, entschuldigt er sich.
Der Vater schaut zu.
»Ist sicher nicht leicht für dich, den ganzen Tag auf die Kleinen aufzupassen.«
»Ist ja nur nachmittags, vormittags sind sie bei Oma Schulte.«
»Näht Oma Schulte immer noch Pantoffeln zusammen?«
Helle nickt nur, Martha aber strahlt den Vater an. »Ich helfe ihr dabei.«
»Bist ’n tüchtiges Mädchen.« Der Vater streichelt ihr zärtlich das Haar.
Hänschen will nicht mehr essen. Er schaut den Vater an und macht den Mund nicht auf. Helle versucht, ihm den Löffel zwischen die Lippen zu schieben, Hänschen jedoch verzieht das Gesicht und presst die Lippen so fest zusammen, dass kein Durchkommen ist.
»Der ist aber stur!« Der Vater schmunzelt.
Rasch wendet Helle seinen Trick an. Er hält Hänschen die Nase zu und wartet, bis der Kleine den Mund öffnet, um Luft zu holen, dann schiebt er ihm den Löffel in den Mund. Hänschen schreit und weint aus Protest dicke Tränen, den Brei aber schluckt er runter.
»Bist ja ’n ganz Raffinierter.« Richtig laut lachen muss der Vater nun.
Er stellt Martha auf die Füße, zieht sich den Mantel aus, bringt ihn in den Flur und fragt, als er zurückkommt: »Sag mal, haste nicht auch für mich was zu essen?«
»Wir haben nichts mehr.« Helle ist betroffen. Er würde dem Vater gern was vorsetzen, aber es ist nichts mehr da.
»Und was esst ihr heute Abend?«
»Wenn Mutter nichts mitbringt … gar nichts.« Helle muss sich zwingen, nicht immer Vaters leeren Ärmel anzublicken. »Doch vielleicht bringt sie ja was mit. Sie geht morgens immer an der Markthalle vorbei.«
Mit gerunzelter Stirn nimmt der Vater den Blechnapf vom Haken über dem Wasserhahn, trinkt Wasser aus der Leitung, tritt ans Fenster und schaut danach lange in den Hof hinaus.
»Steht Mutter immer noch bei Bergmann an der Bohrmaschine?«, fragt er schließlich.
»Ja.«
Wieder schweigt der Vater, um dann, noch immer ohne sich umzudrehen, leise zu fragen: »Wart ihr mal bei Erwin?«
Erwin war Vaters Liebling. Er hat es nie gesagt und auch die Mutter hat nie darüber gesprochen, Helle jedoch hat es immer gewusst. Erwin war ganz anders als er, war klein und dick und immer lustig. Der Vater nannte ihn nur Quirl. Auch in seinen Briefen redete er ihn so an. Viele Grüße an Martha, Helle und Quirl stand da jedes Mal.
Als Erwin im Winter vor zwei Jahren an der Hungergrippe starb, hatte der Vater lange nicht geschrieben. Er brauchte viel Zeit, um Erwins Tod zu verwinden. Die Mutter fürchtete damals schon, der Vater mache ihr Vorwürfe, glaube vielleicht, dass sie nicht genügend auf Erwin aufgepasst hätte; und er, Helle, redete sich ein, der Vater hätte es lieber gesehen, wenn er an Erwins Stelle gestorben wäre. Aber natürlich stimmte das nicht. Der Vater hatte ihn auch gern, er hatte ihm das oft genug gezeigt. Er war nur eben immer der Große, war nie so lustig und quirlig wie Erwin.
Der Vater dreht sich um. Er hat noch keine Antwort bekommen.
Schnell erzählt Helle, dass die Mutter jeden dritten oder vierten Sonntag auf den Friedhof geht und dass sie mal Martha und mal ihn mitnimmt. Mehr sagt er nicht, auch nicht, dass er die Mutter gern begleitet. Wenn sie Erwin auch keine Blumen bringen können, weil sie dafür kein Geld haben, so können sie doch Ordnung auf seinem Grab machen, Unkraut herausreißen und an ihn denken.
Einen Augenblick denkt der Vater noch nach, dann tritt er an
Helle heran und zieht seinen Kopf an sich. Helle ist versucht, sich gehen zu lassen und den Kopf an den Vater zu pressen, aber dann macht er sich rasch los und geht an den Herd, um Abwaschwasser aufzusetzen.

Schlachtschiffe

Über den Rosenthaler Platz, den Weinbergsweg hoch, eine Querstraße links, und Helle steht vor dem Haus, in dem Fritz wohnt. Er läuft gleich auf den Hof, steckt zwei Finger in den Mund und pfeift.
Im zweiten Stock wird ein Fenster geöffnet. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
»Mein Vater ist zurück«, keucht Helle.
»Komm hoch!« Fritz winkt.
Helle zögert. Fritz’ Eltern sehen es nicht gern, dass Fritz sich mit ihm abgibt. Das war schon früher so, als Fritz noch nicht auf dem Gymnasium war, seine Eltern noch in der Invalidenstraße wohnten und sie beide in dieselbe Klasse gingen.
»Ist keiner da. Kannst ruhig raufkommen.«
Das Treppengeländer im Vorderhaus ist mit Engelsköpfen verziert, die Fenster zum Hof bestehen aus bunten, in Bleirahmen gefassten Glasstücken, die Bäume, Tiere und altertümlich angezogene Menschen darstellen. Die Fenster sind so bunt, dass sie kaum Licht durchlassen, aber das ist auch nicht nötig, das Haus hat elektrisches Licht. Die Leute, die hier wohnen, haben genug Geld, um die teuren Steigleitungen zu bezahlen.
Das Messingschild mit der verschnörkelten Schrift. F. W. Markgraf steht drauf. F. W. steht für Friedrich Wilhelm; Fritz und sein Vater haben dieselben Vornamen. Vorsichtig zieht Helle an der Klingel.
Fritz öffnet gleich. »Ist dein Vater auf Urlaub?«
»Nee. Er ist für immer zurück.« Helle betritt den Flur, hält sich aber dicht an Fritz. »Er ist verwundet, hat ’n Arm ab.«
Erst erschrickt Fritz, dann sagt er: »Besser als tot.«
Das werden alle sagen, denen er von Vaters Verwundung erzählt; darauf muss er sich gefasst machen.
Helle war bisher erst ein einziges Mal in der Wohnung von Fritz’ Eltern. Das war irgendwann vor anderthalb Jahren, aber er kann sich noch gut an alles erinnern, denn nie zuvor oder danach hat er eine ähnliche Wohnung gesehen: die hohen Fenster, der Balkon zur Straße, die vielen weißen Tischdecken und Deckchen, die Fritz’ Mutter gehäkelt hat und die überall herumliegen, und die Bilder an den Wänden, auf denen halb nackte Frauen hinter Blumensträußen hervorlächeln oder Kinder mit dicken Pausbacken und blonden Lockenköpfen einem Engel entgegenstrahlen, der sich freundlich zu ihnen hinabneigt. Das alles, vor allem aber der fremde Geruch, hat ihn damals sehr beeindruckt.
»Was willste mir denn nun zeigen?«
Fritz geht an das Wohnzimmersofa mit den vielen bestickten Kissen, kniet sich hin und zieht einen Karton unter dem Sofa hervor. Bleisoldaten sind in dem Karton, Bauklötze und allerlei Krimskrams. Dazu ein Heft voll mit Zigarettenbildern von Schlachtschiffen.
»Hab drei neue.« Fritz setzt sich an den großen runden Wohnzimmertisch und breitet die bunten Bilder mit den Kriegsschiffen auf dem Tisch aus. Drei davon legt er vor Helle hin. SMS Prinzregent Luitpold, SMS Königsberg und Panzerkreuzer Moltke steht unter den Bildern.
Fritz interessiert sich für alles, was mit Seefahrt zu tun hat. Er wollte schon, als sie noch zusammen zur Gemeindeschule gingen, unbedingt eines Tages zur See fahren, sammelte Schiffswimpel und Bücher über Schiffe und Entdecker und lief nur im Matrosenanzug herum. Das mit dem Matrosenanzug war keine Seltenheit, viele Jungen trugen solche Anzüge, sogar Mädchen gingen in Matrosenkleidern, Fritz aber hatte zu seinem Anzug besonders viele Matrosenmützen – und auf jeder stand der Name eines anderen Schlachtschiffes. Darauf war er sehr stolz und die anderen Jungen beneideten ihn darum. Auch Helle. Genau wie Fritz träumte er davon, eines Tages zur See zu fahren, und natürlich wäre auch er am liebsten zur Kriegsmarine gegangen.
»Wie viel hast’n jetzt von den Bildern?«
»Zweiunddreißig. Und darunter nur vier doppelte.« Fritz ist enttäuscht, dass Helle nicht begeisterter ist. »Vielleicht kannste jetzt auch bald mit dem Sammeln anfangen. Oder raucht dein Vater etwa nicht?«
»Mein Vater raucht nur Pfeife.« Helle hat keine Lust, mit Fritz über den Vater zu reden. »War das dein Geheimnis?«, fragt er enttäuscht.
»Nee.« Fritz schaut sich um, als könnte sie jemand beobachten. »Diesmal ist es wirklich ’n Geheimnis, sogar ’n Staatsgeheimnis. Das darfste nicht weitersagen.«
»Mach schon!« Helle möchte nach Hause zurück, zum Vater, der müde war und sich ein bisschen hingelegt hat. Er wäre gar nicht losgegangen, wenn der Vater nicht gedrängt hätte: »Wenn du dich verabredet hast, musste auch hingehen. Ich lauf dir ja nicht weg.«
Und als er Martha und Hänschen zu Oma Schulte bringen wollte, sagte der Vater zu Marthas Erleichterung: »Lass die beiden mal bei mir. Wir haben uns so lange nicht gesehen, haben viel nachzuholen.«
Aber wie will der Vater schlafen, wenn Martha auf ihm herumturnt? Und wie will er Hänschen wickeln – mit seinem einen Arm?
Fritz senkt die Stimme, flüstert fast: »Mein Vater hat es meiner Mutter erzählt, als sie in der Küche allein waren. Ich hab’s nur ganz zufällig gehört. Er hat meiner Mutter verboten, irgendjemandem was davon zu sagen, weil’s ’n Staatsgeheimnis ist und er sonst seinen Posten verliert.«
»Und was hat er erzählt?«
»In Kiel streiken die Matrosen.«
»Die von der Marine?«
»Ja. Sie wollen nicht mehr auslaufen.«
»Aber das dürfen sie doch gar nicht. Das ist ja Meuterei!«
»Ist es ja auch! Und sie haben einen Teil der Meuterer auch schon verhaftet. Aber jetzt streiken die auf den anderen Schiffen auch. Mein Vater sagt, die Matrosen wären alles Rote, Sozis; sie wären nur zu feige, um weiterzukämpfen.«
Helle überlegt nur kurz. »Feigheit kann’s nicht sein, auf Meuterei steht der Tod.«
»Und warum verweigern sie sich dann?«
»Vielleicht weil sie mit dem Krieg Schluss machen wollen. Die Arbeiter haben ja auch schon deshalb gestreikt.«
»Mein Vater sagt, wer streikt, is ’n Verbrecher, weil er damit dem Feind hilft.«
»Dein Vater hat ja keine Ahnung.« Helle steht auf. »Ist doch gut, wenn endlich Schluss mit dem Krieg ist. Wenn sie deinem Vater einen Arm abgeschossen hätten, würde er auch anders reden.«
»Und wie würde ich dann reden?«
Fritz’ Vater! Er steht in der Tür, trägt noch seinen Mantel und hat auch noch seinen Hut, die steife Melone, auf dem Kopf.
»Na, wie würde ich dann reden?«
Helle will an Herrn Markgraf vorbei, der tritt ihm in den Weg.
»Meinst du, wir in der Heimat erfüllen nicht unsere Pflicht für Kaiser, Volk und Vaterland? Meinst du, wir opfern uns nicht?« Die Augen in dem schmalen Gesicht mit dem Oberlippenbart blicken streng.
Vorsichtig macht Helle einen Schritt zurück. Fritz’ Vater soll nicht versuchen, ihn anzufassen. Sonst rammt er ihm den Kopf in den Bauch. Das hat er schon einmal getan, als ein Betrunkener seine Wut an ihm auslassen wollte. Es war mitten auf der Straße und der Besoffene ist umgefallen und mit dem Hinterkopf aufs Straßenpflaster geschlagen. Die Leute, die vorüberkamen, sagten, der Mann habe das verdient. Und wenn Fritz’ Vater auch nicht gleich umfällt, nach Luft schnappen muss er bestimmt.
Als hätte Fritz’ Vater Helles Gedanken erraten, tritt er plötzlich zur Seite. »Verschwinde! Und lass dich hier nicht wieder blicken. So was wie du ist kein Umgang für meinen Sohn.«
»Helle ist mein Freund!« Fritz presst das Heft mit den Zigarettenbildern vor die Brust, als müsste er es schützen. »Mein bester Freund.«
»Hol den Stock. Ich werd dir zeigen, wer deine Freunde sind.«
»Hab doch gar nichts getan«, schreit Fritz.
»Du sollst den Stock holen!«
Schnell stolpert Helle über die Türschwelle und läuft durch den engen, dunklen Flur. Dabei stößt er sich an den Schränken und Kommoden und ist froh, als er endlich aus der Tür ist. Fritz kriegt jetzt Prügel, aber er kann ihm nicht helfen; niemand kann Fritz jetzt helfen.
Draußen wird es langsam dunkel. Der Vater und Helle sitzen in der Küche und können sich kaum noch sehen, doch sie zünden die Petroleumlampe nicht an. Erstens gibt es nicht genügend Petroleum, es wird zugeteilt, und zweitens ist es hinausgeschmissenes Geld, die Lampe brennen zu haben, wenn man sie nicht unbedingt benötigt.
Oswin hämmert in seinem Schuppen herum, das Geräusch hallt bis zu ihnen hoch. Helle beugt sich weit vor und schaut durch das geschlossene Fenster in den Hof hinunter. In dem kleinen Fenster von Oswins Schuppen leuchtet trübes, gelbliches Licht; Oswins Ölfunzel. Was er da wohl wieder arbeitet? Voriges Jahr hatte er dem kleinen Lutz zu Weihnachten aus Brettern und alten Rollerrädern einen Wagen gebaut, in den Lutz sich hineinsetzen und über den Hof und durch die Straßen ziehen lassen konnte. Dieses Jahr wird Oswin ein anderes Kind überraschen. Aber es kann auch sein, dass er an seinem Leierkasten wagen herumbastelt, an dem alten Gestell bricht öfter mal ein Rad ab.
»Kommt Mutter immer so spät?«
»Meistens ja. Kommt darauf an, wie lange sie anstehen muss, wenn’s irgendwo was gibt.«
Der Vater wollte nicht, dass er zur Mutter in die Fabrik ging, um ihr seine Heimkehr zu melden. Er traut ihm nicht, hat Angst, er könnte sich verplappern und ihr von dem weggerissenen Arm erzählen; er will ihr das schonend beibringen.
Der Vater ist ihm noch immer so fremd, deshalb kann er ihn nie lange ansehen, wendet sich immer gleich ab, schaut auch jetzt lieber in den dunklen Hof hinaus.
Wie viele Menschen in so einem Hinterhaus wohnen! Rund um den Hof sitzen sie jetzt um ihre Petroleumlampen, überall mindestens vier, fünf Personen; meistens Mütter mit ihren Kindern. Und überall reden oder streiten sie miteinander.
Schritte auf dem Hof.
»Ist sie das?«
Helle reißt das Fenster auf, lauscht. »Ja.«
Da zündet der Vater die Petroleumlampe an und dreht den Docht herunter, so dass die Flamme ganz klein bleibt und die Mutter nicht gleich den leeren Ärmel sieht.
Martha, die auf dem Küchensofa eingeschlafen ist, kommt langsam zu sich. Sie reibt sich die Augen, bekommt mit, dass der Vater neben ihr sitzt, und schmiegt sich an ihn, um danach an seiner Seite weiterzuschlafen.
Leise öffnet Helle die Tür zum Treppenhaus und wartet. Die Mutter ist noch nicht im dritten Stock angelangt. Sie ist abends immer so müde von der Arbeit und dem halbstündigen Fußmarsch zurück in die Ackerstraße, da braucht sie lange, bis sie die drei Treppen geschafft hat.
»Na? Warteste schon?« Endlich ist die Mutter oben.
»Wir haben Besuch.« Helle sagt nur, was er mit dem Vater verabredet hat.
»Ist Oma Schulte da?« Noch im Flur zieht die Mutter den Mantel aus und die Kittelschürze über.
»Mutti! Mutti! Va…«
Marthas Ruf aus der Küche wird jäh unterdrückt. Die Mutter verharrt in ihrer Bewegung, dreht sich langsam um und öffnet die Küchentür etwas weiter: Der Vater sitzt im schwachen Licht der Petroleumlampe auf dem Sofa, hält Martha den Mund zu und schaut die Mutter ernst an.
Erschrocken bleibt die Mutter in der Küchentür stehen, fast so, als könne sie nicht glauben, dass der Mann mit dem dichten Vollbart der Vater ist.
»Rudi?«, fragt sie dann. Erst als der Vater »Ja« sagt, geht sie langsam auf ihn zu.
Der Vater schiebt Martha von seinem Schoß, steht auf und legt den Arm um die Mutter. »Da bin ich wieder«, sagt er leise.
»Diesmal … für immer.«
»Für immer?« Die Mutter dreht den Docht der Petroleumlampe hoch – und schwankt. Sie hat den leeren Ärmel entdeckt.
Der Vater hält sie fest. »Marie!«, bittet er. »Es ist schlimm, aber es gibt Schlimmeres. Ich lebe ja noch.«
Da presst die Mutter ihr Gesicht an Vaters Brust. »Diese Verbrecher!«, stöhnt sie. Und dann weint sie endlich.
Martha beginnt nun auch zu heulen. Sie lehnt sich an Helle und schnieft leise vor sich hin. »Freu dich doch«, flüstert Helle ihr zu, »freu dich doch!« Aber auch er hat mit den Tränen zu kämpfen.
Als die Mutter sich ein wenig beruhigt hat, setzt sie sich mit dem Vater aufs Küchensofa, hält ihn fest umschlungen und schaut ihm immer wieder ins Gesicht, als könne sie noch gar nicht richtig glauben, dass sie ihn nun wiederhat. Oder als suche sie etwas in seinem Gesicht.
»Wir haben wirklich noch Glück gehabt«, tröstet der Vater sie.
»Was meinste, wie viele meiner Kameraden im letzten Jahr gefallen sind und wie viele junge Männer noch jetzt jeden Tag fallen.«
Er erzählt ihr von all dem, was er seit seinem letzten Urlaub erlebt hat, und die Mutter unterbricht ihn nicht, obwohl sie und auch Helle vieles von dem, was der Vater da berichtet, längst wissen. Die Todesnachrichten, die die Frauen in der Fabrik, im Haus und in den Nachbarhäusern erhalten, werden ja immer mehr. Auf dem Felde der Ehre gefallen, heißt es in diesen Briefen, und oft sind irgendwelche Orden beigelegt, die die gefallenen Männer sich im Krieg verdient haben.
Erst als der Vater seinen Bericht beendet hat, erzählt die Mutter von den vielen Frauen, Kindern und alten Männern, die der Vater kannte und die im letzten Kriegswinter verhungert, erfroren oder der Grippewelle zum Opfer gefallen sind. Sie nennt sie ebenfalls Kriegstote, und Helle weiß, warum: Es gibt ja nur deshalb nicht genug zu essen und zu heizen, weil Krieg ist. Der Krieg ist schuld an all dem Elend und der Not. Wären die Menschen vom Hunger nicht so geschwächt, könnte die Grippe sie nicht so leicht hinwegraffen.
Erneut tröstet der Vater die Mutter. »Jetzt sind wir wieder eine richtige Familie«, sagt er und küsst sie. »Jetzt wird alles wieder gut.«
Die Mutter genießt Vaters Trost. Helle sieht ihr an, wie gut es ihr tut, sich endlich einmal gehen lassen zu können, einmal nicht stark sein zu müssen. Aber dann fällt ihr Hänschen ein. »Haste unsere Matzbläke schon gesehen?«
Sie sagt absichtlich Matzbläke, das heißt so viel wie Schreihals, doch ihr Gesicht verrät, wie stolz sie darauf ist, dass es ihr gelungen ist, Hänschen über die ersten Monate zu bringen, in denen so kleine Kinder, wenn sie nicht richtig ernährt werden, leicht erkranken und sterben können.
»Ist ’n Prachtkerl.« Der Vater küsst die Mutter erst auf die Nase und dann auf den Mund.
Die Mutter freut sich, aber sie bleibt ernst. »Es ist schwer, ihn durchzubringen. Es gibt keine Milch, kein Gemüse, keine Eier, keine Butter und keine Margarine, und wenn doch, dann nur zwanziggrammweise. Wir leben von Grütze und Dörrgemüse. Und natürlich von Rüben. Rübenmarmelade, Rübenbrei, Rübensuppe – Suppe aus nichts als Rüben und Wasser! Ein Baby aber braucht Nahrung, nicht nur dickes Wasser.«
Wieder streichelt der Vater die Mutter. Er streichelt und küsst sie immer abwechselnd. Und die Mutter redet weiter, redet sich alles von der Seele. »Wenn es doch mal was gibt, bekommen wir es auch nicht. Ich bin den ganzen Tag auf Arbeit und Helle ist vormittags in der Schule und muss nachmittags auf die Kleinen aufpassen. Keiner von uns kann sich tagsüber stundenlang anstellen und abends gibt’s nichts mehr. Wir wissen gar nicht mehr, was das für ’n Gefühl ist, mal keinen Hunger zu haben.«
»Vater hat auch Hunger«, sagt Helle da. »Er hat auf dem Transport nichts bekommen, und die Grütze war schon alle, als er kam.«
»Ja, natürlich, du hast Hunger!« Die Mutter ist bestürzt, dass sie nicht gleich daran gedacht hat. »Aber ich hab nichts bekommen – außer ein paar Haferflocken.«
»Dann ess ich eben Haferflocken. Warum soll ich nicht essen, was ihr esst? Kann ebenso gut hungern wie ihr.«
»Du wirst das Hungern erst noch lernen müssen, Rudi«, widerspricht die Mutter besorgt. »Euch an der Front haben sie doch einigermaßen ernährt. Wir hungern nun schon seit über drei Jahren; weiß gar nicht, ob der Krieg in der Heimat nicht vielleicht mehr Opfer gekostet hat als an der Front.«
»Soll ich zu Oma Schulte hochgehen?«, fragt Helle. »Vielleicht hat sie was zu essen.«
»Eine gute Idee«, meint die Mutter. »Frag sie, ob sie uns was leihen kann.«
»Nicht doch!«, wehrt der Vater ab. »Ich kann doch auch Haferflocken essen.«
Was die Mutter darauf antwortet, kann Helle nicht mehr verstehen. Er ist schon aus der Tür und steigt vorsichtig durchs dunkle Treppenhaus die steile Stiege zu Oma Schulte hoch.
Noch auf der Treppe hält er inne: Was ist denn das für ein Geruch?
Fisch! Bratfisch! Das ganze Treppenhaus riecht nach leckerem, herrlich duftendem Bratfisch. Und der Duft kommt aus Oma Schultes Dachkammer. Wenn er jetzt klopft und nach was zu essen fragt, glaubt Oma Schulte sicher, der Geruch habe ihn hochgelockt.
Aber der Vater hat Hunger! Zögernd klopft Helle doch.
»Ich bin’s – Helmut!«
Oma Schulte öffnet. Sie hält eine Öllampe in der Hand und leuchtet ihm damit direkt ins Gesicht. »Was ist denn? Ist was passiert?«
»Vater ist zurück. Mutter lässt fragen …«
»Dein Vater ist zurück? Das ist aber mal ’ne schöne Nachricht.«
»Mutter lässt fragen, ob du uns nicht was zu essen leihen kannst. Vater hat furchtbaren Hunger, er hat seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.«
»Ach Gott! Nee! Wer hat denn in dieser Zeit keinen Hunger? Sie gönnen uns ja nicht mal das Schwarze unterm Nagel.« Oma Schulte seufzt. Aber dann sagt sie: »Na, komm mal mit!«, und geht mit der Lampe in der Hand in ihre Küche zurück.
In der Küche sitzt Nauke, Oma Schultes Schlafbursche, und auf dem Teller, den er vor sich hat, liegt ein großes Stück Bratfisch. Auch auf dem anderen Teller liegt ein solches Stück Bratfisch.
»Selbst geangelt!« Nauke grinst.
Nauke arbeitet im Nordhafen, entlädt dort die Zillen, die in die Spree reinkommen. Er arbeitet immer nachts und nur deshalb geht das mit Oma Schultes Bett: Bevor Nauke morgens von der Arbeit kommt, steht Oma Schulte auf und wechselt das Bettzeug – das Bett, in dem Nauke und sie abwechselnd schlafen, bleibt dasselbe.
Wenn Nauke mal eine Nacht nicht arbeitet, schläft er auf den Kartons mit den Pantoffeln. Die sind fast so hart wie Oma Schultes Bett, sagt er, zwinkert aber stets dabei.
»Nauke!«, bittet Oma Schulte. »Verkneif dir das Essen heute mal. Der Rudi Gebhardt ist aus’m Feld zurück. Er hat Hunger, hat ja tagelang nichts Vernünftiges in den Bauch bekommen.«
Nauke hat das Besteck schon in der Hand. »Rudi Gebhardt? Ist das dein Vater?«
Nauke kennt den Vater nicht, er ist erst im Frühjahr bei Oma Schulte eingezogen. Aber den Leuten im Haus geht es, als lebe er schon ewig unter ihnen. Besonders mit den Kindern hat er sich schnell angefreundet. Gleich am ersten Tag spielte er mit ihnen im Hof Fußball– mit einem Ball aus Lumpen. Es wurde eine Mordsfummelei.
»Fängste dir ’n neuen Fisch, Nauke.« Oma Schulte schiebt ihren Teller vor Helle hin. »Kartoffeln haben wir leider nicht.«
Wie ein Dieb kommt Helle sich vor. Hätte er das gewusst, wäre er nicht zu Oma Schulte hochgegangen. Einem Fremden sein Essen geben, wenn man selber Kohldampf schiebt, ist ziemlich viel verlangt.
»Was soll’s? In zehn Minuten wäre die Herrlichkeit sowieso vorbei gewesen. Denken wir einfach, wir hätten schon gegessen.« Nauke steht auf, zieht sich seine Jacke über und knotet sich den Schal um den Hals.
»Herzchen, das is ’n Opfer, das dir der Herrgott nie vergisst.« Oma Schulte ist freudig bewegt.
Helle wagt nicht, die beiden Teller zu nehmen. »Mein Vater hat ’n Arm ab«, sagt er leise.
Oma Schulte bekreuzigt sich entsetzt.
Nauke hält unschlüssig seine Mütze in der Hand. »Frankreich?«
Helle nickt stumm.
»Na, dann flitz doch los!«, schimpft Oma Schulte. »Die werden ja ganz kalt.«
Immer wenn Oma Schulte bewegt ist und es nicht zeigen will, schimpft sie. Nauke hat das auch schon erfahren, deshalb zwinkert er Helle wieder mal zu und schimpft nun auch: »Himmelherrgottsakramentnochmal! Verschwinde endlich mit den Dingern.«
Das ist zu viel.
Oma Schulte bekreuzigt sich gleich noch mal. »Nauke! Versündige dich nicht.«
»Vor wem?«, ärgert Nauke Oma Schulte. »Vor Gott? Mach dir keine Sorgen, dem ist wurst, was hier unten passiert. Der sitzt auf seiner Wolke, lässt die Beine baumeln und sich selber einen guten Mann sein.«
Oma Schulte ist sehr gläubig, aber nicht fromm. Nauke und sie streiten ziemlich oft; nicht nur über die Kirche und den lieben Gott, sondern gleich über die ganze Welt, über alles und jedes, ernsthaft jedoch verzanken sie sich nie. Im Haus heißt es, die beiden hätten sich gesucht und gefunden: Oma Schulte, die früh Witwe wurde und nie eigene Kinder hatte, behandele Nauke wie eine Mutter oder Großmutter, verlange deshalb sicher auch viel zu wenig Bettmiete, und auch Nauke sehe in ihr wohl so was wie eine Ersatzmutter, weil er seine eigene Mutter früh verlor und deshalb in einem Waisenhaus aufgewachsen ist. Und das stimmt auch: Alles, was Nauke irgendwie ergattern kann, teilt er mit Oma Schulte. Er besorgt ihr Brennholz und Kohlen, damit sie in ihrer Dachkammer nicht friert, steht für sie bei Kalinke an, damit sie ihre Arbeit an der Nähmaschine nicht unterbrechen muss, und im Sommer sind seine Freundin Trude und er sogar mit ihr nach Treptow rausgefahren, um mit ihr an der Spree entlangzuspazieren, weil sie ja sonst nie was Grünes zu sehen bekommt.
Oma Schulte weiß, dass sie, wenn es um das Thema »Lieber Gott« geht, gegen Nauke nicht ankommt, deshalb dreht sie sich nun einfach von ihm weg und beginnt, die schmutzige Pfanne zu säubern. Allerdings nicht, ohne so etwas Ähnliches wie »unverschämter Lümmel« und »einer alten Frau den Glauben nehmen« vor sich hin zu murmeln.
»Na denn – bis morgen früh!« Nauke zwinkert Helle ein zweites Mal zu und schiebt ihn mitsamt seinen Tellern ins Treppenhaus hinaus.
Helle will sich noch für den Fisch bedanken, bekommt aber nichts Vernünftiges heraus. Nauke lässt ihn auch gar nicht erst ausreden. »Lass mal!«, sagt er. »Den Fisch hat der liebe Gott erschaffen, also bestimmt er auch, wer ihn aufisst. Oder?«

Die große Lüge

»Hat er wirklich freiwillig auf sein Abendessen verzichtet?« Der Vater blickt auf die beiden Teller, als könne er einfach nicht glauben, dass, was Helle da vor ihm aufgebaut hat, tatsächlich ihm gehören soll.
»Nauke ist in Ordnung.« Helle schaut lieber von dem Fisch weg. Er hat Angst, der Vater könnte ihm sonst den Wahnsinnshunger ansehen, den schon allein der Geruch des Fischs in ihm ausgelöst hat. Martha schaut nicht weg. Dicht am Tisch steht sie und blickt mit großen, verlangenden Augen den Vater an. Der Vater schneidet ein Stück ab und schiebt es ihr in den Mund. Sie strahlt und kaut.
»Komm her.« Der Vater winkt Helle. Helle schüttelt den Kopf.
»Na, nun komm schon! Du hast doch auch Hunger.«
Helle setzt sich auf die Fensterbank und zieht die Beine an.
Verlegen wendet sich der Vater der Mutter zu. »Dich brauch ich wohl gar nicht erst zu fragen.«
»Nein.«
Helle denkt daran, wie er früher dem Vater das Mittagessen auf den Bau gebracht hat. Das war vor dem Krieg, als die Mutter tagsüber zu Hause war und durch Nähen oder Waschen etwas hinzuverdiente und der Vater morgens mit seiner abgewetzten Ledertasche zur Arbeit ging. Wenn die Schule aus war, schickte die Mutter ihn gleich los. Meistens brachte er dem Vater Pellkartoffeln und Quark oder Kartoffelsuppe, aber manchmal auch nur einen Hering und Brot. Der Vater und seine Kollegen machten dann Mittagspause, scherzten und lachten oder unterhielten sich. Er saß dabei und hörte zu. Und Onkel Kramer, einer von Vaters Kollegen, sagte dann: »Helle ist helle, der versteht, was wir reden.« Er verstand es nicht, jedenfalls nicht immer, aber es freute ihn, wenn Onkel Kramer das sagte. Er war ja noch sehr klein und Onkel Kramer war Vaters bester Freund.
»Nun iss schon!«
Die Mutter nimmt ein Stück Fisch und steckt es dem Vater in den Mund. Der Vater kaut und lächelt, als müsse er sich für seinen Hunger entschuldigen.
Der Vater isst den ganzen Fisch auf, mindestens die Hälfte davon jedoch schiebt er Martha in den Mund. Er macht das sehr geschickt mit seinem einen Arm. Erst zerteilt er den Fisch mit der Gabel, dann spießt er ein Stück auf und hält es Martha oder sich an den Mund. Danach legt er die Gabel neben den Teller und nimmt sich mit der Hand die Gräten von der Zunge.
»Geht schon ganz gut, was?«, fragt er vorsichtig lächelnd.
»Aber was kann ich außer essen noch mit einer Hand tun? Auf dem Bau können sie einen wie mich nicht mehr gebrauchen.«
»Dann machste eben was anderes«, meint die Mutter.
»Und was? Bin doch kein Studierter, der mit dem Kopf arbeitet; hab immer nur meine Hände gehabt.«
Was der Vater jetzt sagt, geht ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf. Helle hat ihm das angesehen. Er hat seine Angst vor der Zukunft nur zurückgehalten, weil er der Mutter das Wiedersehen nicht verderben wollte.
»Wenn du willst, kannste bei uns anfangen«, sagt die Mutter.
»Wir brauchen jede Menge Leute.«
»Und als was? Stehen bei euch etwa Einarmige an den Maschinen?«
»Zurzeit ja. Zurzeit wird alles gebraucht: Frauen, Greise, halbe Kinder und auch Einarmige.«