Mami – 1886 – Ich will, dass Papi bei uns bleibt

Mami
– 1886–

Ich will, dass Papi bei uns bleibt

Das Glück einer Familie ist in Gefahr

Gisela Reutling

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-081-4

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»Sie gefällt dir wohl?« äußerte Hansen eher beiläufig. Aber der Blick, mit dem er den jüngeren Kollegen streifte, hatte etwas Bedeutsames.

Dieser schien sich erst einen Moment besinnen zu müssen, bevor er ausweichend murmelte: »Wir mögen Petra doch alle, oder?«

»Ja, ja, sie kann so herrlich lachen, nicht wahr?« kam es etwas sarkastisch zurück.

»Findest du…«

»Das sind deine Worte, Rolf!«

»So? Kann schon sein, daß ich das mal gesagt habe.«

Rolf Hardenberg tat gleichgültig. Nach einem kleinen, angespannten Schweigen wandten sie sich beide ihrer Arbeit wieder zu.

Aber war es nicht, als sei noch ein Hauch von der lebendigen Gegenwart des blonden Mädchens zurückgeblieben, das seinen Schreibtisch im Großraumbüro nebenan hatte? Nur einige Unterlagen hatte Petra Willing ihnen soeben hereingereicht, mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen, ein paar im Plauderton hingeworfenen Sätzen.

Die junge Grafikerin kam aus dem Rheinland. Sie war neu bei der ARIANA-Werbeagentur, die erfolgreich für mehrere Großfirmen arbeitete.

In diesen wenigen Wochen ihres Hierseins hatte sich Rolf mehrfach bei der Überlegung ertappt, ob er sie einmal persönlich ansprechen sollte.

Petra, wie sie einfach genannt werden wollte, war noch auf Wohnungssuche, so hatte er gehört. Vielleicht konnte er ihr dabei behilflich sein. Sein Schwiegervater hatte eine Baufirma. Der Wohnblock in der Kaiserstraße würde in Kürze bezugsfertig sein. Er könnte sie darauf aufmerksam machen. Rolf wünschte sich, daß ihr helles Lachen einmal ihm allein galt.

An diesem Tag wußte er es unauffällig so einzurichten, neben Petra nach Büroschluß das Haus zu verlassen. Er hielt sich an ihrer Seite, und in leichtem Ton fragte er: »Haben Sie sich denn inzwischen gut eingelebt in Süddeutschland? Kein Heimweh nach Düsseldorf?«

»Bis jetzt noch nicht!« Lachend warf sie ihr schulterlanges blondes Haar zurück. »Ich bin ja froh, daß ich hier diese Stellung gefunden habe. Das Arbeitsklima ist prima, was will ich mehr.«

Sie sah hinüber zum Karlsplatz, wo sich verschiedene Verkehrslinien kreuzten. »Ach, so was Dummes!« rief sie aus. »Jetzt ist mir doch der Bus vor der Nase weggefahren. Jetzt kann ich eine halbe Stunde auf den nächsten warten. Na, macht nichts. Seh’ ich mir inzwischen ein paar Schaufenster an.«

»Sie machen wohl das Beste aus allem?« warf Rolf hin.

»Hm, muß man doch.« Sie blieb stehen. »Also, auf Wiedersehen.«

»Ich könnte Sie mitnehmen«, schlug Rolf rasch vor. »Dann sind Sie früher zu Hause.«

»Nein, das ist viel zu weit«, wehrte Petra ab. »Ich wohne doch halb auf dem Land. Vorläufig noch. Ich bin bei einer Bekannten meiner Mutter untergekommen, bis ich was Eigenes gefunden habe. Das ist gar nicht so einfach. Aber mal wird’s schon klappen.«

»Eventuell wüßte ich etwas für Sie, Petra.«

»Wirklich? Wo?« fragte sie lebhaft interessiert.

Sie bemerkten den Kollegen Hansen nicht, der des Weges kam. Erst als er im Vorübergehen sagte: »Einen Gruß an deine Frau«, wandte Rolf den Kopf nach ihm und runzelte leicht die Stirn. Es hatte so betont geklungen.

»Können Sie mir die Adresse geben?« bat Petra.

»Ja… Es ist in der Kaiserstraße, eine Wohnanlage mit Ein- und Zweizimmer-Appartements, natürlich auch größeren Wohnungen, aber die kommen wohl für Sie nicht in Frage«, gab Rolf Auskunft.

»Kaiserstraße«, Petra überlegte, »ich weiß nicht, wo die ist. Ich kenne mich in der Stadt noch nicht so gut aus.«

»Ich kann Sie hinfahren«, sagte Rolf spontan. »Dann können Sie es sich gleich mal ansehen.«

»Das würden Sie tun?« fragte Petra überrascht. »Aber ich will Ihre Zeit doch nicht in Anspruch nehmen, Herr Hardenberg.«

»Kommen Sie…« Rolf griff leicht nach ihrem Arm und dirigierte Petra zum Firmenparkplatz, wo sein Wagen stand. Unweit fuhr der Kollege Hansen gerade davon. Sie stiegen ein.

»Hoffentlich ist es nicht ein zu großer Umweg für Sie«, sagte Petra, während sie sich anschnallte.

Rolf gab darauf keine Antwort. Er mußte sich auf den frühabendlichen Verkehr konzentrieren. Bald waren sie am Ziel. Petra konnte nicht schnell genug aus dem Wagen springen und sich umsehen. Die mehrstöckigen Häuser, alle mit Balkon und breiten Fenstern, machten einen freundlichen Eindruck.

»Hier würde es mir schon gefallen«, erklärte sie. »Wäre ich froh, wenn ich nicht länger zwei Stunden für den Hin- und Rückweg brauchte. Ich könnte auch mal etwas unternehmen. Da draußen, wo ich jetzt wohne, ist überhaupt nichts los, und am späteren Abend fährt kein Bus mehr.«

Sie gingen an den Häusern entlang, sahen aufmerksam daran empor.

»Die mit den schmalen Balkonen sind sicher die Einzimmerwohnungen«, sagte Petra eifrig. »Je nach Quadratmetergröße würde mir das schon genügen.«

Ihr beschwingter Schritt, ihr hübsches Gesicht mit dem freudig-gespannten Ausdruck… Rolf wäre gern noch länger so neben ihr gegangen. Sie war fast so groß wie er, langbeinig und schlank, mit anmutigen Bewegungen.

»Ich werde mich gleich morgen darum kümmern«, plauderte sie weiter. »Bei so vielen Wohnungen werde ich doch wohl eine Chance haben. Meinen Sie nicht auch?« Sie wandte sich ihm zu. In ihren graublauen Augen war ein hoffnungsvoller Glanz.

»Ich drücke Ihnen die Daumen, Petra.« Sie gingen zurück zu seinem Auto.

Und jetzt, fragte sich Rolf, plötzlich wie von einer Art Panik erfaßt. Heimkommen, trübes Schweigen, fernsehen. Er sah auf die Schlüssel, die er in der Hand hatte. »Wollen Sie mit mir essen gehen, Petra?« fragte er, ohne aufzublicken.

Es kam für Petra ebenso überraschend wie vorhin der Vorschlag, sie hierher zu fahren. »Wollen Sie denn nicht nach Hause?«

Nein, er wollte nicht. Noch nicht. Aber das konnte er nicht laut sagen.

»Ich weiß zufällig in dieser Straße ein nettes Restaurant, den ›Schwanen‹. Wir könnten zu Fuß hingehen. Dann lernen Sie auch schon Ihre, wie ich hoffe, zukünftige Umgebung ein bißchen näher kennen.«

»Ja, von mir aus gern, Herr Hardenberg, wenn Sie nichts Besseres vorhaben«, gab sie ungezwungen zurück.

»Fein. Nur noch einen Moment bitte.«

Er hatte sein Mobiltelefon im Auto, schob sich hinein. Taktvoll entfernte sich Petra einige Schritte, damit es nicht den Anschein hatte, sie wollte zuhören. Sie wunderte sich etwas über ihn. Dieser Kollege war ihr bisher immer zurückhaltend erschienen, nicht so locker im Umgangston wie die anderen. Und jetzt lud er sie gar noch zum Essen ein. Wie nett von ihm!

Indessen sagte Rolf: »Ich komme heute erst später, Andrea. Du brauchst mit dem Essen nicht auf mich zu warten.«

»Es ist gut«, kam die müde Stimme zurück. »Ich habe mich sowieso hingelegt. Nimm dir Zeit.«

Keine Frage danach, was der Grund für seine Verspätung war. Nun, so brauchte er schon keine Ausrede. »Aber du wirst nicht wieder eine von diesen Schlaftabletten nehmen«, sagte er noch. »Du hast es mir versprochen.«

»Nein, ich nehme sie nicht«, sagte seine Frau gehorsam. »Ich werde wach bleiben, bis du kommst.«

»So gegen acht, halb neun, denke ich. Bis dann, Liebes.«

Rolf blieb noch sitzen, den Blick auf das Handy gesenkt. Dann legte er es zurück und stieg aus.

»Laufen Sie mir nicht davon«, rief er Petra zu. »Wir müssen in die andere Richtung.«

Die Kaiserstraße war lang, kleinere Mietshäuser mit Vorgärten, in denen sich zaghaft erstes Grün zeigte. Ein runder Platz mit ein paar Bäumen und zwei Bänken, einem Brünnlein in der Mitte. Und an der Ecke leuchtete ihnen das Wirtshausschild mit dem Schwan in der Mitte entgegen.

»Das ist das erste Mal, daß ich hier ausgehe«, sagte Petra vergnügt, als sie am Tisch Platz genommen hatten. Sie sah sich um, angetan von der anheimelnden Atmosphäre in dem nicht großen Gasthaus. Ihr Blick kehrte zu dem Begleiter zurück. »Sonst sitze ich jeden Abend bei Frau Burkart. Sie hat mir freundlicherweise das Zimmer ihrer Tochter zur Verfügung gestellt, die nach ihrer Verheiratung nach Frankfurt gezogen ist.«

»Wären Sie denn nicht lieber in Ihrer schönen Heimatstadt geblieben?« fragte Rolf. Er nickte dem Kellner zu, der ihnen die Speisekarte hingelegt hatte.

»Ich weiß nicht… Ja, sicher, ich habe meine Eltern und Geschwister dort. Aber als sich dies hier bei der ARIANA anbot, habe ich doch mit Begeisterung zugegriffen. Irgendwann muß man sich auch mal abnabeln. Schließlich bin ich seit vorigem Monat schon dreiundzwanzig.«

»Ein beachtliches Alter«, scherzte Rolf. Er schlug die Karte auf. »Nun suchen Sie sich mal etwas Gutes aus. Im Schwanen gibt es die Spezialitäten der Region, der Wirt kocht selbst.«

»Hm, ich seh’ schon, alles Fremdwörter für mich. Was sind denn Spätzle?«

»Hausgemachte Nudeln.«

»Und Schäufele? Und Maultaschen?« fragte Petra mit großen Augen, als ihr Blick weiterglitt.

Rolf erklärte es ihr mit einem kleinen Schmunzeln. Sie entschieden sich für Maultaschen, weil Petra die Bezeichnung so lustig fand. Sie wurden ihnen serviert, und bei leichter Unterhaltung verging eine Stunde rasch.

Der Mann trank dazu langsam sein Bier. Er sah auf den roten lachenden Mund. War sie nicht wie ein Sonnenstrahl, diese Petra? Ihre Nähe, ihre Bewegungen, ihre Stimme lösten die Anspannung, das Zermürbtsein all dieser Monate, die sich längst zu einem Jahr gerundet hatten. Ließen nichts als ihre helle, körperlich fühlbare Gegenwart.

Dann aber dachte er an die müde Frau, zu der er zurück mußte.

Rolf erschrak, als ihm diese Formulierung kam: zurück mußte! Seine Augenbrauen schoben sich schmerzlich zusammen. Nein – doch nicht so!

»Habe ich etwas Falsches gesagt?« hörte er Petra fragen, bestürzt, war sie sich doch keiner Schuld bewußt.

»Nein, wieso?«

»Weil Sie auf einmal so ernst sind und eine ganz strenge Miene machen.«

Rolf zwang sich zu einem Lächeln. »Mir kam nur eben etwas in den Sinn. Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Petra. Aber so langsam müssen wir wohl.«

Er sah sich nach dem Kellner um. Der bediente gerade am anderen Tisch.

»Wann haben Sie denn wieder einen Bus?« fiel es ihm plötzlich ein. »Sie sind mir doch nicht böse, wenn ich Sie nicht nach Hause bringe?«

»Das möchte ich gar nicht, auf keinen Fall. Sie werden sicher zu Hause erwartet. Bis zweiundzwanzig Uhr habe ich alle halbe Stunde einen Bus, ab Karlsplatz.«

Rolf warf einen raschen Blick auf die Uhr. »Wenn wir uns beeilen, können Sie den um halb neun noch bekommen.«

Sie erreichten ihn. Die Verabschiedung war kurz. »Vielen Dank für alles, Herr Hardenberg. Und nicht vergessen: Daumen halten.« Damit lief sie hinüber zur Haltestelle, wo ihr Bus schon abfahrbereit stand.

Rolf fuhr wieder an. Mußte er ein schlechtes Gewissen haben, weil er kaum mehr als zwei Stunden lang Vergessen gesucht hatte? Es war ja nichts geschehen. Er hatte einer Kollegin einen Gefallen getan, sie anschließend, weil es gerade die Zeit war, zu einem einfachen Abendessen eingeladen.

Weiter nichts, nein. Und dabei sollte es bleiben.

*

Andrea war auf. Sie saß vor dem Fernseher, in ihrer gewohnten Haltung, die Beine unter sich gezogen in dem breiten Sessel, die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, wie in sich zusammengekauert. Der schwarzsamtene Hausmantel hüllte sie ganz ein. Immer erschien ihr Gesicht darüber noch blasser als es ohnehin war.

Rolf beugte sich über seine Frau, küßte sie flüchtig auf den Mund. »Guten Abend, Andrea.«

»Guten Abend, Rolf.« Sie richtete sich auf. »Hast du schon gegessen? Oder soll ich dir etwas zurechtmachen?«

»Ich brauche nichts mehr, bleib nur.« Er richtete den Blick auf den Fernseher. »Was schaust du dir denn an?«

»Einen Spielfilm. Aber ich kam erst mitten in die Handlung. Ich weiß nicht, um was es geht. Du kannst ruhig abschalten, wenn es dich stört.«

Es störte Rolf nicht. Der Ton war leise eingestellt. Er holte sich die Tageszeitung und machte es sich damit in dem anderen Sessel bequem. Manchmal, wenn er die Seite umblätterte, sah er auf seine Frau. Sie hielt den Kopf etwas geneigt, das braune glatte Haar fiel ihr rechtsseitig halb über die Wange. Ihre Hände hatte sie jetzt in die weiten Ärmel gesteckt, er hatte den Eindruck, es fröstele sie. Aber es war doch warm im Zimmer.

»Ist dir kalt, Andrea, soll ich die Heizung höherstellen?« fragte er.

»Wenn du mir eine Decke holen würdest«, bat sie und unterdrückte ein Niesen, dabei überlief sie ein leises Schaudern.

»Du wirst dich doch nicht erkältet haben?« Er brachte ihr eine leichte Wolldecke aus dem Schlafzimmer, legte sie mit sanften Bewegungen bis unter ihr Kinn um sie. »Bist du heute nachmittag draußen gewesen und warst zu leicht angezogen? Es ist immerhin erst Ende März«, äußerte er besorgt.

»Ich war nur auf dem Friedhof«, sagte Andrea.

Nur. Rolf preßte die Lippen zusammen. »Und wie lange warst du dort?« wollte er Sekunden später wissen.

»Nie lange genug«, kam es wie gehaucht zurück.

Rolf schaltete den Fernseher ab. Sie sahen ja doch nicht hin. In seiner Miene zuckte es. »Du machst Jessica damit nicht wieder lebendig«, stieß er hervor.

»Aber ich habe das Gefühl, ihr nahe zu sein.«

»Stunde um Stunde lang, an einem kleinen Stück blumengeschmückter Erde, an einem Stein, der ihren Namen trägt?«