Wie der Franischko Geographie studierte

Inhaltsverzeichnis

Vor dem Laden eines Buchhändlers standen zwei Knaben im Alter von ungefähr zwölf und zehn Jahren. Es waren junge Brüder, welche eben das Schulhaus verlassen hatten und den kurzen Weg bis zu der elterlichen Wohnung nun auf alle mögliche Weise zu verlängern wußten. So machten sie es alle Tage. Das eine Mal betrachteten sie aufmerksam und wißbegierig den lebendigen Hummer im Schaufenster des Kaufmanns, ein anderes Mal zählten sie die Pflastersteine oder liefen in ziemlich spitzen Winkeln über den Damm hinüber und herüber, oder sie lernten alle Firmen und Anzeigen der Straße auswendig.

Heute hielten sie – wie gesagt – vor einer Buchhandlung, weil eine große Landkarte in ihnen eine Erinnerung an die letzte Geographiestunde geweckt hatte. Unbekümmert um das Treiben, wie es sich um diese Vormittagsstunde in allen Teilen der Hauptstadt entfaltete, standen sie da und fragten einander aus. Ihre hellen Augen suchten auf der ausgehängten Karte von Mitteleuropa umher, bis sie einen bekannten Ortsnamen gefunden hatten. Hier lag Berlin, der Sitz der Regierung, da Wien, wo die Donau blau ist, da Nürnberg, wo die Häuser fünfhundert Jahre alt sind und davon schiefe Fenster und spitze Dächer bekommen haben, da Straßburg, die wunderschöne Stadt, da im äußersten Winkel Thorn, wo der Pfefferkuchen herkommt, und ganz unten Genf, wohin die Eltern der beiden Kinder in den Ferien reisen wollten.

Der Jüngere wurde nicht müde, zu fragen und selbst zu antworten, obgleich der Ältere ihn schon zweimal mit den Worten: »Du, Otto, wir bekommen kein Frühstück!« zur Eile gemahnt hatte.

»Du willst nur gehen, weil du dich schämst! Du weißt aber auch gar nichts, Ernst. Hier ist Hamburg, wo man nach Amerika fährt.«

Und der kleine energische Otto stellte sich auf die Fußspitzen, um mit dem Zeigefinger den Punkt auf der Karte deuten zu können. Der stillere und langsamere Ernst nahm die Mitteilung ohne jede Empfindlichkeit hin, aber sein Wetteifer war doch geweckt. Er hatte eben einen kleinen Slowakenjungen erblickt, der neugierig neben ihnen stehengeblieben war. Er hatte es sich gemerkt, wo die Slowaken herkamen, und mit einem stolzen Aufleuchten seiner großen blauen Augen fragte er: »Ich weiß auch etwas, was du nicht weißt. Wo ist Trenschin?«

»Trenschin? Da kommen die Mausiratzenfaller her!« antwortete Otto lebhaft, um wenigstens seine kulturhistorischen Kenntnisse zu zeigen, da er die geographische Lage nicht sofort feststellen konnte.

»Ja«, sagte Ernst. »Aber zeig es mir auch! Du bist ja immer der Klügere! Wenn du es aber nicht gleich findest, so ergib dich!«

»Nein, nein«, rief Otto, während seine Augen unruhig die Karte auf und ab liefen.

Der Slowakenjunge, den die bunten Farben im Schaufenster angezogen hatten und der jetzt bei den letzten Worten des Knaben in eine ungeheure Aufregung geriet, war der kleine Franischko, der auch heute mit seinen vielen Mausefallen, Deckeln, Töpfen, Quirlen, Trichtern, Lämpchen, Bechern und ähnlichen Blechwaren beladen, von Haus zu Haus ziehend, hierher geraten war. Es war Franischko, der die wohlerzogenen, sauber gehaltenen Knaben nicht beneidete, bloß bewunderte.

Was wußten die vornehm gekleideten jungen Herren von Trenschin?

Trenschin war weit, weit weg. Viele Monate mußte man wandern, wandern am Fluß vorbei und durch blühende Felder, über Berg und Tal, durch Wald und Sand, wandern bei Nacht und Wind und bei sengender Sonnenglut, wandern mit lahmen Füßen, unter drückenden Warenlasten, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, bevor man hierher gelangte zu den fremden deutschen Menschen. Oder hatte ihn der Tatko in der Runde herumgeführt? War er hier am Ende wieder in der Nähe der Heimat? Der Tatko hatte ihn allein hier zurückgelassen und ihm verboten, an die Heimat zu denken. Und der arge Majster schlug ihn, wenn er nach Trenschin fragte.

Sollten diese beiden Knaben ihm Auskunft geben können?

Noch immer suchte Otto den bezeichneten Ort. Seine Lippen bewegten sich, weil er innerlich die Namen aller bekannten Städte las, an denen sein Auge unbewußt vorüberglitt. Da plötzlich rötete sich sein Gesicht, und jubelnd rief er: »Da ist Trenschin!«

Der kleine Slowakenjunge zitterte. Die beiden Knaben sahen so freundlich aus – sie würden ihn nicht schlagen! Besonders der ältere mit seinem ruhigen, milden Gesicht flößte Vertrauen ein. Da faßte sich Franischko ein Herz und trat an die Knaben heran, als sie sich eben zum Gehen wandten.

»Bitt’ ich, gnädiges junges Herr, bitt’ ich untertänigst, wu… wo ise Trenschin?«

Die erste Bewegung der beiden Knaben sah beinahe aus wie ein Fluchtversuch. Aber schon blieb Otto stehen und betrachtete den kleinen Frager mit überlegener Miene.

»Schäm dich, Mausiratzenfaller«, sagte er. »Du, Ernst, der ist dumm. Er ist selbst aus Trenschin und weiß nicht, wo es liegt.«

»Bitt’ ich, gnädigstes junges Herr, wo is Trenschin? Bitt’ ich, hab’ ich Mutterle meiniges da unten. Wo ise Trenschin?«

Otto reckte sich wieder empor und zeigte mit dem Finger auf den Punkt der Landkarte. »Da ist dein Trenschin«, sagte er.

»Bitt’ ich, seh ich nix Trenschin. Trenschin is großmächtige Stadt, Massa Häuser, is hier Glas und Papier, is nix Trenschin.«

Und der kleine Franischko sah enttäuscht auf den Altersgenossen, welcher ihm noch vor kurzem wie ein höheres Wesen erschienen war. Otto schaute erst noch auf seinen Bruder, ob dieser auch ein aufmerksamer Zeuge seines Triumphes sei, dann begann er zu Franischko: »Du bist ein ganz großer Esel. Du mußt doch Geographie gelernt haben und weißt nicht einmal, was eine Landkarte ist? Das hier ist eine Landkarte, und da stehen alle Städte und Dörfer und Marktflecken und Flüsse und Nebenflüsse darauf. Eine Landkarte ist nämlich, wenn man, weiß du, das ist so, wie wenn einer ein Bild aufzeichnet. Das ist auch viel kleiner, aber man kann doch alles darauf sehen. Auf dieser Karte steht beinahe die halbe Erde, aber die ist tausendmal größer.«

»Vielleicht zweitausendmal. Meinst du nicht, Otto?« sagte Ernst.

Franischko hörte mit offenem Munde den unverstandenen Reden zu. Wenn er doch auch so klug wäre wie diese Knaben, welche das Bild der Erde zu deuten wußten! Aber hier war keine Zeit zu Wünschen und Betrachtungen. Inständig begann er wieder: »Armes Franischko nix lernt! Wo ise Trenschin?«

Die beiden Knaben schauten einander betroffen an. Auf der Landkarte wußten sie wohl Bescheid, aber dieser Slowakenjunge verlangte offenbar zu wissen, wo der Ort wirklich auf der weiten Erde läge. Das war ihnen noch nie eingefallen, daß die Wissenschaft auch einen Nutzen gewähren könnte. Ernst faßte sich zuerst.

»Komm mit«, sagte er zu dem Kinde. »Papa wird es dir sagen. Papa weiß alles.«

»Dazu brauchen wir noch lange nicht den Papa«, rief Otto erregt. »Ich weiß es ganz gut, Mausiratzenfaller. Schau, wir sind hier« – und er wies mit dem Finger auf einen Punkt auf der Landkarte –, »und Trenschin liegt rechts. Rechts ist Osten. Trenschin liegt also im Osten.« Und herausfordernd blickte er auf seinen Bruder.

»Ja, Trenschin liegt im Osten«, wiederholte Ernst, indem er bewundernd den jüngeren Bruder betrachtete.

»Wo ise Ost, wo ise Trenschin? Liebes gnädiges junges Herr, wo ise Trenschin?«

Ohne eine Silbe zu antworten, lief Otto, gefolgt von seinem Bruder und dem Slowakenjungen, über den Damm auf die andere Seite der Straße. Hier schien die Mittagssonne hell auf das saubere Pflaster. Otto stellte sich stramm hin, das Gesicht seinem eigenen Schatten zugewendet. Dann streckte er die linke Hand in gerader Richtung von sich, deutete mit dem Finger und rief: »Dort ist Osten.«

»Das habe ich ja gesagt«, rief Ernst mit rotem Gesicht.

Und die beiden Brüder begannen so lebhaft zu streiten, daß sie bald des landfremden Kindes vergessen hätten, wenn Franischko sie nicht mit seinem kläglichen und immer dringenderen »Wo ise Trenschin?« an sich erinnert hätte.

Die Streitenden einigten sich. Beide stellten sich nebeneinander auf, ihren Rücken der Sonne zugewendet, beide streckten die rechten Arme aus und riefen: »Dort ist Osten, dort ist Trenschin.«

Lange starrte Franischko in die bezeichnete Himmelsrichtung, als wollte er sie seinem Gedächtnisse für immer einprägen. Schon hatten seine beiden Freunde ihn verlassen, da rief er ihnen nach, ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne seinem Blick eine andere Richtung zu geben. Die Knaben kehrten zurück.

»Ise sich viel weit nach Trenschin?«

Ernst stieß seinen Bruder an. »Das wollen wir doch lieber den Papa fragen. Das haben wir noch nicht gelernt.«

Otto lachte, faßte seinen Bruder bei der Hand und schleppte ihn wieder zur Landkarte. Hier verglich er aufmerksam die Entfernungen, rieb sich die Stirne, kratzte unter der Mütze den Kopf und sagte endlich mit Entschiedenheit: »Vierundzwanzig Stunden.«

»Aber Otto, wie kannst du das wissen?«

»Das kann ich ganz gut wissen«, schrie Otto unter lebhaften Gestikulationen. »Papa sagt gestern beim Kaffee, daß die Reise nach Genf zwei Tage dauern wird. Von hier nach Genf ist doppelt so weit wie nach Trenschin. Siehst du? Gerade doppelt so weit.« – Und er maß die Entfernungen mit dem Bleistift. – »Drei Bleistifte nach Genf, einundeinhalb nach Trenschin. Also kommt man nach Trenschin in einem Tage. Und ein Tag hat vierundzwanzig Stunden. Das wirst du doch wenigstens wissen, Ernst!«

»Das ist wahr«, erwiderte Ernst, und sie kehrten zu Franischko zurück und teilten ihm mit, daß er vierundzwanzig Stunden nach Trenschin brauchte. Die Augen des Knaben erglänzten in Tränen.

»Liebes Gott in Himmel soll segnen viel tausend Male gnädigstes junges Herr.« Und Franischko griff nach den Ärmeln des Knaben, um sie zu küssen. Sie liefen aber davon und kehrten ohne weiteren Aufenthalt nach Hause zurück, wo sie mit Schelten empfangen wurden. Nachdem sie jedoch ihr Abenteuer berichtet hatten, war der Zorn der Mutter bald beschwichtigt, sie gab den Knaben das verwirkte Frühstück und versprach, dem Vater über das Herumtreiben auf der Straße heute nicht zu klagen.

Des Abends wurden aber die Streiche der Kinder doch gewissenhaft berichtet, und die Eltern priesen um die Wette die Schlauheit ihres Jüngsten.

Franischko stand noch lange da und starrte nach Osten, nach Trenschin. Die Wagen rasselten an ihm vorbei, das Gewirr von tausend Menschenstimmen schlug an sein Ohr, die Hunde bellten, von allen Türmen schlug in seltsamem Gemisch die zwölfte Stunde. Und aus dem Gerassel und Gewirr, aus dem Glockenklingen und dem Hundebellen vernahm Franischko, deutlich wie im Traum, die Melodie des trauten Liedes, das die Mädchen beim Tanze sangen:

Wo ist mein Land? Wo steht mein Haus?
Trenschin, du dornenreiche!
Rose, du düftereiche!
Dort ist mein Land! Dort zog ich aus!

Näher und näher hörte er die schwermütige Weise, schon konnte er die einzelnen Stimmen unterscheiden. Die laute helle Stimme, welche alle anderen übertönte, war das nicht die schwarze Katscha, und der tiefe Baß, der sich immer zu ihr hielt, war das nicht der lange Ondrej? Und jener leise, leise Ton, der immer zu weinen schien, wenn er zu dem Verse »Trenschin, du dornenreiche!« kam, war das nicht die Mamka, die liebe alte müde Mamka, die sich immer so innig freute, wenn der Franischko nach Hause kam? Ja, die Mamka wird ihn gewiß freudig willkommen heißen! Und konnte ihm selbst der strenge Tatko böse sein, wenn er zwei Arbeitstage versäumte, um einmal zu Hause zu sein? Der Tatko war nicht böse, nein, auch wird die Mamka für den Franischko bitten.

Ob er es wagt? Wieder tönt um sein Ohr ein Lied, der wilde Sang von der »Uherska krajina«, und er glaubt offenen Auges den Imrich und die Bora zu sehen, wie sie tanzen, und die Zigeuner zu hören, die dazu aufspielen – und juchhei! auf springt er und in rhythmischen Sprüngen, wie zum Tanze, eilt er davon – dem Osten entgegen. In vierundzwanzig Stunden wird er bei der Mamka sein! Die Waren auf seiner Schulter klirren den Takt, und die Hunde umspringen ihn kläffend, und die Leute auf der Straße blicken ihm lachend nach. –

Wie flog er dahin! Schon lagen die Häuser der Stadt hinter ihm, und zwischen Gärten und Landhäusern hin führte sein Weg. Er hatte ihn gut gemerkt: rechts stand die Sonne! Und wenn sie sank und unterging? Bah, dorthin – dorthin mußte er! Er kannte sein Ziel. – Dort liegt Trenschin!

Jetzt war er auf freiem Felde. Über Hecken hinweg, durch wogende Kornfelder eilte der Knabe. Wohl rief ihn hier ein Feldhüter an, wohl setzten ihm da die Dorfbuben nach, aber Franischko war schneller als sie alle. Ja, sucht ihn nur einzuholen! Wenn ihr nicht Flügel habt und nicht auch zur Mutter eilt – ihr erjagt ihn nicht. Einmal hörte er gar drohend hinter sich rufen und endlich einen Schuß. Aber der Schuß galt gewiß den Spatzen auf den Pflaumenbäumen, die dort die Wiese umsäumen, nicht ihm. Wer könnte so schlecht sein und auf den Franischko schießen, der zu seiner Mamka läuft?

Und jetzt den Berg hinauf. Anfangs ging es mit derselben Hast wie seit drei Stunden. Plötzlich aber wurde dem Franischko schwarz vor den Augen, seine Brust keuchte, und ein kalter Schweiß lief ihm über die Stirn. Franischko erschrak. Die kluge Mamka hatte ihm einst nicht umsonst eingeschärft, man müßte den Berg hinauf fein langsam gehen. Er durfte ja heute nicht krank werden. Auch war es töricht, so in die Welt hinein zu rennen. Der gelehrte Knabe hatte ja nur von vierundzwanzig Stunden gesprochen und dabei gewiß nicht an ein Laufen von vierundzwanzig Stunden gedacht.

So fing denn Franischko an, bedächtiger vor sich hinzuschreiten. Nicht so langsam, daß er hätte verschnaufen können, aber auch nicht so schnell, daß der Schwindel wiedergekommen wäre, der ihn auf dem Berge beinahe umgeworfen hätte.

Und die Sonne sank immer tiefer, und Franischko wurde immer müder. Und als die Sonne untergegangen war und Dämmerung immer dichter den Knaben umgab, da verband er seine Richtung mit den Sternen und schritt weiter. Kein Laut war zu vernehmen, als das Klirren des Warenhaufens auf seiner Schulter, der bei jedem seiner Schritte hart niederfiel und ihn zu Boden ziehen zu wollen schien. Wie, wenn er die Waren hier irgendwo zurückließ, um sie auf dem Rückwege wieder abzuholen?