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Benjamin von Wyl

Land
ganz
nah

Ein Heimatroman

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Benjamin von Wyl

Land ganz nah

Ein Heimatroman

lectorbooks, ein Imprint der Torat GmbH, Zürich

info@lectorbooks.com

www.lectorbooks.com

Wir danken dem Kanton Zürich für die Unterstützung dieses Buches.

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Zitatnachweise: »Dreißigjährige Pärchen«, Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung. Volksmusik. 2007. Versöhnungsrecords.

»Es ist gut«, Rainald Grebe. Das Abschiedskonzert. 2004. WortArt.

»Willkomme in Züri«, SKOR feat. EKR & Tinguely. Kalabrese/Skor Sihltal/Willkomme in Züri (Vinyl 10''). 2012. Compost Records. »Alle gegen alle«, Laibach. NATO. 1994. Mute Records. »The Whistleblowers«, Laibach. Spectre. 2014. Mute Records.

Gesamtproduktion: www.torat.ch

Umschlagbild: Evan Ruetsch

1. Auflage 2017

© 2017, lectorbooks/Torat GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-906913-15-5

»Was macheder au fürne Gring? /
Es chunt aus guet!«
Teil vo dr Lösig, Greis

»I bi no lang nid am Ziiu /
Dr einzig Find wo no blibt ufem Wäg si mir aui«
Teil vom Problem, Greis

»I bi nes Ching vo däm Land, bi nes Lokauprodukt /
I weiss wohäre i ga, i weiss oh gnau wohär i chumm«
Teil vomne Ganze, Greis

»Mir sii vo niene, vo niene, vo niene /
Mir sii vo niene – sii überau dehei«
Vo niene, Greis

Für Anna

Am Limmatufer wird Leder gegerbt, »Scherbenquartier!« meint der Blick. Und manche fühlen sich an die frühen Neunziger erinnert. Verschläge prägen den Platzspitz, Baumhäuser, Lastwagenblachenwohnungen. Die Kiffer, die sonst hier rumhängen, kommen weiterhin her. Einige arbeitslose Theaterpädagogen verlassen ihre Zimmer im besetzten Haus draussen in Altstetten, leeren nicht mal die Aschenbecher auf dem Nachttisch und ziehen in den Park. Die HB-Halle wird zum anarchischen Mittelaltermarkt. Mittlerweile kommen auch täglich Leute aus Ungarn, Frankreich und Deutschland an. Diese Freiwilligen wollen aber oft nicht einfach Linsensuppe schöpfen, sondern fühlen sich primär angezogen von der »neuen Lebensform«, der »Gegen-Existenz«. Es sind viele Soziologiestudenten – Soziologiestudent*innen – unter ihnen. Die Flüchtlinge treibt’s nach Wiedikon, zum Bahnhof Enge, nach Oerlikon, an S-Bahnhöfe in Dietikon und Schlieren. Eine Gruppe Afghanen, die in Stäfa UNHCR-Simmenthal-Dosen verkaufen will, wird mit Tränengas in die Stadt zurückgetrieben. Für die Erklärung von Bern, für Amnesty, Helvetas, das Rote Kreuz ist klar: Die Goldküste ist No-go-Area. Zu gefährlich für Syrer, Afghanen, Pakistaner, Eritreer. In der jungen welt erscheint ein Manifest, das das revolutionäre Moment einer solchen Situation erkennt. Es trägt den Titel: »Unruhe, Widerstand – kein ruhiges Hinterland!« Was dem offiziellen und inoffiziellen Zürich nicht ganz genehm ist: Zürich als Hinterland.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DANK

ZUM AUTOR

1.

Vorweg läuft ein Junge mit einem »Free Hugs«-Schild. Er grinst und weiss, wie entscheidend es ist, Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren. Das kann er. Zwei Mädchen und drei Jungs laufen ihm nach. Über die Mittlere Brücke Richtung Kleinbasel. Bei der Helvetia-Statue beschleunigt mein Tram Richtung Grossbasel. Die Fahnen an der Brücke wehen. Sie takten Meister-Zeit, Art-Basel-Zeit, Tattoo-Zeit, Seine-Wohnung-Bonzen-zur-Verfügung-stell-Zeit während der Baselworld. Die Fahnen umrahmen meinen Morgen, der sonst höchstens von arhythmischen Facebook-Push-Nachrichten und zwei Mailaccounts koloriert wird. Unter der Brücke treibt der Rhein, weil er das tut. Ich seh, wie er treibt, während der 8er zielstrebig weiter zur Schifflände fährt. In der besten aller möglichen Welten sässe man am Rheinufer, Kleinbasler Seite. Das beruhigt, den Rhein zu sehen als Reminder an diese Möglichkeit. Wie der weiss-rot markierte Kehrichtverbrennungsturm weit flussabwärts beruhigt. Wie der Vorlesungssaal flussaufwärts beruhigt. Von dem aus haben wir früher in der ersten Stunde auf die Frühneuzeitfassaden von Kleinbasel geschaut und mitgedämmert.

Das Tram ist schon beim Barfi, und ich hab fast alle Tabs mit Artikeln, die in meinem Startseiten-Revier auf Facebook geteilt wurden, abgearbeitet. Weder das Literaturtheorie-Taschenbuch – nicht mal ein ödes, sondern ein im guten Sinne süffiges – noch den dritten Knausgård-Roman, noch nicht mal die neue Ausgabe der Zeit hab ich aus meiner Tasche genommen. Ich trage das alles mit mir rum, damit sich mein Rücken am Abend kaputt fühlt und mein Körper und Gemütszustand als Einheit zusammenfinden. Bankverein. Am Bahnhof kauf ich mir ein Schoggibrötchen bei der Bäckerkette, die so allgegenwärtig ist, dass ihr Name nicht genannt werden darf, bemitleide die Leute, die so knapp am Bahnhof sind, dass sie die Rolltreppe hochrennen müssen, und steige in den Restaurant-Wagen. Kafi im Zug ist zwar teuer, aber Kafi beim uniformen Bäcker ist noch teurer, und Kafi am Morgen ist lebenswichtig. Zum Kafi-daheim-Machen bin ich nur schon deshalb zu faul, weil ich erst die Bohnen mit meiner Peugeot-Mühle vom Flohmarkt mahlen müsste. Also warte ich mit Cappuccino auf meinen Pendelfreund. Ich geniesse die Fahrt mit ihm, nehme einen Zug früher, als ich müsste, denn mit ihm kann ich die Fahrtzeit bespielen, darüber sprechen, was wir aus den Kulturtheorie-Lektürekursen in unseren heutigen Alltag übernehmen. Die Fahrtzeit ist mehr als Fugenzeit, erhält Wert. Er kommt wie immer knapp – aber es ist beruhigend, dass er kommt. Sonst hätte ich die auf seinen Platz aspirierenden Anzug-, Jackett- und Schalträger für nichts abgewimmelt. Ist er nicht da, weiss ich nicht, wo er ist. Sein Handy nutzt er nur als Wecker, und die Nummer hat niemand ausser seiner Freundin. Er wird bald Bibliothekar.

In 20 Minuten lesen wir, dass am HB-Treffpunkt vorgestern zwei miteinander verkehrt haben. Um 05.30 Uhr war es für die Beteiligten wohl eher spät als früh. Als wir am HB in Zürich sind, verabschiedet sich der künftige Bibliothekar in die Unerreichbarkeit.

»Ou, du chunsch uf Züri und wäisch nöd emal, wo de Swarovski isch?«1 In Zürich passieren Zürich-Sachen. Ich brauche immer einen Moment, bis das bei mir ankommt, meistens bis die S-Bahn bei der Hardbrücke einfährt. Mein Büro liegt hinter dem Prime Tower, dem ehemals höchsten Gebäude der Schweiz. Ich rauche meine erste Zigi immer dann, wenn ich am Prime Tower vorbeigehe und mir einbilde, dass das eine Form von Selbstreinigung ist, quasi die Dekontaminationskammer vor dem Verlassen des Mutterschiffs. Manchmal gefällt es mir, wie der Prime Tower diese Stadt pfählt und wie die Anzugmenschen um ihn rumwuseln. Ein masochistischer Reflex. Ich hab jeden Tag eine Stunde und zwanzig Minuten von Tür zu Tür. Dafür, dass ich dann auf einem weissen Tisch in einer weissen, halb leeren Halle meinen Laptop auspacke. Immerhin steht meine Walross-Tasse da. Die Arbeit: Was auf dem Bildschirm geschieht, das packt, bannt und unterdrückt den Mittagshunger manchmal bis halb drei. Ausser das WLAN fällt wieder aus. Wir sind ein Online-Medium.

In den Rauchpausen schauen meine Büro-Zürcher und ich auf eine Szenerie, die zu zwei Fünfteln vom Prime Tower eingenommen wird. Mein Chef und ich drücken uns vor dem Fenster auf dem Zwischenstock zusammen. Die anderen gehen nur mit einem Arm dazwischen, wenn sie ihre Kippen wegschmeissen wollen. Und wir stellen uns vor, dass im Prime Tower ein kosmisch-purpurnes Ding pulsiert, das alles Böse der Welt an sich saugt. Mein Chef spielt während dem Rauchen – er raucht immer gleich zwei Zigis – Kaputtheitsbingo: Er behauptet zu wissen, wer verdrogt ist unter den Leuten, auf die wir aus dem Zwischenstockbullauge herabschauen. Keiner von uns verurteilt die Kaputten, denn das kosmisch-purpurne Ding zwängt sie in dieses Leben. Dieses Ding stelle ich mir als das polyamore Tentakelwesen aus dem einen Futurama-Langfilm vor. Das dockt an Roboter-, an Krabben-, an Menschennacken an, an alles, was Bewusstsein hat, und überformt es, normt es, bietet Glück. Nach jeder Rauchpause muss ich aufs Klo oder mir einen Kafi machen. Und dazwischen, in der gefühlt grössten Entfernung zwischen der letzten Rauchpause und der nächsten, mache ich das jeweils andere (Kafi oder Häufchen). Von uns durch eine Styroporstellwand abgetrennt sitzen die Architekten. Fleissig, gschaffig, unsere Hallenmitmieter. Das führt manchmal zu Konflikten. Meistens, weil wir uns das WLAN teilen und die Bandbreite schlecht ist – wir sind ein Online-Medium. Die Bandbreite bleibt so, da das Gebäude unter Denkmalschutz steht. Die Architekten mögen das auch nicht, die meisten den Denkmalschutz schon, aber seine WLAN-Folgen nicht. Besonders nervt es die Sachbearbeiterinnen, die bei der gemeinsamen Kafimaschine bis zu zwanzig Minuten lang darüber diskutieren, dass diese Bruchbude mit ihrem abblätternden Deckenbelag denkmalgeschützt sei.

Als ich hier frisch angefangen hatte, unterstellte mir mein Chef, dass ich momentan noch das Gefühl hätte, er habe mir mit dem Job einen Gefallen getan. In zwei, drei Monaten werde das verfliegen und ich würde das Gefühl bekommen, jemand nehme mir etwas weg.

Ach, der Prachtpalast! »Das Vergessen wartet in einer langen Schlange vor dem Eingang« und darunter auf einer zerbrochenen Wandtafel: »Heute: 21.00 Berezina (UK), 23.00 Tuntenball«. Beim Menschen am Eingang suche ich in meinem Portemonnaie nach der richtigen Karte. Endlich, »Karola Burgherr, TagNacht, Redaktionelle Mitarbeiterin Kultur« Was ich hier wolle? Drüber schreiben.

»Mir sin nid ganz überzügt, ob mr euch no do wän.«

»›Mr wän das nitt!‹ isch de Slogan, mit däm mr unseri Ziitig lanciert hän.«2

Der Typ hustet; endlich darf ich hinein. Hinter mir greift eine dem Security in den Schritt und ruft: »Ich bin von Vice, ich darf das! Das ist alles völlig natürlich.« Die ist kaum siebzehn und wird weggebracht. Ich muss kichern: Die drehen komplett am Rad, die Gonzo-Clickbait-Journis.

Die Jungs von Berezina sind nicht da, sondern beim Soundcheck, also zünde ich mir eine Zigi an. Neben dem Sofa steht eine halb volle Flasche Chivas Regal. Ich warte. Wenn ich etwas hasse, dann Warten. Warten. Warten. Vor zwei Tagen bin ich bis sieben Uhr morgens hier im Prachtpalast gewesen für unser Video, das Video-Voice-Over. Wir machen immer mehr Video, das passiert, wenn man einer Zeitung das Papier wegnimmt. Untätig von zehn bis zwölf, wartend. Darauf, dass die Polizei vielleicht abzieht. Als wir uns dann hier einrichten konnten, hat Roman mich zu seinen Sätzen gezwungen: »Die Polizei kesselte die 150 bis 200 Ultras beim Prachtpalast ein.« Das musste ich ins Mikro sprechen, fünf-, zehn-, fünfzehnmal ins Mikro sprechen. »Die Polizei kesselte die 150 bis 200 Ultras beim Prachtpalast ein.« Roman hat getrunken. Ich durfte nicht. Wegen der Artikulation, hat er gemeint. Ich sagte die Sätze so viele Male: »150 bis 200 Ultras«, und noch mal, da ein Knacken drauf war. Bei der Aufnahme hatte ich ein Stück Molton über meinem Kopf. Auf beiden Seiten angehoben von Mineralwasserflaschen. So sollte der Sound cleaner sein und ich konnte atmen. Roman hat mir nuschelnd Phonetik-Ratschläge gegeben. Und dann warteten wir, bis alles per WeTransfer hochgeladen war. Und dann durften wir warten, bis die Empfangsbestätigung kam. Und dann war es sieben und auf dem Heimweg ins Klybeck hallten mir meine Sätze nach. »Etwa eine Stunde später zog sich die Polizei überraschenderweise ohne Personenkontrollen zurück.« Woher kommen diese Sätze? – Ich bin ein Echoraum. »Die Eingekesselten kommentierten das mit ›Heigoh! Heigoh grad jetz!‹3-Gesängen.« Und wieder von vorne: »150 bis 200 Ultras …« Zum Einschlafen habe ich dann Iron & Wine gehört, damit die Sätze weggehen. Warten. Beim Warten kommt hoch, was schon vorbei ist. Warten statt Input. Wann kommt denn jetzt diese Band endlich? Den Chivas Regal will eh niemand mehr. Ich nehme einen Schluck.

Es dauerte nicht zwei Monate, bis ich das Gefühl bekam, dass man mir was wegnimmt. Ich mag Zürich nicht. Das bleibt so, das geht nicht weg. Christoph Blocher und Huldrych Zwingli sitzen zusammen in der Bar und trinken Espresso Martini. Christoph Blocher und Huldrych Zwingli koksen auf der Toilette vom Hive, natürlich beide mit demselben Schnupfröhrchen. Drogen, Protestantismus, Leistungsbereitschaft, Vintage-Mode: In Zürich darf man vielem dienen. Unterwerfung, Unterwerfung unter die Darstellung. Verätzte Schleimhäute. Zürich, das sind gut frisierte, trainierte Menschen, die etwas zu schnell reden und in der Schule ADHS diagnostiziert bekommen haben. Sie tragen meistens Sporttaschen mit sich rum, da sie alle noch wohin müssen, sie müssen dahin, wo sie müssen. Schwimmen gehen oder zum Yoga. Ich schaue ihnen tief in die Nasenlöcher: Ist der da eine Koksnase? Und die? Würde mich der aggressiv machen, wenn ich betrunken wäre? Ist das der, der letzten Samstag in der Zukki sein Zeug an der Bar rausgeholt hat? Da hab ich meinen Gin Tonic auf die Bar geknallt, Glas ist gesplittert, mein Blut geflossen, zwei offene Wunden. Den Rest im Glas, durch den mein Blut eine Spur zog, hab ich noch getrunken.

Alle erwarteten, dass ich dabei einen Splitter schlucke, und so hab ich ihnen wehgetan. Der Typ hat sein Koks wieder eingepackt.

Die meisten Zürcher sind kreativ; sie kommen ja aus bürgerlichen Elternhäusern. Aber meist fällt mehr auf, dass sie verkaufen können; sie kommen ja aus bürgerlichen Elternhäusern. Ihr Leben ein einziger Pitch, ihre drei Unique Selling Points erzählen sie dir in fünf Hauptsätzen. Sie sassen davor stundenlang an ihrem Küchentisch, an dem 1967 schon Stadtpräsident Sigi Widmer mit ihren Eltern gesessen habe, feilen an Wörtern, manchmal stundenlang an Hauptsätzen, denn darum geht es: Haupsätze mit weniger als dreizehn Wörtern. Sie wählen Fonts, und dann wird das, was sie sich überlegt haben, zu einem Produkt. Dann wird das schon, Produkt.

Berezinas Typ am E-Synthie, Kasparov, ist jetzt da. Immerhin. Der Chivas Regal nicht mehr halb voll. Er fragt mich, ob es für mich als Schweizerin ungewohnt sei, einen Mann in Frauenkleidern zu sehen. »I don’t know whether I can bring that in any context with my citizenship. Personally not. You look a bit like Sailor Moon.«

Es ist bereits 17 Uhr und es ist keine Option mehr, mehr zu arbeiten, länger zu arbeiten. Auch das polyamore Purpurding im Prime Tower hat nichts dagegen; es braucht ja nicht nur unsere Erschöpfung, sondern auch unseren basaltsäulenglatten Exzess.

»I like Sailor Moon!« Ich kichere.

In der Viadukt-Markthalle kann man Austern essen, auch mein Chef kann sich da nur einzelne leisten. An der Salatbar muss man die Ruppigkeit umarmen, mit der man gefragt wird, ob man auf einer bestimmten Salatsorte bestehe. Einfach nichts mit Fenchel, bitteschön.

Ich öffne die Aufnahme-App auf dem Handy, verklicke mich. »When we are through with that, everyone will surrender …« Für fünf Sekunden hören Kasparov und ich die Stimme von Eric Adams, dem Sänger von Manowar. Etwa vor drei Monaten hatte er mir im Interview erklärt, wie sich sämtliche Würdenträger der Welt – er sprach konstant von »World Order« – Manowar unterwerfen werden. Kasparov fragt, ob ich gefragt hätte, ob Manowar Steroide schmeissen. Nein, habe ich nicht. Ich kichere und ärgere mich darüber. Ob die hier waren? »No. Saint … Sankt Jakobshalle.«

Mit unseren rechteckigen Tellern und den quadratischen Gläsern, die sehr hoch, aber mit Wasser gefüllt sind, setzen wir uns an eines der Tischchen. An jedem Stuhl baumelt ein Preisschild; es ist hexagonal. Mein Chef und ich warten auf den gut frisierten, trainierten kleinen Mann, der uns das MDMA geholt hat. Eigentlich will der freier Fotograf werden, aber es darf – sagt auch mein Chef – bezweifelt werden, ob er die richtigen Prioritäten setzt. Der Dealer-Fotograf bestellt für alle einen Rosé. Wir essen den Salat, also unsere Salatteller, und er erzählt von einer Hausabrissparty in Meilen. Mit berufstypischer Paranoia setzt er den Fokus aufs Geschäftliche: Seine Hand holt ein Säckchen aus der Sporttasche. Er gibt es meinem Chef, zittert, checkt alle Richtungen nach Beobachtern, aber prüft in einem Ästhetenmoment auch die Krümmung des Dachs und wie sich die Krümmung einpasst in die wuselige Halle. Mein Chef ist viel entspannter, da seine Hauptbeschäftigung nur marginal mit diesen Säckchen zu tun hat. Während seiner Hauptbeschäftigung ist er dafür unentspannter. Halb vom Rand des rechteckigen Tellers verdeckt, schüttet mein Chef das grosse Säckchen auf dem Tisch aus. Kleine Säckchen fallen raus. Mein Chef bastelt aus einem Fetzen Notizpapier ein grosses Päckchen für die MDMA-Säckchen. Er schenkt es mir. Sei ein Bonus. Der Fotograf/Dealer behauptet was von 94 Prozent Reinheit. Bald sprechen sie über die gemeinsame Primarschulzeit an der Goldküste; bald sind wir in der Berufsberatung. Als Fotograf helfe es, nebenbei als Dealer zu arbeiten. Man sei einfach immer der, der was dabeihabe, wenn jemand frage. Das sei der eigentliche Kern der Kreativindustrie, also eine Erfolg versprechende Beschäftigungskombo. Mein Chef nimmt gerne die Pose des Wissenden ein. Die drittgrösste Branche der Stadt, biete ich einen Conversation Starter an. Der geht unter.

Nach fünf Minuten mit Kasparov habe ich die Aufnahme-App wieder geschlossen, denn jede noch so simple Musikindustriefrage (»Does it annoy you that your fans want you to play the old stuff?«, »How do your hotel rooms look when you leave?«) beantwortet er mit Gegenfragen. Jetzt kommen die anderen, Berezina findet sich zusammen. »Do you consider yourself a trans-band?«

Ich geh die Treppe hoch und steige in den 19.34-Zug nach Basel. Im Zug bin ich froh, nicht in Zürich zu wohnen, und spreche mit einer Altertumswissenschaftlerin, die jetzt für ein Zürcher Newsportal arbeitet, und einem schlaksigen Jungsozialisten, der mal ankündigte, die Pharma so lange zu stören und zu piesacken, bis sie den Roche-Turm selbst in Brand setzt. Ich fand das noch ganz gut. Seither ist viel passiert: Der Roche-Turm wurde zu Ende gebaut und er ist zweiunddreissig und Student der Pädagogischen Hochschule. Die Anforderungen seien gar nicht so niedrig, wie es das Klischee behauptet, hat er mir erzählt. Die Altertumswissenschaftlerin klagt über die Unvereinbarkeit von Leidenschaft und Teilzeitbeschäftigung. »Nächster Halt: Basel Endbahnhof. Das Zugpersonal bittet Sie auszusteigen und verabschiedet sich von Ihnen.«

In Basel zwängt sich das Tram über den Rhein, und am Wiesenplatz muss ich aufpassen, dass ich aussteige, da die Linie 8 bis Weil am Rhein Bahnhof weiterfährt. Was waren das für Zeiten, als man angetrunken-dösend höchstens von der früheren Endstation Kleinhüningen zurückstolpern musste. Zu Hause werfe ich das Säckchen MDMA auf den WG-Tisch, der aus demselben hässlichen hellen Holz wie das Hochbett ist, aus dem ich als Kleinkind immer rausgefallen bin. Vielleicht mag ich ihn darum nicht. Aber wir sehen ihn oft auch nur verschwommen, durch Rauchschwaden hindurch, nach Pastis, Wodka mit Orangensaft oder nach dem Abendprogramm, das teuer und nicht unbedingt besser als der Abend zu Hause ist. Trotzdem: Den Tisch mag ich wirklich nicht. Aber er ist daheim, und daheim in der WG wissen wir, was wir tun. Draussen zieht es uns rein, dreidelnd, strauchelnd, tanzend, wenn wir uns auf Kontrollverlust einlassen, unseren Schliessmuskelreflexen vertrauen müssen. Das sind die guten Abende. An unguten Abenden befasst sich jeder in der WG für sich mit dem Fassungsvermögen von Gianna Michaels’ Mund oder den ethisch unbefleckten Erniedrigungspornos mit Stoya. Stoya ist Feministin.

Die Frage war ein Fehler.

An Sonntagen brunchen wir oft zusammen, ich mache Rührei mit Olivenöl und was Grünem. Und mein bester Freund macht Rührei mit Butter und Speck. Fett, so meint er, Fett sei das Geheimnis jedes Rezepts. Fett hilft auf alle Fälle gegen Kater – gefühlt, nicht dass ich biochemische Fakten kenne.

Diese Fragen reproduzieren heteronormative Klischees, sagen sie. »Call me Barbie, if you want to!« Rettungsversuch! Macht es nicht besser. Ich werde wütend. »I can … I am able to differentiate!« Sie lachen. Finde ich nicht lustig. »Your position is theory crap, machismo theory crap!« Türöffnung ist schon gewesen. Schnell! Wir müssen jetzt schnell weitermachen. Nur nicht diskutieren, abrattern. Nein, den Joint will ich nicht. Seit wann kennt ihr euch? Findet ihr es komisch, dass sich heute so wenige kritisch äussern? Was tut ihr konkret für eure Überzeugungen? Habt ihr das Gefühl, früher war Mainstreammusik besser? Verhält sich Post-Punk zu Punk wie Apokalypse zu Post-Apokalypse? Auf die letzte Frage meint Kasparov: »Does the term Barbie stand in correlation to my inside the same way apocalypse stands to my outside?«

Ich bin schon wieder acht Schlucke lang mit dem Chivas Regal alleine – zum Glück sind die weg! Die Ansage, es beginnt: »First they took Birmingham, then they took Berlin …«

»And today we take Basel! Basel!«

Ich gehe nach vorne, bin wieder froh. Ich setze mich an die Bar. »Unser Amber!« Ich trinke. Für 4800 Zeichen reicht es. No hard feelings. Ich muss kichern: Für 4800 Zeichen reicht eben alles. Dann einen Pastis. Ein bisschen Tuntenwatching. Ein bisschen Musik.

Wohin, wo wir uns bewegen und fühlen können, wo wir uns verlieren können. Den WG-Zusammenhang, Zusammenhalt, wo sich auch jeder für sich verlieren kann. An diesem Abend wollen wir in den Prachtpalast zum Tuntenball. Alle von uns haben entweder eine Partnerin oder sie haben für solche Anlässe eh ein Kleid von Mami an die Zimmerwand genagelt (diese alten Kleider sehen aus wie Wandteppiche, und die paar Löcher von den Nägeln stören nicht in der Bad-Taste-Sphäre). Soll ich das MDMA mitnehmen? Ja? Nein, meint mein bester Freund. Der Typ hat aber gesagt, es habe 94 Prozent Reinheit.

Die Schlange vor dem Prachtpalast ist 150 Meter lang. Viele türkise Perücken.

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