Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: http://www.keltermedia.de
E-mail: info@kelter.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-101-9
Ein seltsames Gefühl war das, wieder durch das Haus zu gehen, in dem sie noch alles so vorfand, wie sie es vor einem halben Jahr verlassen hatte.
War es nicht, als hätte es auf sie gewartet?
So viel Glück, so viel Leid umschloß es.
Was war mehr gewesen?
Es hielt sich die Waage.
Das Glück war versunken. Auch das Leid?
Andrea stand jetzt im Kinderzimmer. Sie sah die Wiege, den Wickeltisch, all die vielen kleinen Dinge, die für ihr Baby waren. Mit einem wehen Ausdruck schüttelte sie den Kopf. Nein, nicht auch das Leid.
Aber es hatte sich verwandelt.
Da war zuerst der wilde, wahnsinnige Schmerz gewesen, daß sie ihr kleines Mädchen Jessica nur vier Monate – vier Monate nur! – in den Armen halten durfte, bevor es ihr im Sekundentod entrissen worden war.
Dann die völlige Apathie, die Abkehr vom Leben, als sei sie mit ihrem Liebling gestorben.
Lange, lange hatte das gewährt, weit über das Trauerjahr hinaus. Auch Rolf hatte ihr nicht helfen können. Nicht die Eltern, die Schwester, so gut sie es auch mit ihr meinen mochten.
Bis ihr Mann so nicht mehr mit ihr leben wollte. Sich einer anderen zugewandt hatte, die ihm wieder Lebensfreude geben konnte.
Das war die Krise gewesen. Das hatte sie herausgeschleudert aus der Depression, der Schwärze der Nacht, die sie mehr und mehr zu umfangen drohte. Sie war aufgewacht. Und sie war fortgegangen, um ihr vor der Ehe begonnenes Medizinstudium fortzusetzen.
Ein Ziel vor Augen zu haben, das war es, was ihr geholfen hatte, die Trauer um das Verlorene zu verklären in stille Wehmut. Die lag nun auf dem Grund ihres Herzens. Nachhängen konnte sie ihr nicht, weil der Alltag nun wieder Ansprüche an sie stellte.
Behutsam zog Andrea die Tür hinter sich zu.
Sie ging ins Schlafzimmer, um die Kleidungsstücke aus dem Schrank zu nehmen, derentwegen sie gekommen war. Sie war im Herbst gegangen, jetzt wurde es wieder Frühling.
Ihr gemeinsames Schlafzimmer, in ihrem Haus, das Vater dem jungen Paar zur Hochzeit geschenkt hatte. Ein hübscher Bungalow, von Bäumen und Sträuchern umgeben, ruhig, in einer guten Gegend gelegen.
Nein, nichts war verändert. Kein Hauch deutete darauf hin, daß Rolf jemals die andere mit ins Haus gebracht hatte. Dafür hatte er zuviel Stilgefühl. Mit ruhigen Bewegungen legte Andrea ein Teil nach dem anderen in den mitgebrachten Koffer.
Sie zuckte auch nicht zusammen, ihr Herz tat keinen rascheren Schlag, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Das konnte nur Rolf sein. Sie hatte damit gerechnet, daß sie sich sehen würden. Warum sollten sie sich auch nicht sehen? Es war keine Feindseligkeit zwischen ihnen. Die großen Gefühle waren erloschen.
Es dauerte eine Weile, bis er im Haus war. Was tat er denn noch?
Andrea wußte nicht, daß Rolf sich erst hatte fassen müssen, als er ihr Auto am Weg stehen sah. Mit der anderen, der Heidelberger Nummer.
Als die heiße Welle verebbt war, die ihn so unvermittelt gepackt hatte, trat Rolf Hardenberg seiner Frau beherrscht entgegen.
»Guten Tag, Andrea. Hat es dich doch wieder einmal nach Hause gezogen?«
»Guten Tag, Rolf«, grüßte sie mit freundlicher Gelassenheit zurück. »Ich will mir nur meine Frühjahrsgarderobe holen. Es wird ja nun doch langsam wärmer.«
Sie überlegte, ob sie das elegante helle Leinenkostüm mit einpacken sollte. Sie hatte es lange nicht mehr getragen. Eigentlich brauchte sie es in Heidelberg auch nicht. Sie war dort eine von vielen Studentinnen und nichts weiter.
Rolf räusperte sich. »Willst du nicht länger bleiben?«
Andrea schüttelte den Kopf. »Ich fahre heute noch zurück. Ich habe viel zu arbeiten, weißt du. Es gab viel aufzuholen, und es folgt ein Examen dem anderen. Ich möchte keine Zeit verlieren.«
Rolf nickte zögernd. Sein Blick lag auf ihr. Sie trug das Haar jetzt kürzer. Braun und seidigglatt, bedeckte es kaum ihre Ohren. Ihr feines Gesicht hatte sich wieder zu einem sanften Oval gerundet. Die durchsichtige Blässe, der bittere Leidenszug war daraus verschwunden.
Andrea. Der Mann schluckte hart. Die Kehle war ihm eng geworden.
»Aber wir werden doch wohl eine Stunde für uns haben, ich meine, um zu reden«, sagte er stockend.
»Ja, sicher, sobald ich hier fertig bin.«
»Dann werde ich uns jetzt einen Tee bereiten, und eine Kleinigkeit zu essen dazu. Mal sehen, was sich im Kühlschrank findet. – Oder wollen wir essen gehen?«
»Nicht so gern«, antwortete Andrea. »Ich möchte so um acht Uhr herum fahren, dann bin ich gegen halb elf, elf zu Hause. Morgen früh habe ich eine Vorlesung, da will ich frisch sein.«
Sie konnte sich an den gedeckten Tisch setzen. Rolf hatte Schnittchen gemacht, nett angerichtet auf einer Platte, mit geviertelten Tomaten dazwischen. Das hatte er so manches Mal gemacht, sie sogar gefüttert in ihrer schlimmsten Zeit, wenn sie nichts essen wollte. Daran mußte Andrea jetzt denken, als ihre Blicke sich begegneten.
»Man sieht es dir nicht an, daß du dich so intensiv einem harten Studium widmest«, bemerkte Rolf, während er den Tee einschenkte. »Ich finde, du siehst gut aus.«
»Danke. Es kommt wohl daher, daß ich mit Eifer dabei bin und auch einen gewissen Erfolg sehe. Und außerdem«, Andrea lächelte ein wenig, »paßt meine Freundin Katarina auf mich auf. Sie verwöhnt mich nach Strich und Faden.«
Sie erzählte davon, wie sie zusammenwohnten, die junge Ärztin und sie, die nach längerer Pause ihr Studium wieder aufgenommen hatte, das sie einst an der Universität gemeinsam begonnen hatten.
»Dann bist du nicht allein«, sagte Rolf. »Sei froh darum.« Mit erstaunten Augen sah Andrea von ihrem Teller auf. »Du bist doch auch nicht allein.«
»Die meiste Zeit doch«, sagte Rolf langsam. »Wir sehen uns nur hin und wieder an den Wochenenden, leider.«
»Wieso das?« Andreas Lider zuckten. »Ich denke, deine – deine Freundin arbeitet auch bei der ARIANA-Werbeagentur? Da seht ihr euch doch täglich.«
»Nicht mehr.« Rolf schüttelte den Kopf. »Petra ist zurück nach Düsseldorf gegangen. Sie hat dort eine Stellung als freie Mitarbeiterin bei der Mathissen-Werbung angenommen. Vorübergehend natürlich nur.«
»Aber warum denn überhaupt?« wunderte sich Andrea. Sie hatte doch geglaubt, daß nach ihrem Fortgang die beiden ihrer Liebe leben würden. Rolf brauchte sie doch, diese Petra. Er hatte es ihr damals versichert. Sie brachte den Sonnenschein in sein Leben.
Rolf legte Messer und Gabel hin, er fuhr sich mit der Hand über das Haar.
»Es war kein gutes Klima mehr in der Firma, nachdem unsere Beziehung offenbar geworden war«, erklärte er. »Sie haben Petra verteufelt und mich dazu. Aber ich bin härter im Nehmen. Inzwischen ist auch mehr oder weniger Gras darüber gewachsen. Nur Petra hielt es nicht mehr aus. Das ganze Mitgefühl der Kollegen galt dir, Andrea, der verlassenen Frau.«
Andrea hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich bin doch freiwillig gegangen. Mir ging es vorher schlechter als jetzt. Ich mußte wieder zu mir selbst finden. Daß es nun auf diese Weise geschah…« Sie sah auf ihren Mann, der es vor dem Gesetz immer noch war. »Unsere Ehe war ja nur noch ein tristes Nebeneinander«, fügte sie leiser hinzu.
»Sollte ich das vor versammelter Mannschaft erklären?« warf Rolf bitter hin. »Viele Menschen sind nun einmal so, daß sie glauben, ihre Nase in die Privatangelegenheiten anderer stecken und darüber urteilen zu können.« Er machte eine Handbewegung, als wollte er dieses Thema beiseite wischen.
»Es tut mir leid«, sagte Andrea, und sie meinte es wirklich so.
»Dazu kommt noch, daß sich die Scheidungsklagen bei den Anwälten häufen«, fuhr Rolf fort, »und daß es nicht abzusehen ist, wann unsere Ehe geschieden sein wird. Seit einem Vierteljahr liegt unser Antrag nun vor. Du wirst doch auch froh sein, wenn wir endlich klare Verhältnisse haben.«
»Ach, ich«, Andrea zuckte die Achseln, »mir ist das eigentlich nicht so furchtbar wichtig, ob unsere Trennung nun früher oder später durch eine Unterschrift besiegelt wird. Bei dir ist das natürlich etwas anderes. Du willst ja so bald wie möglich wieder heiraten.«
»Ja! Dies ist kein Zustand, immer die Fahrerei hin und her. Es sind doch immerhin einige hundert Kilometer hinauf bis nach Düsseldorf.« Mit umdüsterter Miene sah er vor sich hin.
»Vielleicht geht es schneller, als du denkst«, sagte Andrea sanft. Da hatte er nun seine Sorgen, die sie nicht mehr hatte. Sie sah auf die Uhr, und sie stand auf. »Ich will nun los. Bist du so nett und trägst mir den Koffer zum Wagen, Rolf? Er ist ziemlich schwer geworden, ich weiß nicht, wovon. Aber das haben Koffer so an sich.« Sie sprach bemüht mit leichter Stimme. Auch Rolf erhob sich. Sie standen sich gegenüber.
»Warst du denn schon bei deinen Eltern?« fragte Rolf.
»Heute mittag«, nickte Andrea. »Wie könnte ich in der Stadt sein, ohne sie zu sehen.«
»Geht es ihnen gut?«
Andrea hatte den Eindruck, daß Rolf sie noch nicht von sich lassen wollte. »Ziemlich gut, ja«, antwortete sie. »Vater hat viel zu tun, zum Glück, denn das kann heutzutage nicht jeder mittlere Bauunternehmer mehr von sich sagen. Corinna hilft ihm im Geschäft, wie früher schon. Gaby wird ja nun schon ein großes Mädchen, und so verständig.«
Ihre Schwester, ihre Nichte. Rolf hatte immer zur Familie gehört. Jetzt hatten ihn die Umstände ins Abseits gestellt.
Andrea wandte sich ab. Da spürte sie Rolfs Hand an ihrem Arm, in einer leichten Berührung. »Warst du auch am Grab?« fragte er. »Hast du gesehen, daß ich es liebevoll gepflegt habe?«
»Ja, Rolf.« Sie drehte ihm ihr Gesicht wieder zu, ihre Augen hatten sich verdunkelt. »Ich habe Jessica weiße Rosen hingelegt.«
»Ich werde darauf achten, daß sie lange schön bleiben.«
Sekundenlang sahen sie sich an, schweigend, mit verhangenem Blick. Dieses EINE – dieses Kind, das sie verloren hatten, es würde sie für immer verbinden, so weit ihre Wege sie auch auseinander führen mochten.
Sie blieben auch stumm, als sie hinausgingen. Rolf verstaute den Koffer im Wagen. Dann gaben sie sich die Hand.
»Alles Gute, Andrea. Paß auf dich auf.«
»Adieu, Rolf.«
Sie stieg ein. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, nicht auf das Haus, nicht auf den Mann, fuhr Andrea in den sinkenden Abend hinein.
Wann würde er sie wiedersehen? fragte sich Rolf, der regungslos stand und dem Wagen nachsah. Beim Scheidungstermin, wahrscheinlich.
Aber war es denn wichtig?
Um Andrea mußte er nicht mehr fürchten. Er brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben. Es hatte wohl alles so kommen müssen.
Er ging ins Haus zurück. In dieses stille Haus, das seine Seele verloren hatte. Darin lebte er wie ein Einzelgänger, was seiner Natur widersprach. Er brauchte die Nähe und Wärme eines geliebten Menschen.
Nein, er fühlte sich nicht mehr wohl darin.
Rolf dachte an Petra, die für die Zeit des Übergangs wieder bei ihren Eltern in Düsseldorf wohnte. Sie fehlte ihm so sehr, mit ihrem Lachen, ihrer Fröhlichkeit.
Darüber war ein Schatten gefallen, seit man ihr im Büro die kalte Schulter gezeigt hatte. Schweren Herzens hatte er sie gehen lassen. Sie sollte doch nicht unglücklich werden, weil sie ihn liebte. Ihr Lachen nicht verlieren, diese sonnige Ausstrahlung, die ihn von Anbeginn bezaubert hatte.
Diese knappen Wochenenden, die sie nun miteinander verbrachten, wie Brosamen erschienen, die seinen Hunger nach ihrer Zärtlichkeit und Hingabe nicht zu stillen vermochten.
Er hatte ihre Familie kennengelernt. Dort kam man dem – noch verheirateten Freund der Tochter mit kühler Distanziertheit entgegen. Einzig ihr Bruder Michael, der Petra in seinem heiteren Naturell sehr ähnlich und von Kindheit an ihr Vertrauter war, gab sich locker und kameradschaftlich.
»Du mußt das verstehen, Rolf«, sagte Michael, »wir sind eine stockkonservative Familie. Unser Vater ist Oberlehrer am St. Anna-Gymnasium. Petra ist seine behütete Jüngste. Er hatte sich ihren Weg anders gedacht.«
»Aber was kann er gegen mich haben?« erwiderte Rolf. »Ich habe einen guten Beruf. Von meiner Frau lebe ich getrennt und in Scheidung. Daß mein Weg nicht so gerade verlaufen ist, wie ich es mir gewünscht hätte, kann man mir nicht zum Vorwurf machen.«
Michael zuckte nur die Achseln. »Sie haben eben ihre Prinzipien«, warf er hin. »Nimm’s nicht tragisch. Petra liebt dich und hält zu dir.«
Aber Petra war sprunghaft geworden. Sie begrüßte ihn voller Überschwang, wenn er zu ihr kam. Sie hing an seinem Hals, und ihr roter Mund war eine einzige Verlockung.
Anders war es, wenn er allzubald wieder fort mußte. Dann machte sie es ihm schwer. Sie war unvernünftig wie ein schmollendes Kind.
Acht Jahre Altersunterschied, überlegte der einsame Mann an diesem Abend, als ihm die letzte Szene wieder in den Sinn kam. Das war doch nicht viel zwischen Liebenden, oder?
Und manchmal kam es ihm dennoch viel vor, weil er sich älter fühlte, als er es mit seinen einunddreißig Jahren war.
Rolf bereute es jetzt, daß es zu diesem Streit gekommen war. Ach, Streit war eigentlich zuviel gesagt. Eine Reiberei nur war es gewesen, aus keinem anderen Grunde als dem, daß dieser neuerliche Abschied sie zerriß.