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CHRISTOPH RIBBAT

DEUTSCHLAND FÜR EINE SAISON

DIE WAHRE GESCHICHTE
DES WILBERT OLINDE JR.

SUHRKAMP

INHALT

1. Der graue Turm

2. Danach zum Altdeutschen

3. Ohne d und mit d

4. Sarahs Stadt

5. Für Helmut Kohl

6. Beste Persönlichkeit

7. Los Angeles, fast perfekt

8. Einfach daran glauben

9. Ein Coach auf Reisen

10. Der Wachmann

 

Gespräche

Anmerkungen

Register

1. DER GRAUE TURM

Das Kind kommt. Sarah spürt es. Sie müssen los, weg aus Baton Rouge, Richtung Süden, nach New Orleans. Das Krankenhaus ist 125 Kilometer entfernt. Die Wehen kommen und gehen. Sarah ist achtzehn Jahre alt. Eines Tages wird sie Schuldirektorin in Südkalifornien sein. Eines Tages wird sie drei Enkelkinder in Norddeutschland haben.

Seit sie ein kleines Mädchen war, hat sie im Lebensmittelladen ihrer Eltern mitgearbeitet, in der Mississippi Street in Baton Rouge. Sie hat mit sechzehn die High School abgeschlossen, mit exzellenten Noten, hat ein Stipendium bekommen und zwei Semester studiert. Dann hat sie geheiratet. Und ist schwanger geworden. Oder umgekehrt. Sie studiert nun nicht mehr. Ihr Mann sitzt mit ihr im Auto. Wilbert Olinde heißt er, er ist genau vier Jahre und acht Monate älter als sie und ein großer Geschichtenerzähler. Er hat ihr gesagt, dass er ihr den Mond schenken würde, wenn es ihn denn irgendwo zu kaufen gäbe. Seinen Nachnamen spricht man Oläähnd aus. Es gibt auch andere Olindes, deren Namen man Oläähn ausspricht, ohne d. Seine Großmutter heißt Aguillard, was manche A-gi-jar und manche Ä-gi-lard aussprechen. Sarah hieß vor der Heirat Jackson. Das spricht man nur auf eine Art aus.

Sie fahren an Prairieville vorbei, an Dutch Town, Gonzalez, Britanny. Parallel zum Mississippi. Flaches Land. Es ist Juli, 1955, die Hitze flirrt. Auf den ehemaligen Plantagen stehen noch die weißen Villen der Sklavenhalter. Im Jahr 1795 steckten an diesem Abschnitt des Mississippi dreiundzwanzig Menschenköpfe auf gut sichtbaren Pfählen. Die weiße Obrigkeit hatte die Teilnehmer eines geplanten Sklavenaufstands erst gehängt, dann enthauptet, dann die Köpfe ausgestellt, um ein Zeichen zu setzen für jene, die Ähnliches im Sinn hatten.1

Irgendwann kommt lange kein Ort mehr. Die Straße führt durch die Sümpfe. Manche Bäume leben noch. Andere stehen tot im Schlick. Links zieht sich der Lake Pontchartrain dahin, rechts erstreckt sich der Sumpf. Hier ist kein Haus, nirgendwo. Wenn jetzt etwas mit Sarah, mit dem Baby passieren würde, wären sie quasi in der Wildnis, Hilfe unerreichbar, obwohl New Orleans nur noch wenige Meilen entfernt ist.

Auch in Baton Rouge gibt es Krankenhäuser. Aber die können sie sich nicht leisten. Sie beide waren Hausgeburten. Das wollen sie nicht für ihr Kind. Das steht für andere Zeiten. In New Orleans, mitten in der Stadt, befindet sich das Charity Hospital. Es ist eines der größten Krankenhäuser der Vereinigten Staaten. Gebaut wurde es in den dreißiger Jahren, zu Zeiten Huey Longs, des populistischen Gouverneurs von Louisiana. Long war korrupt und besessen von der Macht, aber ein Kämpfer für die kleinen Leute. »Every man a king«, das war sein Slogan. Im Charity Hospital werden Arme umsonst versorgt.2 Und arm sind sie, Sarah und Wilbert. So viel ist sicher.

 

Vor zehn Monaten erst ist Wilbert nach Louisiana zurückgekommen, nach eineinhalb Jahren Dienstzeit in Korea. Den Krieg hat er noch miterlebt, zahlreiche Gefechte, dann den Waffenstillstand. Seine Division hatte das Motto »Can do«. Sie sollten die Jungs sein, die alles erledigt bekommen. Er hat es bis zum Sergeant gebracht. Sie haben ihm eine erneute Beförderung angeboten, wenn er sich weiter verpflichtet. Aber er wollte nur zurück nach Louisiana. »Can do« war nicht länger seine Devise. Die Befehle gingen ihm gegen den Strich. Er hat die Militärflugzeuge gehasst, wenn sie ihn durchschüttelten. Nie wieder, so schwört er sich, wird er mit einem Flugzeug vom Boden abheben. Dann die Gänge durch vermintes Gelände. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, voller Angst. Nie zu wissen, was beim nächsten Schritt passieren würde. Weitergehen zu müssen, nur weil jemand anderes es befohlen hat.

Da, wo sie in Baton Rouge wohnen, ist ein leeres Grundstück, zwischen der 32. und der 33. Straße. Alle Passanten nehmen die Abkürzung über die Brache, einen Trampelpfad, weil das zeitsparend ist und praktisch. Wilbert erinnert das Stück Land an die Minenfelder in Korea. Er geht immer den Umweg außen herum.

 

Dann liegt der Sumpf hinter ihnen. Sie fahren am Flughafen von New Orleans vorbei, am westlichen Rand der Stadt. Er ist nach dem Kunstpiloten John Moisant benannt, der vor fünfundvierzig Jahren genau hier bei einem Flugzeugabsturz starb. In sechsundvierzig Jahren wird er in »Louis Armstrong International Airport« umgetauft werden. Wilbert und Sarah fahren durch die Vororte Kenner und Metairie in die Innenstadt. Dort sehen sie den grauen Turm: »Big Charity«, wie man das Krankenhaus hier nennt. Es sieht wie ein New Yorker Wolkenkratzer aus, zwanzig Stockwerke, Kalkstein aus Alabama, über dem Eingang ein dekoratives Metallrelief des gefeierten Künstlers Enrique Alférez.3

Im Innern der Klinik suchen Sarah und Wilbert die Abteilung, die für sie zuständig ist. Die Geburtsabteilung, logischerweise, aber sie müssen auch die richtige der beiden Geburtsabteilungen finden, nicht die für weiße Frauen, sondern die für schwarze. In diesem eindrucksvollen Art-déco-Gebäude werden die Patienten sorgfältig getrennt. Die Blutkonserven gibt es in zwei Versionen: Blut für »colored« und Blut für »white«. Alle Telefone sind schwarz. Aber es gibt Telefone für Schwarze und Telefone für Weiße.4 Die schwarze Geburtsabteilung ist überfüllt. Sarah wird lange warten müssen.

Wilbert lässt Sarah allein, macht sich gleich wieder auf den Weg nach Baton Rouge. Er hat zwei Jobs. Anders könnten sie nicht überleben. Freinehmen kann er sich nicht. Von einem der schwarzen Telefone bekommt er den Anruf, dass alles gutgegangen ist. Er fährt wieder nach New Orleans. Ihr Baby ist sehr groß, sehr mager und sehr hungrig. Sie sind nun eine Familie. Und nennen ihr Kind Cecil Jerome.

Dann aber, zurück in Baton Rouge, scheint es, als hätten sie etwas falsch gemacht. Alle kommen, um sich Cecil Jerome anzuschauen: Sarahs Eltern und ihre Geschwister – zumindest die, die noch nicht nach Kalifornien gegangen sind, weil sie es in Louisiana nicht mehr aushielten. Es kommt auch der Großvater aus Torbert, dem kleinen Ort, aus dem Wilbert stammt, auf der anderen Seite des Mississippi, in Pointe Coupée, in der Nähe des False River, auf dem Weg nach Opelousas. Alle sagen das Gleiche. Cecil Jerome? Passt irgendwie nicht. Das Baby sieht doch genauso aus wie Wilbert. Wie aus dem Gesicht geschnitten.

Also wird Cecil Jerome umbenannt, in Wilbert Louis Jr. Und aus dem vierundzwanzigjährigen Wilbert Olinde wird Wilbert Olinde Sr.