logo-edition.jpg
titelei.jpg
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel Alleingänge, keine Spaziergänge
2. Kapitel Ein bisschen mehr Pragmatismus, bitte!
3. Kapitel Wenn die rettende Gewohnheit fehlt
4. Kapitel »Einen Voltaire verhaftet man nicht!«
5. Kapitel »Wie geht es unserer Chefin heute?«
6. Kapitel Der Meister spricht zu seinen Schülern
7. Kapitel »Bitte etwas mehr historische Bescheidenheit!«
8. Kapitel Der Stärkere hat nicht immer Recht
9. Kapitel Gerade noch mal gutgegangen
10. Kapitel Nicht so nüchtern, nicht so schüchtern
Dank
Anhang
»Die Politik muss radikaler denken«
Mehr Freundschaft wagen
Über den Autor
Impressum

3. Kapitel
Wenn die rettende Gewohnheit fehlt

Die Kanzlerin langweilt sich im Élysée-Palast

Darf man sich als Gast im Élysée-Palast langweilen? Darf man dort so tun, als hätte man stets etwas Wichtigeres zu tun? Wenn die Antwort Nein lautet, hat sich die deutsche Bundeskanzlerin in den letzten Jahren auf Besuch in Paris alles andere als passend verhalten.

In den Mitterrand-Jahren galt es für deutsche Politiker und Journalisten als Ehre, in den Élysée-Palast eingeladen zu werden. Auch als Journalist zog man sich anständig an, nahm überpünktlich die Metro und reihte sich brav in die Besucherschlange vor dem höchsten Amt der französischen Republik ein. Mit einem Glas Champagner in der Hand erlebte ich 1988 im Élysée-Palast die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, den Charles de Gaulle und Konrad Adenauer dort im Januar 1963 gemeinsam unterzeichnet hatten. Es schien damals immer noch keine Selbstverständlichkeit, als Deutscher so formvollendet im Zentrum der französischen Politik empfangen zu werden.

Nach 24 Jahren als Auslandskorrespondent in Japan, China und Indien kam ich 2013 zurück an meinen alten Wirkungsort Paris. Und wie erstaunt war ich, als ich erneut den Pressedienst im Élysée-Palast kontaktierte. Fast schon freundschaftlich, in der Tat: auf Augenhöhe verlief der Empfang. Ich trank mit der Dame, die jahrelang François Hollandes internationale Pressearbeit leitete, viele Tassen Kaffee. Wir sprachen über unsere Kinder und Kindergärten, über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und hätten dabei fast vergessen, auch noch ein paar aktuelle politische Themen zu erörtern. Das war sehr angenehm, aber konnte auch den eigenen kritischen Blick vernebeln. Meine Präsenz im Élysée-Palast schien erwünscht und selbstverständlich zu sein. So blieb es auch in den darauffolgenden Jahren. Immer wieder, meist beim Warten auf eine verspätete Pressekonferenz, hatte ich Gelegenheit, mein Familiengespräch mit der netten Pressedame des Präsidenten fortzuführen. Das wäre unter Mitterrand in den achtziger Jahren noch unvorstellbar gewesen. Zwischen dem Pressestab des Präsidenten und den deutschen Auslandskorrespondenten herrschte damals eine viel größere Distanz. Es war eine seltene Ehre, wenn der außenpolitische Sprecher Mitterrands, damals Hubert Védrine, der später lange Jahre als Außenminister diente, für den deutschen Korrespondenten den Telefonhörer im Élysée-Palast abnahm. 30 Jahre später, bei Hollande, war der Kontakt viel leichter, was ihm später auch vorgeworfen wurde: Er hätte zu viel mit Journalisten geredet. Er hätte sogar Staatsgeheimnisse ausgeplaudert, wie ihm die beiden Investigativ-Reporter Gérard Davet und Fabrice Lhomme von der Tageszeitung Le Monde in ihrem Buch Un président ne devrait pas dire ça (Ein Präsident sollte das nicht sagen) vorwarfen. Das sah ich als Journalist natürlich anders. Wohl aber spürte ich eine gewisse Routine, wenn nicht gar Langeweile, auf dem Weg ins Allerheiligste der französischen Politik aufkommen. Ich wehrte mich dagegen, indem ich im Palast meine eigenen Gewohnheiten pflegte: Vor den Begegnungen zwischen Präsident und Kanzlerin besuchte ich die Agenturjournalisten des Palastes, die immer dort arbeiten. Sie haben im Palast ihren eigenen, in den alten Gemäuern sehr beengten Arbeitsplatz – für deutsche Hauptstadtjournalisten kaum vorstellbare Arbeitsbedingungen. Ich trank dann mit den französischen Kollegen einen Kaffee aus dem Automaten. Das war stets ebenso nett wie informativ. Ich stellte mir vor, dass sie alles über das Palastleben wissen müssten (was nicht stimmte) und darüber wunderbare Hof-Geschichten schreiben könnten, die ich mir noch abends beim Einschlafen wie in alten Büchern ausmalte.

So eine rettende Gewohnheit muss der Bundeskanzlerin über die Jahre bei ihren vielen Besuchen im Élysée-Palast gefehlt haben. Jeder sensible Beobachter der europäischen Szene, der ihre Auftritte hier beobachtete, litt mit ihr. Sie litt spürbar. Sie lachte nie. Sie quälte sich ein »François« über die Lippen. Sie wirkte immer so wie im Januar 2017, als sie in München mit einem unwirschen Horst Seehofer an ihrer Seite ihre erneute Kanzlerkandidatur verkündete. Merkel-Kenner mochten einwenden, das sei ihr Naturell: So ist sie eben. Doch protestantisch verklemmter ging es aus französischer Sicht nicht mehr.

Das Publikum war enttäuscht. Meine französischen Kollegen auf den vielen gemeinsamen Pressekonferenzen ihres Präsidenten mit der deutschen Kanzlerin erwarteten die berühmte Angela Merkel, die Weltpolitikerin, die vielleicht wichtigste Stimme Europas. Was sie bekamen, war Bürokratendeutsch, bewusstes Unterstatement und den Verweis auf den nächsten, viel wichtiger erscheinenden Termin. Ganz gleich, ob es sich um ein Treffen europäischer Ressortminister, den nächsten EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs oder eine Vier-Augen-Unterredung mit den diplomatischen Sorgenkindern der Welt handelte.

Das nämlich war besonders auffallend. Wann immer die Bundeskanzlerin in den letzten Jahren im Élysée-Palast war, hatte sie gleichzeitig immer etwas Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel mit Putin, Erdoğan oder Seehofer reden. Das war schon daran abzulesen, dass auch die deutschen Kollegen nur sehr selten über den Inhalt der deutsch-französischen Gespräche mit Hollande berichteten. In den französischen Medien aber war die Reaktion noch extremer: Merkels Besuche im Élysée-Palast blieben über die Jahre fast durchweg ohne öffentliches Echo in Frankreich. Merkels schlechte Laune war keine Nachricht. Zumal Hollande neben ihr keine bessere Figur machte.

Dabei sagte die Kanzlerin auch viele wichtige, richtige Dinge in Paris. Nur die Wirkung ihrer Worte schien ihr gleichgültig. »Wir brauchen ein Mehr an Europa, ein Europa, das funktioniert, das sich gegenseitig hilft«, erklärte sie nach einem Arbeitstreffen mit Hollande im Élysée-Palast vor dessen erster Teilnahme an einem EU-Gipfel am 27. Juni 2012. Man hätte sie beim Wort nehmen sollen. Denn nur zwei Tage später ließ sie den neu gewählten französischen Präsidenten in jeder Hinsicht auflaufen. Hollande zeigte freilich gute Miene und antwortete am nächsten Morgen auf die Frage eines Journalisten zu seiner Begegnung mit Merkel: »Meine persönliche Meinung ist: Man kann nicht rufen: ›Ich habe gewonnen, oder ich habe verloren.‹ Vielmehr stand Europa auf dem Spiel, und Europa hat gewonnen. Die Eurozone wurde gestärkt, und das war das einzige Ziel.« Frankreich und Deutschland hätten auch in der Nacht noch an einem Strang gezogen, befand Hollande.

Die Franzosen hatten Hollande 2012 mit einem linken Parteiprogramm in den Élysée-Palast geschickt. Dieser hatte seinen Wählern versprochen, den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt neu zu verhandeln. Das aber machte die Kanzlerin nicht mit. Und Hollande knickte ein.

Sein damals wichtigster politischer Berater im Élysée-Palast, Aquilino Morelle, der schon Redenschreiber des sozialistischen Premierministers Lionel Jospin gewesen war, hat – nach seinem Bruch mit Hollande im April 2014 – im Januar 2017 ein Buch veröffentlicht, in dem er sehr kritisch über diese erste Phase der Amtszeit Hollandes berichtet. »Er [Hollande] wollte nicht der Führer des neuen Europa werden. Schon auf dem Europäischen Gipfel am 29. Juni 2012 hat er alle Hoffnung auf Veränderung begraben, indem er sich der Sparpolitik ergab und ohne ernsthafte Neuverhandlungen den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt akzeptierte, den Merkel durchgesetzt und Sarkozy unterschrieben hatte. Diese erste Selbstaufgabe zog alle anderen nach sich«, konstatiert Morelle.

Merkels Durchsetzungsvermögen gegenüber dem neuen sozialistischen Präsidenten Frankreichs wurde damals in Deutschland vielerorts kritiklos gutgeheißen. Hollande galt für die meisten deutschen Kommentatoren als Traditionslinker, der in der Wirklichkeit noch nicht angekommen war. Also haut den Sozialisten! In der Welt konnte man am 30. Juli 2012 lesen: »Hollande kommt aus einer anderen Welt. Auf der Eliteschule ENA hat er gelernt, an den Staat zu glauben und an die Weisheit seiner Mandarine.« Dass Hollande, bevor er in den Élysée-Palast einzog, zwar knapp elf Jahre lang Chef der Sozialistischen Partei, aber »weder Minister noch Dirigent der Wirtschaft« gewesen war, habe ihm das »Rendezvous mit der Realität erspart«. Wenige Wochen später, vor einem Besuch Hollandes in Berlin aus Anlass neuer Verhandlungen mit Griechenland, kommentierte dieselbe Zeitung: »Der Franzose will Merkel überzeugen, weiter zu zahlen, weil er meint, alles andere mache sich für einen neu gewählten sozialistischen Präsidenten nicht gut.«

Nur wenige in Deutschland gewahrten dabei den Schaden, den die französische Demokratie und Europa mit Hollandes frühem Glaubwürdigkeitsverlust nach seiner Wahl nahmen. Natürlich hatte der ihn zuallererst selbst zu verantworten. Doch musste die deutsche Seite dazu beitragen? Wenige konnten sich vorstellen, wie nur einige Jahre später Frankreichs Demokratie in Gefahr geriet. So weit, dass die ganze europäische Idee gefährdet zu sein schien.

Aus heutiger Sicht aber wirkt Merkels Vorgehen wie ein politischer Kardinalfehler. Jeder Europäer weiß, dass die französischen Präsidentschaftswahlen eine der wichtigsten demokratischen Grundübungen für den ganzen Kontinent darstellen. Jeder, der Frankreich ein bisschen kennt, weiß, wie sehr sich die Franzosen mit dem Ergebnis dieser Wahlen über alle politischen Grenzen hinweg identifizieren. Sie komme noch immer einer Art Königswahl gleich, sagte ein gewisser Emmanuel Macron, als er im Sommer 2014 gerade seinen Beraterposten an der Seite Hollandes im Élysée-Palast aufgegeben hatte, an einen neuen Job als Professor dachte und noch nicht wusste, dass ihn sein Präsident bald zum Wirtschaftsminister bestellen würde.

Genau diese Königswahl aber hatte Merkel auf dem EU-Gipfel im Juni 2012 ignoriert. Keine Neuverhandlung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes! Damit setzte sie sich mit dem konservativen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso an ihrer Seite durch. Damit wurde Hollande für machtlos erklärt und Merkel die unangefochten mächtigste Person Europas. Solange auf französischer Seite noch Hollande-Vorgänger Nicolas Sarkozy regierte, war das nicht ganz so eindeutig. Sarkozy stammt wie Merkel aus einer konservativen Partei, ihre europäischen Forderungen glichen sich. Dadurch ließ sich weniger deutlich unterscheiden, wer von beiden wen dominierte. Zumal Sarkozy durch seinen lauten Politikstil der leiser auftretenden Merkel gerne die Show stahl. Im Fall Hollande aber war das nun ausgeschlossen. Der Kanzlerin gelang es, ihn von Beginn seiner Präsidentschaft an als nicht ebenbürtig erscheinen zu lassen.

Bald nahmen auch die Franzosen ihren Präsidenten nicht mehr ernst. Die rechtsextreme Marine Le Pen begann ihren Aufstieg in den Umfragen. Wieder waren es vor allem die innenpolitischen und persönlichen Fehltritte Hollandes, die ihn sein Ansehen kosteten. Seine unvergessene Motorrollerfahrt zur Freundin durch Paris schadete ihm mehr als alles andere. Dennoch blieb seine schwache Figur gegenüber Merkel ein Dauerthema in der französischen Öffentlichkeit. Und die Kanzlerin tat nichts, dass sich daran etwas änderte.

Für die französischen Beamten, die mit Hollande täglich arbeiteten, bleibt ihr Auftritt im Élysée-Palast im Mai 2013 als größtmögliche Demütigung in Erinnerung: »Vor zehn Jahren war Deutschland der kranke Mann Europas«, sagte sie dort – und jeder französische Zuhörer verstand sofort, dass nun aus Sicht der Deutschen Frankreich der kranke Mann Europas sei. Merkel verwies dann auf die verbesserte Lage in Deutschland, die »nicht vom Himmel gefallen sei, sondern auch mit Arbeitsmarktreformen zu tun habe«, und setzte gönnerhaft hinzu: »Frankreich ist jetzt ja auch auf diesem Wege.«

So von oben herab hatte bis dahin noch kein deutscher Bundeskanzler gewagt, im Palast des französischen Präsidenten über Frankreich zu sprechen. Ihr Bild vom »kranken Mann Europas« war einem mehr als zehn Jahre alten Titelblatt des britischen Economist geschuldet, einer Zeitschrift mit wirtschaftsliberaler Grundhaltung; dieses Bild hielt sie nun ausgerechnet dem sozialistischen Präsidenten vor. So war es auch eine ideologische Demütigung.

Vor allem aber bediente sich die Kanzlerin des Stammtischtons Brüsseler Bürokraten: Deutschland hat seine Hausaufgaben, sprich Reformen, gemacht. Frankreich muss nun folgen. Niemand wird leugnen, dass darin bis heute ein Kern Wahrheit steckt. Aber wenn eine deutsche Kanzlerin Reformen in Frankreich nach deutschem Vorbild empfiehlt, verwundert es keinen, wenn die Franzosen weghören. Zumal wenn sie in einem Atemzug »die Pflicht aller« betont, den Defizitzielen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu folgen.

Nicht nur Merkel verhielt sich in Paris so. Als Joachim Gauck als erster deutscher Bundespräsident seit 17 Jahren Frankreich im September 2013 besuchte, war vom »leuchtenden Beispiel der nordeuropäischen Reformpolitik« die Rede, Deutschland natürlich inklusive. Gute, engagierte deutsche Frankreich-Politik sieht anders aus. Selbst wenn Berlin den Wachstums- und Stabilitätspakt für unantastbar hielt, hätte es Paris nach der Wahl Hollandes zunächst sein Bemühen um Neuverhandlungen des Paktes zusichern müssen. Andere hätten dann später für Kompromisse oder sogar das Scheitern der Verhandlungen zuständig sein können. Aber man hätte damit die französische Präsidentschaftswahl von 2012 nicht folgenlos an sich vorbeigehen lassen. Auch Reformlektionen hätten Kanzlerin und Bundespräsident in Paris nie öffentlich aussprechen dürfen. Das verbietet nicht nur die Etikette, sondern das Gebot der gleichberechtigten Partnerschaft zweier Nationen.

Diese Versäumnisse hatten einen offensichtlichen Grund: Frankreich-Politik hatte schlicht keine Priorität in Berlin. Wichtiger für Deutschland, so empfand man es in Paris, war die Stützung des Euros. Wichtiger war die ökonomische Krisenaktualität in der Europäischen Union. Wie sehr die deutsch-französischen Beziehungen dabei zum Nebenschauplatz wurden, schien aus französischer Sicht in Berlin keine Rolle zu spielen. Das hätte gründlich schiefgehen und zu einem Bruch im Verhältnis beider Seiten führen können.

Dies deutete sich bereits während der GriechenlandVerhandlungen im Sommer 2015 an. Im Endstadium der Verhandlungen, am 11. Juli 2015, hatte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble ein Papier vorgelegt – eine DIN-A4-Seite mit der lapidaren Überschrift »Kommentar zu den jüngsten griechischen Vorschlägen« –, das Griechenlands Ausstieg aus der Eurozone erwog. Jetzt läuteten beim französischen Präsidenten Hollande die Alarmglocken. Denn auf französischer Seite dachten alle Beteiligten das Gleiche: Wenn Deutschland, letztlich zum Schutz seiner Steuerzahler, bereit sein würde, Griechenland wegen nicht bezahlter Schulden über die Klinge springen zu lassen, dann würde irgendwann anderen Ländern Südeuropas, wenn nicht gar eines Tages Frankreich selbst, das gleiche Schicksal drohen.

Also ging der andernfalls oft so zögerlich agierende Hollande dieses Mal aufs Ganze und rettete in einer langen Nacht in Brüssel die Euromitgliedschaft Griechenlands. Wie genau ihm das gelang, wissen nur die, die dabei waren. Jedenfalls ging es Hollande am Ende nicht mehr ums Geld und die Schulden Griechenlands, sondern ums Ganze, die Einheit und das Bestehen der Europäischen Union. Bis heute ist nicht ganz klar, ob die Kanzlerin im Grunde mit Hollande übereinstimmte, weil auch ihr die Vorschläge ihres Finanzministers zu weit gingen. So jedenfalls berichteten es französische Zeitungen, die der Kanzlerin einfach nichts Böses unterstellen wollten. Denkbar bleibt jedoch, dass auch sie die langen Verhandlungen des Europäischen Rates über Griechenlands Zukunft in der Nacht des 12. Juli 2015 als eine deutsche Niederlage empfand. In Erinnerung bleibt jedenfalls nicht nur das für viele Griechen letztlich positive Ergebnis. In Erinnerung bleibt auch, dass es hier erstmals bei einer großen europäischen Entscheidung fast zu einem ernsthaften Zusammenstoß zwischen Frankreich und Deutschland gekommen wäre.

Nicht umsonst gab einer der angesehensten Intellektuellen Deutschlands, der Philosoph Jürgen Habermas, anschließend nur dem englischen Guardian und dem französischen Nouvel Observateur Interviews. »Ich befürchte, dass die deutsche Regierung, einschließlich ihres sozialdemokratischen Teiles, in einer Nacht all das politische Vertrauen verspielt hat, dass ein besseres Deutschland in einem halben Jahrhundert angesammelt hatte«, sagte Habermas fast gleichlautend in beiden Interviews. Für den deutschen Philosophen war klar, dass die deutsche Regierung in eine Falle getappt war. Und zwar in die »historische Falle einer Halb-Hegemoniestellung, vor der die Europäische Union uns [die Deutschen] bislang immer bewahrt hatte«. Anders formuliert hätte er auch sagen können, dass Frankreich mit dem Einsatz Hollandes Deutschland vor dem Schlimmsten bewahrt hatte: nämlich vor der Aufkündigung europäischer Solidarität aus Kostengründen.

Habermas aber hatte eine Formel für das gefunden, was auch viele französische Intellektuelle im Moment der Griechenland-Krise im Stillen empfanden, ohne es als Kritik an Deutschland öffentlich äußern zu wollen. Niemand unter den machtbewussten Pariser Vordenkern wollte es sich mit den angesehenen Deutschen verscherzen, nur um für die schwachen Griechen Position zu beziehen. Nein, Griechenland bot für Paris keine gute Gelegenheit zum Streit mit Berlin.

Nur einer scherte aus dem stillen Konsens aus und nahm die Griechenland-Krise zum Anlass, von der deutschen Kanzlerin eine grundsätzliche Kursänderung zu fordern. Ein damals in Deutschland noch fast Unbekannter. Ein 37-jähriger Elitebürokrat, der sein erstes politisches Amt ausfüllte. Ein ehemaliger Angestellter der vornehmen Pariser Rothschild-Bank. Einer dieser französischen Vorzeige-Intellektuellen. Sein Name: Emmanuel Macron.

Macron, seit einem Jahr Wirtschaftsminister in Paris, gab damals der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er bereits all das forderte, was er sich auch heute noch als Präsident von Deutschland erhofft. Nämlich eine Wirtschaftsregierung der Eurozone, geführt von einem europäischen Finanzminister, der »auch Investitionsmittel vergibt und in der Arbeitsmarktpolitik mitredet«. »Je höher sein Budget, desto glaubwürdiger wäre Europa«, sagte Macron der Süddeutschen. Und wusste auch gleich, wie der neue Euro-Minister demokratisch zu kontrollieren sei: »Das würde ein Euro-Parlament leisten – eine neue Kammer, die aus den Abgeordneten des Europäischen Parlaments besteht, deren Länder der Eurozone angehören.«

Fast wortgleich stand es eineinhalb Jahre später im Wahlprogramm von En Marche, der neuen politischen Bewegung, die Macron für seinen Präsidentschaftswahlkampf gegründet hatte. Dort verlangte er genau wie im August 2015 einen »New Deal« für Europa. Der Begriff war der Politik des großen US-amerikanischen Weltkriegspräsidenten Theodor Roosevelt entlehnt. Roosevelts letztlich kriegsentscheidende Wirtschafts- und Sozialpolitik der dreißiger Jahre half den Vereinigten Staaten, die große Depression von 1929 zu überwinden, um schließlich als vereinte Nation, die ihre sozialen Gräben wieder geschlossen hatte, Anfang der vierziger Jahre in den Zweiten Weltkrieg einzutreten.

Auf die neuen sozialen Gräben in Europa nach der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 spielte nun der »New Deal« Macrons an. Und er brachte seine Idee nicht umsonst in einer deutschen Zeitung unter. »Die Starken müssen helfen«, forderte er. Natürlich war das an die Deutschen und ihre Kanzlerin gerichtet.

»Wollen wir die Neugründer Europas sein – oder seine Totengräber?«, fragte der politische Novize keck. Macrons Interview in der Süddeutschen erschien am 31. August 2015, just an dem Tag, als die Kanzlerin auf ihrer Sommerpressekonferenz in Berlin ihr berühmtes »Wir schaffen das!« sprach und ganz Deutschland nur noch über Flüchtlinge diskutierte. Und doch währte die Pressekonferenz der Kanzlerin lange genug, dass auch eine Frage nach den Vorschlägen des französischen Wirtschaftsministers gestellt wurde.

Die Antwort Merkels lässt sich heute noch auf der Website des Bundeskanzleramts nachlesen: »Wir sollten in der Tat fragen – und da hat Herr Macron durchaus Recht: Was brauchen wir? Da wird es sicherlich noch mehr Vorstellungen geben als die, die er heute geäußert hat«, sagte die Kanzlerin. Hier zeigte sich von Neuem, wie Merkel die französische Frage jahrelang immer wieder behandelt hat: nämlich im Vorbeigehen. Macron mag ja gut reden – aber: Es gibt sicherlich noch andere Vorstellungen.

Merkel erreichte mit ihrer Antwort das Übliche: Keiner hörte hin, weder in Deutschland noch in Frankreich, und Macron hätte sein Interview als Flop betrachten können. Einer aber hatte seine Vorschläge ganz genau studiert: Jürgen Habermas.

Ich hatte den Starnberger Demokratielehrer vor vielen Jahren kennengelernt, als er in China Vorträge über die Geschichte des Republikanismus hielt, nicht zuletzt des französischen. Seither standen wir in Kontakt. Ich berichtete ihm in Kenntnis seiner zahlreichen Europa-Essays von meinen Eindrücken in Frankreich und warf die Frage auf: Wer könnten heute die französischen Verbündeten für die Habermas’sche Idee von einem stärker integrierten, demokratischeren Europa sein? Bald schon fiel der Name Macron. Habermas sagte dazu nichts. Doch noch am 31. August 2015 erhielt ich eine Mail aus Starnberg: Darin lobte Habermas Macron. Ausgerechnet er hatte an dessen Interview in der Süddeutschen nichts auszusetzen.

Für mich war das damals ein Ansporn, Macron ernst zu nehmen. Ich recherchierte, wie genau er und Präsident Hollande sich die Wirtschaftsregierung für die Eurozone vorstellten. Zur gleichen Zeit waren die französischen Medien voller Gerüchte, dass der Präsident nach dem Griechenland-Debakel eine große französische Europa-Initiative starten wolle. Als dann freilich mein Artikel mit Informationen von Mitarbeitern des Élysée-Palastes in der Zeit erschien, folgte nur eine Woche später ein Artikel meines Redaktionskollegen Mark Schieritz aus Berlin, der all die französischen Planspiele aus deutscher Sicht für nichtig erklärte – dieses Mal mit Informationen aus Kanzleramt und Finanzministerium in Berlin. War die von meinen Kollegen dokumentierte Haltung der Bundesregierung also der Grund, warum aus der Europa-Initiative Hollandes nie etwas wurde?

Ich war ehrlich erstaunt. Mein Kollege und ich hatten beide sorgfältig gearbeitet, das Ergebnis aber war klar: Unsere Informationen passten nicht zusammen. Die Beziehungen zwischen den Regierungsspitzen in Paris und Berlin schienen weit auseinandergedriftet.

Lange Zeit hatte ich als Korrespondent in Asien Europa von außen betrachtet. Vor allem in Japan, Südkorea und China, von wo aus ich viele Jahre berichtete, hatten die deutsch-französischen Beziehungen immer einen Vorbildcharakter. Wer dort nicht nationalistisch dachte und die Welt ein bisschen kannte, für den war die Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein ermutigendes Beispiel dafür, dass auch zwischen den asiatischen Erbfeinden eines Tages mehr Verständnis möglich sein könnte. Umso mehr identifizierte ich mich in Asien mit Europa. Begegnete ich dort Franzosen, waren wir uns schnell über alles Wichtige in Alltag und Politik einig. Nicht zufällig ergab sich für mich eine enge Freundschaft mit dem langjährigen Asien-Korrespondenten der Pariser Zeitung Le Monde, Frédéric Bobin, der erst in Peking und später auch in Neu-Delhi zu meinen Nachbarn zählte. Wir waren so etwas wie Brüder im Geiste. Unsere beiden Zeitungen Le Monde und Die Zeit schienen die Welt mit den gleichen Augen zu betrachten, ohne sich je Konkurrenz zu machen. Wir sahen von Weitem, wie sich unsere Regierungen in Opposition zum US-amerikanischen Irakkrieg verbündeten. Wir schauten aus großer Entfernung zu, wie sich Sarkozy und Merkel gemeinsam in der Weltfinanzkrise mühten. All das wirkte auf uns, als würden sich unsere Regierungen prima verstehen. Schon weil ähnlich enge politische Abstimmungen mit einem anderen Land dort, wo wir lebten, undenkbar erschienen.

Umso größer aber war der Schock nach dem deutsch-französischen Beinahebruch in der Griechenland-Krise. Konnte da wirklich auseinanderfallen, was doch seit Monnet und Schuman, seit de Gaulle und Adenauer zusammengehörte? Wir bekamen plötzlich eine Ahnung davon, dass Hollande und Merkel ihre Beziehung nicht im Griff hatten. Dass sie ihre engsten Berater in völlig unterschiedliche Richtungen reden ließen. Dass es andere Ereignisse, gegenseitiges Desinteresse und die gut geölte Routine im Staatsbetrieb waren, die eine öffentliche Diskussion über eine deutsch-französische Krise vermeiden halfen. Dass diese Krise aber längst Wirklichkeit war.

Hierbei ging es den meisten Franzosen und Deutschen so wie uns in Asien: Sie sahen die Krise nicht. Sie glaubten der politischen Show. Zumal sich Hollande und Merkel ja nicht anbrüllten, sondern sogar regelmäßig miteinander telefonierten. Aber ihr Verhältnis war ereignislos, daher blieb auch ihr Auseinanderdriften fast unsichtbar. Es interessierte selbst die Medien nicht, weder in Frankreich noch in Deutschland.

Macron war als Wirtschaftsminister einer der Ersten überhaupt, der diese Krise in einem Hintergrundgespräch für ausländische Journalisten im kleinen Kreis einräumte. Später begegneten wir uns zufällig am Rande einer OECD-Konferenz in Paris. Ich erzählte ihm von dem Austausch mit Habermas. Aus terminlichen Gründen kam ein persönliches Treffen zwischen ihm und Habermas nie zustande. Doch immerhin: Macron versprach, den Deutschen bei Gelegenheit in Starnberg zu besuchen. Und so hatten wir nun unser eigenes Gesprächsthema: die Europa-Vision von Habermas.

Sie kommt der von Macron im Prinzip sehr nahe: All das nämlich, worüber in Berlin seit Jahren nur noch ewig gestrige Föderalisten reden wollen. »Die strukturellen Ungleichgewichte in der Euro-Zone verlangen eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, die auf andere Politikfelder wie Steuern und Soziales ausgreift und die zu Effekten der Umverteilung über nationale Grenzen hinweg führt«, sagte Habermas im Mai 2012 in einem Interview der österreichischen Wochenzeitung Die Furche, pünktlich zum Amtsantritt von Hollande in Frankreich. Das war damals eine Position, die in Deutschland kaum noch verfing. Finanz-, Euro- und Griechenland-Krise ließen den Merkel’schen Pragmatismus längst alternativlos erscheinen. Aber auch in Frankreich gab es keine Anhänger für diese Idee. Denn Hollande ging schon bald den von seinem Berater Morelle später so scharf kritisierten Weg, der jede Konfrontation mit Berlin scheute.

Umso überraschender war, dass Macron in seiner Rolle als Wirtschaftsminister schon bald erkennen ließ, dass er Habermas’ Positionen teilte. Er hatte nämlich die Europa-Aufsätze des Philosophen gründlich gelesen. Noch deutlicher wurde er, als er im April 2016 seine neue Bewegung En Marche gründete und damit seine eigene Kandidatur für die Präsidentschaft plante. Er wollte dem französischen Publikum beweisen, dass seine Stimme auch außerhalb Frankreichs Gehör findet. Also gewährte er noch im gleichen Monat der Zeit in der siebten Etage des Pariser Wirtschaftsministeriums ein Interview. Es wurde ein langes Mittagessen, mit allem, was in Frankreich dazugehört, und einem schönen Blick auf die Seine und Notre-Dame. Macron war damals in Frankreich bereits ein Star. In Deutschland hielt ihn niemand für einen aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten, weshalb das Interview in stark gekürzter Form erschien. Heute aber lohnt es sich, den in diesem Buch erstmals veröffentlichten vollständigen Wortlaut des Gesprächs zu lesen. Denn er zeigt, wie geradezu radikal europäisch Macron für deutsche Verhältnisse argumentiert. Tatsächlich ist er von diesen Ansichten auch seit seiner Wahl zum Präsidenten nicht abgerückt.

Das zeigt freilich auch, von welch weit entfernten Positionen Präsident und Kanzlerin heute aufeinander zugehen müssen. Da wirkte es reichlich verfrüht, als Le Monde schon nach dem ersten gemeinsamen EU-Gipfel der beiden Ende Juni 2017 mit der Schlagzeile aufwartete: »Merkel und Macron, die Symbiose«. In Wirklichkeit konnte von einer solchen keine Rede sein. Zwar war der Gipfel ein gelungenes Gegenstück zu jenem katastrophalen EU-Ratstreffen fünf Jahre zuvor, als Merkel den neu gewählten Hollande abblitzen ließ. Dieses Mal wollten Präsident und Kanzlerin bewusst gemeinsam auftreten, gaben anschließend sogar eine gemeinsame Pressekonferenz, die die wiedergefundene Einheit des deutsch-französischen Paares symbolisieren sollte. Insofern schon ein großer Fortschritt. Und doch war in der Sache noch nicht viel gewonnen.

Sicher, Franzosen und Deutsche hatten sich so gut wie seit Langem nicht mehr abgestimmt: etwa bei neuen Vorhaben zur europäischen Verteidigungspolitik, die nun zumindest auf dem Papier existierten. Oder in Fragen der Flüchtlingspolitik. Es gab auch erste gemeinsame Töne, was die institutionelle Verstärkung der Eurozone betraf. Aber harte Entscheidungen für mehr Europa, die dauerhaft für mehr Umverteilung zwischen den Nationen und einen europäischen Haushalt sorgen würden, gab es auch dieses Mal keine.

»In ganz Europa erkenne ich niemanden, der einen polarisierenden Wahlkampf riskieren würde, um für Europa Mehrheiten zu organisieren – und nur das könnte uns retten«, analysierte Jürgen Habermas im Mai 2012. Fünf Jahre später gibt es in Frankreich einen, der dieses Risiko gewagt und gewonnen hat. Er heißt Emmanuel Macron. Aber er allein kann uns nicht retten. Es bedarf mindestens einer deutschen Kanzlerin oder eines deutschen Kanzlers, die es ihm nachmachen. Warum nur ist das so schwer? Warum langweilte sich die Kanzlerin während der langen fünf Jahre der Präsidentschaft Hollandes im Élysée-Palast lieber, anstatt ihre eigene Frankreich-Initiative zu starten? Die Antworten greifen weit zurück.